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Das Gänseblümchen

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26.01.2002
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Das Gänseblümchen

Das Gänseblümchen


Es ist oft erstaunlich, an wie viele Dinge man sich erinnert und wie viele man wieder vergisst.

Manche Erlebnisse erscheinen einem so unbedeutend, dass man sie nach einigen Tagen aus dem Gedächtnis streicht, andere brennen sich so tief ein, dass man sich immer wieder daran erinnert. Tagtäglich trifft man Menschen, die man nicht wahrnimmt, ja selbst, wenn man ein paar Worte mit ihnen gewechselt hat, zum Beispiel im Bus oder Zug oder einfach auf der Strasse, einige Tage später würde man sie nicht wiedererkennen.
Da ist die Kassiererin im Supermarkt, die man fast jede Woche sieht, doch wenn man sie irgendwo auf der Strasse oder im Park wiedertreffen würde, wüsste man nur, dass man dieses Gesicht schon mal wo gesehen hat, aber man könnte es nicht einordnen.

Doch dann gibt es andere, die man nur ein einziges Mal gesehen hat, ein einziges Mal mit ihnen geredet hat und die dennoch ihre Spuren hinterlassen.
So war es bei Laura. Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, mich nur eine halbe Stunde lang mit ihr unterhalten, doch sie wird immer in meinem Gedächtnis bleiben.

Immer wenn ich ein kleines Mädchen mit langen schwarzen Haaren und strahlend blauen Augen sehe, werde ich wieder an Laura erinnert.

In der Nähe meiner Wohnung gibt es einen kleinen Schlosspark mit kunstvoll geschnittenen Bäumen, säuberlich gemähten Rasen und einem Ententeich. Dort verschlägt es mich hin und wieder nach einem anstrengenden Arbeitstag hin und ich genieße es, auf einer Bank am Teich zu sitzen und mich von den Strahlen der untergehenden Sonne wärmen zu lassen. Das ist eine alte Gewohnheit von mir, die ich nun schon über Jahre hinweg beibehalten habe.

Und dort saß ich auch an jenem Abend vor fünf Jahren, beobachtete die Enten, die fröhlich im Teich vor sich hinschnatterten, als mein Blick plötzlich auf ein kleines Mädchen fiel, das unmittelbar in meiner Nähe im Gras saß, vor sich ein umgeknicktes Gänseblümchen, das sie unermüdlich aufrichtete, es festhielt und traurig zusah, wie es beim Loslassen wieder umknickte.

Es erstaunte mich, dieses Mädchen hier mutterseelenallein vorzufinden, jedenfalls konnte ich weit und breit keine Aufsichtsperson entdecken oder jemanden, der sich für die Kleine interessieren würde.

Nachdem ich sie eine Weile bei ihren Versuchen beobachtet hatte, stand ich auf, ging zu ihr und setzte mich zu ihr ins Gras. Erstaunt blickte sie auf. „Darf ich mich ein Weilchen zu Dir setzen ? Mir ist so langweilig da ganz allein auf der Bank, da dachte ich, ich leiste Dir ein bisschen Gesellschaft.“ „Ok“, antwortete sie einsilbig und widmete sich wieder ihrem Gänseblümchen. „Darf ich Dich fragen, was Du hier machst ?“, versuchte ich herauszufinden, was es mit diesem Spielchen hier auf sich hatte.
„Ich helfe der Blume, aufzustehen“, antwortete sie mir, „aber sie ist so müde, sie schafft es nicht allein, ich muss sie festhalten, sonst fällt sie wieder um“.

Nun war ich doch etwas verwirrt und überlegte fieberhaft, wie man einer schätzungsweise Vierjährigen erklärt, dass eine Blume nicht mehr aufstehen kann, wenn sie mal umgeknickt ist, selbst wenn man sie noch so lange festhält.
„Weißt Du“, fing ich zögerlich an „die Blume wurde niedergetreten und jetzt ist sie tot. Sie kann nicht mehr aufstehen und sie kann es auch nicht mehr fühlen, dass Du sie festhältst.“

