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Die 7 Todsünden - Völlerei
„Nix als Werbung kommt in der Glotze. Schlimm! Und was für ein Quatsch da angeboten wird.“
Erna schüttelte wissend den Kopf: „Da kannste nix machen, Willi. Da kannste nix machen.“
Willibald zappte noch eine Weile umher, ehe er wieder beim Ausgangsprogramm hängen blieb. Es lief noch immer Werbung. Die beiden schauten gelangweilt auf den Bildschirm. Doch der nächste Spot sollte ihr Leben verändern.
„Wollen Sie abnehmen?“, hieß es da. Willibald und Erna nickten. „Haben Sie es schon mehrmals vergeblich versucht.“ Wieder nickten beiden. „Warum tun Sie sich das an? Leben sie lieber! Das Leben ist zu kurz, um auf seine Figur zu achten. Kommen Sie zu einem unserer kostenlosen Einführungsseminare. Jetzt auch in Ihrer Nähe ... Lipophil! Leben Sie endlich.“
Danach ging die Sendung weiter, doch Willibald und Erna saßen noch immer mit staunenden Gesichtern da. Langsam, fast in Zeitlupe, griff Willibald zur Fernbedienung, drückte den Ausknopf und wandte sich an Erna: „Was hältst du davon? Haben eigentlich Recht, oder?“
Erna erwiderte: „Ja, eigentlich schon. Warum sind wir nicht schon vorher drauf gekommen. All die Anstrengungen und die ganz Plackerei ... für was? Um schick auszusehen? Willi, wir fangen jetzt endlich an zu leben! Gleich morgen schauen wir, wann die nächste Lipophilversammlung ist.“
Fünf Tage später.
Die Referentin trat ans Mikrophon; die Bühne des Gemeindezentrum ächzte und knarrte unter ihren hundertzwanzig Kilo. „Guten Tag sehr verehrte Damen und Herren, wir von Lipophil heißen Sie recht herzlich willkommen ...“ Auf der Leinwand hinter ihr wurde eine Präsentation gestartet, das Firmenlogo war zu sehen. „ ... Es freut mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Die meisten werden unser Programm schon kennen, dennoch möchte ich es mir nicht nehmen lassen, Ihnen eine kurzen Einblick zu geben. Wir möchten Ihnen helfen, endlich glücklich zu leben, ja, überhaupt einmal zu leben. In unserer Gesellschaft nimmt der Schlankheitswahn immer weiter zu, die Menschen hungern sich herunter, nur um in irgendwelche utopisch kleine Kleidergrößen zu passen. Sie hungern, nur um gut auszusehen. Damit muss jetzt Schluss sein!“
„Genau“, rief jemand aus dem Publikum. Der Rest des Saals blickte noch verhalten.
„Wir erziehen Sie zu einer bewussteren Ernährung. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt ungefähr bei fünfundsiebzig Jahren. Ich frage euch: Wollt ihr wirklich die paar Jahre, die ihr noch habt, mit Diäten und Essenskuren verbringen.“
Allseitiges Kopfschütteln.
„Wollt ihr nicht lieber essen, was IHR wollt?“
„Ja“, riefen die Zuhörer.
„Habt ihr das Verzichten satt?“
„Ja“, riefen sie erneut. Diesmal noch lauter.
„Wollt ihr also endlich anfangen zu leben?“
„JA! JA!“ Der Saal tobte jetzt. Viele waren aufgestanden und applaudierten.
„Mit unserer Hilfe könnt ihr es schaffen. Wir unterstützen euch bei diesem schwierigen Unterfangen. Zur Motivation möchte ich euch ein paar Bilder zeigen.“
Auf dem ersten Bild waren zwei Aufnahmen einer ungefähr dreißigjährigen Frau zu sehen. Links war sie schlank, auf dem Rechten hatte sie schon deutlich zugelegt. Das Publikum staunte und lobte. Die Referentin ergriff wieder das Wort. „Sie hat erst vor einem halben Jahr angefangen. Zwanzig Kilo in nur sechs Monaten!“
Man hörte: „Alle Achtung!“ oder „Toll, wie sie das gemacht hat.“
„Gleich seht ihr ein Negativbeispiel. Ich muss euch allerdings eindringlich warnen! Wenn ihr zart besaitet seid oder euch schnell schlecht wird, schaut lieber nicht hin.“
Pamela Anderson, nur ihren roten Baywatch-Badeanzug tragend, wurde an die Leinwand projiziert.