Nachdenklich und traurig blickte mich das kleine Mädchen an, dann wieder auf die Blume.
„Aber sie ist doch da, dann kann sie doch nicht tot sein“, meinte sie dann verzweifelt.
„Naja, weißt Du, wenn ein Mensch stirbt, ist sein Körper auch da und wird begraben, aber seine Seele ist nicht mehr da und genauso ist es bei den Blumen. Du siehst das äußere von ihr, doch das innere ist nicht mehr da.“
„Ist es weggeflogen ?“, fragte mich die Kleine. „Ja, es ist weggeflogen“, wusste ich mir nichts anderes mehr zu sagen.
„Dann müssen wir die jetzt auch eingraben ?“
„Können wir, müssen wir aber nicht“, erwiderte ich und sie blickte mich lange an, mit einem sehr nachdenklichen, ernsten Blick, der so gar nicht zu einer Vierjährigen passte. Älter konnte sie sicherlich nicht sein.
„Ich bin Laura und schon fünf Jahre alt“, ertönte da auch schon ihr Stimmchen, fast so, als ob sie meine Gedanken erraten hätte. „Aber weißt Du was ? Wir lassen die Blume einfach hier liegen, da hat sie wenigstens noch Sonne. Unter der Erde ist es doch ganz dunkel“, erklärte sie mir und ich verzichtete darauf, ihr zu erklären, dass die Blume das nicht mehr wahrnehmen könnte.

„Weißt Du, meine Mutti ist auch tot. Sie ist da, aber sie ist tot.“, erzählte sie plötzlich, immer noch mit einem ernsten nachdenklichen Blick in ihren Augen.
Das war nun etwas, womit ich absolut nicht gerechnet hatte und krampfhaft überlegte ich, was ich auf diese Offenbarung nun sinnvolles erwidern könnte.
„Sie ist da, aber sie kann auch gar nichts mehr fühlen“, erzählte Laura weiter und mir lief ein Schauer über den Rücken. Was sollte das denn heißen, gab es tatsächlich so verrückte Leute, die Leichen im Haus aufbewahrten, so wie man es oft genug in der Zeitung las ?

„Sie geht jeden Tag ins Büro und am Abend kocht sie mir mein Essen und am Wochenende gehen wir manchmal einkaufen, aber sie ist tot.“
Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Ich konnte es mir nur so erklären, dass die Mutter von Laura erst vor kurzem gestorben war und sie das noch nicht wirklich verarbeitet hatte und sich diese Dinge vorstellte, um besser damit klarzukommen. Ansonsten fiel mir keine andere Erklärung dafür ein, geschweige denn irgendetwas, womit ich dieses Mädchen nun trösten könnte. Sie wirkte allerdings nicht so wie ein Kind, das eben seine Mutter verloren hatte, was meinen Verdacht noch zusätzlich bestätigte, dass diese Tatsache noch nicht bis zu ihr vorgedrungen war und ich wollte ihr diesen Wunschtraum nicht zerstören, das war wahrlich nicht meine Aufgabe.

In Gedanken versunken wie ich war, bemerkte ich erst jetzt, dass Laura mich forschend musterte um dann festzustellen: „Du bist nicht tot, nicht wahr ?“
„Ansonsten könnte ich ja nicht mit Dir sprechen oder hier im Park spazieren gehen“, meinte ich lächelnd. „Aber meine Mutti macht das doch auch, aber die IST tot“, erklärte mir Laura nachdrücklich und ich fühlte mich mittlerweile schon sehr unbehaglich und hoffte, sie von dem Thema ablenken zu können, was allerdings auch keine ideale Lösung war. Offensichtlich hatte sie niemanden, der ihr half, den Tod der Mutter zu verstehen.

Plötzlich kam eine junge Frau auf uns zu und rief schon von weitem ärgerlich:“ Da bist Du ja, Laura, hab ich Dir nicht schon hundertmal gesagt, dass Du nicht alleine aus dem Garten gehen darfst ?“
Laura schlug die Augen nieder und murmelte leise: „Entschuldigung, Mutti, ich mach’s nie wieder, versprochen“. Mutti ?? Mein Gehirn lief auf Hochtouren. Eben noch hatte sie mir doch erzählt ihre Mutter sei tot.

Ich betrachtete die Frau und erst jetzt fiel mir deren leerer Blick auf, die kühle Distanz, die sie ausstrahlte, alles an ihr wirkte kühl, beherrscht und unnahbar. In ihrem Gesicht konnte man keine Spuren von Emotionen erkennen, es war ein unheimliches Gesicht, unheimliche Augen, in denen sich absolut keine Regungen widerspiegelten, wie bei so vielen anderen Menschen.