Ein Aufschrei des Ekels ging durch die Halle. Ein Mann sprang auf, hielt sich die Augen, taumelte und schrie wie verrückt: „Nein, nein, ich bin blind. Meine Augen ... sie tun so entsetzlich weh.“
„Ich hatte euch gewarnt“, fuhr die Referentin fort. „Machen wir lieber mit was Schönerem weiter.“
Es folgten Bilder von Dirk Bach und Ottfried Fischer. Die Männer nickten anerkennend. „Das ist mal ne Statur.“ „Toller Kerl.“ Die Frauen begannen zu schwitzen, zogen nervös an ihren Kragen. Viele kreischten, manchen fielen in Ohnmacht. Nachdem die Männer sich wieder beruhigt und die Frauen ihre feuchten Höschen getrocknet hatten, konnte es weiter gehen. Die Zuhörer wurden in kleinere Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe erhielt einen Dozenten. Willibald und Erna wurde die Gruppe „Schweinehaxen mit Knödel“ zugewiesen. Außer ihnen befanden sich noch drei weitere Ehepaare in der Gruppe, die, wie sich beim Smalltalk herausstellte, aus den Nachbarortschaften kamen. Man scherzte, lachte und bedauerte sich, ob der vielen Diäten, die man schon gemacht hatte. „Was für Fehler man doch macht, wenn man jung ist.“
Der Dozent erklärte ihnen die Beitrittsbedingen, ließ sie die Einzugsermächtigungen unterschreiben und verteilte anschließend Lipophil Ordner. Gemeinsam gingen sie die Ordner durch.
„Das hier“, begann er zu erklären „ist unsere Punktetabelle. Dort ist jedes Lebensmittel mit einem entsprechenden Punktewert verzeichnet. Sie sollten immer versuchen mindestens vierzig Punkte zu erreichen. Dann leben sie so richtig!“
Willibald betrachtete die Tabelle:
Alle Angaben bezogen auf 100g:
Äpfel 0 Punkte
Birnen 0 Punkte
Salat 0 Punkte
...
Schokolade 0,5 Punkte
Schweinebraten 1,5 Punkte
„Das heißt ich darf ...“ Willibald schien zu rechnen, Erna schaute ihn erwartungsvoll an. „Ich darf ... da darf ich ja ganz schön viel Schweinebraten essen. Super Sache, das Lipophil.“
Der Dozent fuhr derweil unbeirrt fort: „Weiter hinten finden Sie Tipps, die sie beachten sollten. Vom Umgang mit Sport, über Maßschneidereien, bis hin zur Metzgerei mit den fettesten Steaks. Wir treffen uns alle zwei Monate zur Vollversammlung hier im Gemeindezentrum. Das soll Sie aber keineswegs daran hindern, gelegentlich in Ihrer Kleingruppe zusammen zu kommen. Ich wünsche Ihnen viel Spaß und vor allem viel Erfolg mit Lipophil.“ Daraufhin ging er zur nächsten Gruppe.
Zwei Wochen später
„Erna, du glaubst es nicht, ich hab schon vier Kilo zugenommen.“
„Toll, Willi, toll! Ich hab auch schon drei zugelegt. Aber was red ich, lass uns essen. Ich hab gekocht.“
Willibald gab seiner Frau einen Kuss. „Du bist ein Schatz, Erna.“
Sie gingen ins Esszimmer, in dem Erna schon die dampfenden Pfannen auf den Tisch gestellt hatte.
„Was gibt es denn leckres?“, fragte Willibald.
„Das wirst du schon gleich sehn“, sagte Erna und knallte Willibald ein dickes, vor Fett triefendes Stück Bauch auf den Teller.
„Hmmm Bauch“, schmatzte Willibald und öffnete neugierig den zweiten Topf, in dem sich Kartoffeln befanden. Auch hier langte er kräftig zu.
„Hier ist noch etwas Schmalz und Sülze, falls du deine Scheibe damit einschmieren möchtest ... und hier ... Mayonaise für die Kartoffeln.“
„Ja, gerne. Übrigens Erna, in dem Ordner steht man soll die Kartoffeln nicht nur kochen, sondern zusätzlich in Fett backen. Dann gibt es einen Punkt mehr. Das kannst du ja vielleicht das nächste Mal versuchen.“
„Tolle Idee, Willi.“
Nachdem die beiden ihren dritten Nachschlag verputzt hatten, gab Willibald Erna einen Zettel und sagte: „Ich kündige meine Mitgliedschaft aus dem Fahrrad- und aus dem Schachverein. Magst du mal drüber lesen?“
„Wieso denn aus dem Schachverein?“
„Na, Sport ist Sport. Muss ich mehr sagen?“ Erna nickte verständnisvoll und begann zu lesen.
Ihr Gesundheits- und Schlankheitswahn kotzt mich nur noch an. Wisst ihr überhaupt, was ihr damit propagiert? Ihr elendigen Menschenschinder! Ihr seid schlimmer als Hitler, allesamt.
Ich dagegen bin jetzt stolzes Mitglied von Lipophil. Ich werde fett und lebe endlich. Auf was könnt ihr denn zurückblicken, wenn ihr mit siebzig sterbt. Auf euer tolles Gestrampel? Ich kann über euch Hungerhaken nur lachen. Verreckt an Magersucht, ihr Ignoranten.
Verächtliche Grüße aus einer besseren Welt
Willibald
Voll Tränen der Rührung übergab Erna wieder den Brief an Willibald. „Ich bin stolz auf dich“, flüsterte sie.