Ich gehöre zu den Menschen, die der Überzeugung sind, dass die Augen der Spiegel der Seele sind, doch in diesen Augen war keine Seele zu finden, so sehr ich die Frau auch forschend betrachtete, was dieser nicht entgangen war und sie sich abrupt umwandte um sich wieder auf den Rückweg zu machen.

Und plötzlich wusste ich, was Laura gemeint hatte, wusste, weshalb sie so verzweifelt versucht hatte, das Gänseblümchen wieder aufzurichten.

Die Hülle dieser Frau war lebendig, doch in ihr schien tatsächlich kein Funke Leben zu sein.

unbändiges Mitleid für Laura, dieses kleine unschuldige Wesen hier, erfasste mich wie eine Flutwelle.
Am liebsten hätte ich sie an der Hand genommen und sie mit mir genommen um zu verhindern, dass auch von ihr letztendlich nur eine Hülle übrigbleiben würde.

Die fremde Frau schritt eilig davon, neben ihr Laura, die sich noch einmal zu mir umwandte und mir mit einem traurigen und gleichzeitig wissenden Lächeln zuwinkte.

Und ich saß immer noch mitten im Gras, neben mir das umgeknickte Gänseblümchen.

Ich habe Laura nie wieder gesehen, doch dieses Lächeln sehe ich heute noch vor mir und ich frage mich, was wohl aus ihr geworden ist.

Mittlerweile bin ich verheiratet und mein Mann und ich führen ein kleines privates Kinderheim etwas außerhalb der Stadt. Wir nehmen bewusst nur eine begrenzte Zahl an Kindern auf, um ihnen allen die Aufmerksamkeit geben zu können, die sie brauchen, um ihnen die Familie zu ersetzen, die viele von ihnen niemals hatten oder verloren haben.

Wir versuchen, sie wieder aufzurichten, die Wunden zu heilen, die andere ihnen zugefügt haben und wenn ich "meinen Kindern" in die Augen blicke, muss ich noch oft an das umgeknickte Gänseblümchen im Park vor fünf Jahren denken .... und an Laura.

 

Liebe Brigitte!

Wunderschön beschrieben!

* :thumbsup: * :thumbsup: * :thumbsup: * :thumbsup:

Ich kann gar nicht viel dazu sagen, da es mich zu betroffen macht, es gibt leider viele Kinder mit innerlich toten Eltern.

Stimmt das mit dem Heim oder ist das Teil der Geschichte? Wenn ja, ist es eine ganz tolle Idee, sowas privat aufzuziehen! :thumbsup:

Liebe Grüße aus Wien
Susi :)

 

Liebe Brigitte
Deine Geschichte ist wunderbar und ich hab sie ohne Luft zuholen durchgelesen *g. Ich würde sie doch eher für Erwachsene schreiben, denn die sollten sich Gedanken machen. Sie sind die jenigen, die den Kindern das antun und es vielleicht nicht merken. Lieben Gruß Stephanie so was hätte ich auch gerne geschrieben ;)

 

Wie man doch aus einer kleinen Sache, einer einfachen, alltäglichen Szene eine Geschichte schreiben kann, die an Spannung, Intensität und an Aussage so manche Geschichte hier übertrifft, die sich nur mit grossen Gesten und Ereignissen auseinandersetzt. Da kann man (auch ich) sich etwas davon abschneiden.
Gratulation!
markus

 

Hi,ich finde die Geschichte auch einfach super, aber ich denke, sie sollte nicht unter "Kinder" sein... Ich dachte, das sind Geschichten FÜR Kinder... Naja, ciao discs

 

Hej Brigitte!

Wundervolle Geschichte! Sie macht nachdenklich und traurig, aber wenigstens bekommt man am Ende doch wieder einen Hoffnungsschimmer.
Allerdings glaube ich nicht, dass eine Fünfjährige sich so ausdrücken würde... Aber wer weiß?

Ich würde sie allerdings nicht unter "Kinder" posten, da die Geschichte nicht für Kinder, sondern für Erwachsene geschrieben wurde.

Lieben Gruß,

chaosqueen :queen:

 

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