Ein Jahr später
Die Veränderung die Erna und Willibald widerfuhr, war kein Einzelfall. Überall in der Republik schlossen sich immer mehr Menschen Lipophil an. Die Sport- und Freizeitvereine verzeichneten einen rapiden Mitgliederrückgang, das Gaststättengewerbe und die Lebensmittelbranche boomte. Lipophil stieg zu einem der dreißig größten deutschen Unternehmer auf, während überall in Deutschland Übergriffe auf dünnere Menschen stattfanden. Diese wurden teilweise zwangsgemästet oder einfach nur verprügelt. Die anfängliche Euphorie hatte sich in regelrechte Hysterie gewandelt. Die Bewegung war auf dem besten Wege zu einer ausgewachsenen Revolution. Während in Berlin die Weight-Watchers-Zentrale von einer Abrissbirne, die die Form eines Fettmoleküls hatte, dem Boden gleich gemacht wurde, trieben auch Erna und Willibald die Revolution voran:
„Willi, Willi“, rief Erna aufgeregt, als sie in die Küche gestürmt kam. „Ich hab mich gerade gewogen. Schon hundertfünfzehn Kilo.“ Sie strahlte überglücklich.
„Mhhhmm“, murmelte Willibald nur.
„Was ist denn los? Freust du dich nicht? Gefall ich dir noch nicht?“
„Doch, Schatz, natürlich. Du gefällst mir super. Auch wenn du schon noch das eine oder andere Kilo vertragen könntest.“ Er kniff sie liebevoll in den kleinen Finger. „Ich arbeite nur gerade an dem Logo.“
„An welchem Logo?“
„An dem unserer Partei. Gefällt dir’s?“ Er schob ihr einen Zettel zu.
„Der Zettel ist doch komplett weiß. Und was ist denn ‚unsere Partei’?“
„Der Zettel ist doch nicht weiß. Das ist Moby Dick auf weißem Grund!“
„Aha, du solltest vielleicht die Hintergrundfarbe ändern, damit er besser zur Geltung kommt. Aber welche Partei denn?“
„Die antibulimistische Volksfront. Für freien Genuss, gegen Schlankheitswahn! Wir haben uns gestern beim wöchentlichen Komafressen gegründet. Ernst und ich sind die Vorsitzenden. Wir setzen uns rigoros für die Rechte von uns Lebemenschen ein und verurteilen die ganzen kranken Sportfreaks.“
„Super Idee, Willi! Auf was, du alles kommst.“
Noch ein Jahr später
Während fast ganz Deutschland aufgrund des Übergewichts frohlockt, wird gerade Willibald und Ernas Haus umgebaut. Breitere Türen, stabilere Treppen und größere Betten. Willibald und Erna sitzen fast den ganzen Tag vorm Fernseher und stopfen Chips in sich hinein. Die vierzig Punktegrenze schaffen sie spielend.
„Willi, hast du gehört. Die Schubers haben jetzt ein Kind bekommen.“
„Ja, und? Nicht gerade verwunderlich. Gerda war ja immerhin schwanger.“
„Natürlich nicht, aber jetzt kommt’s. Das Kleine wog sieben Kilo bei der Geburt“
„Wirklich? Sieben Kilo. Das ist ... das ist ja fantastisch! Das ist die neue Generation, eine ganz neue Rasse: der Genussmensch. Ich fahr gleich hin und gratuliere.“
Sechs Monate danach
Die antibulimistische Volksfront hatte inzwischen eine neunzigprozentige Mehrheit im Bundestag. Ihre erste Amtshandlung war, wie im Wahlversprechen angekündigt, das Verbot von allen Lebensmitteln, die nicht als ‚nicht nahrhaft’ eingestuft wurden. Dabei handelte sich es im Wesentlichen um Obst und Gemüse.
Willibald und Erna waren gerade dabei, einen nicht lebenswerten dünnen Mann zu foltern und anschließend zu töten, selbstverständlich legitimiert durch die Regierung. Mit im Raum befand sich ein befreundetes Ehepaar: Klaus und Susi Schnellinger. Als Erna gerade mit der Peitsche ausholte und zuschlagen wollte, griff sie sich ans Herz, dann an die Kehle. Sie röchelte und lief erst rot, dann blau an. Willibald reagierte sofort und fing die in Ohnmacht fallende Erna auf, bevor sie auf den Boden krachen konnte. Kurze Zeit später wurden Ernas Augen glasig und sie hauchte ihr Leben aus. Alle Wiederbelebungsversuche blieben zwecklos. Als der Notarzt kam, konnte dieser nur noch den Tod feststellen.
Klaus nahm Willibald in den Arm und flüsterte weinend: „Tut mir leid, sie war ein toller Mensch!“
Willibald weinte, strahlte aber gleichzeitig übers ganze Gesicht.
„Ich weiß. Ich bin so unglaublich stolz auf sie. Sie ist die größte Genießerin von uns allen. Unser Messias! Ihr müssen wir folgen!“