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Jenseits der Norm
Sie hatten eine Vereinbarung. Einmal ausgesprochen, nie wieder thematisiert, immer präsent. Luisa wusste, dass sie für Hans eine tolle Frau war, und er durfte es ihr sagen, wann immer er wollte, in allen Variationen. Sie genoss es, ohne dass sie sich was bei seinen Komplimenten dachte, denn das war der zweite Teil der Absprache: Sie brauchte keine Angst zu haben, dass er ihr jemals zu nahe treten würde. Manchmal hatte sie sich allerdings genau das gewünscht. Und das war Luisas ganz persönliche Abmachung mit sich selbst, ihm gegenüber das niemals einzugestehen.
„Bleib bei mir heute Nacht. Lass es uns vergessen, nur für wenige Stunden. Bitte!“
An diesem Abend brach er die Vereinbarung. Sie stand in der geöffneten Terrassentür, den köstlichen Geschmack der Pasta und des würzigen Cabernet Sauvignon in ihrem Mund, den leichten Wind auf ihren Armen. Hans war in den Keller gegangen, um das Dessert aus dem Gefrierschrank zu holen. Als er das Wohnzimmer wieder betreten wollte, verharrte er in der Türschwelle und betrachtete sie. Ihre Wangen waren vom Wein gerötet, eine Haarsträhne hatte sich aus einem ihrer geflochtenen Zöpfe gelöst. Eigentlich hatte sie rauchen wollen, aber ihre Zigaretten lagen noch immer auf dem Glastisch. Ihr Kopf lehnte entspannt an dem Türrahmen, ihr lächelndes Gesicht hatte sie in die kühler werdende Abendluft gereckt. Das Windspiel gab melodische Töne von sich, die sich mit dem Zirpen der Grillen mischten.
An manchen Tagen hatte Hans sich selbst überzeugt, dass seine Gefühle ihr gegenüber freundschaftlicher, nahezu väterlicher Natur waren. An diesem Abend sah er sie in seinem Wohnzimmer stehen, und sämtliche verdrängte Emotionen trafen auf ihn zurück wie ein Bumerang. Die Gespräche beim Essen, bis in die hinterste Ecke seiner Seele dringend, ihre scheuen Blicke, die durch seine immer wieder eingefangen wurden, ihr Lehnen in der Terrassentür, während die Sonne unterging.
So durchquerte Hans das Wohnzimmer, näherte sich ihr vorsichtig und legte sanft seine Hände um ihre schmalen Hüften, während er diese Worte sprach. Das Eis in der Packung schmolz erst in seiner Hand und dann neben den Zigaretten auf dem Wohnzimmertisch. Das Licht hatte er bereits auf dem Weg zu ihr ausgeschaltet, so dass nur das warme Flackern der Kerzen den Raum erhellte und sie in ein wohliges Licht hüllte. Sie fuhr unter seinen Händen zusammen, wich seiner Berührung weder aus, noch gab sie ihr nach. Sie schaute zu, wie es draußen Nacht wurde.
„Mein Mädchen“, flüsterte er, und legte seine rechte Hand sachte auf ihre Schulter. „Lass die vielen Jahre jetzt keine Rolle spielen, bitte. Stell Dir vor, sie würden mit der Sonne untergehen.“
Mein Mädchen – wie sehr sie es liebte, wenn er sie so nannte, mit Stolz in seiner Stimme. Und wie oft hatte sie sich während seiner freundschaftlichen Umarmungen das gewünscht, was er jetzt in seiner gewohnten Indiskretion in Worte fasste. Sie blickte starr nach draußen in den wolkenlosen Himmel, die Sterne umringten die hell scheinende Mondsichel. Vor dem Garten passierten Menschen die Straße. Wie lange hatten sie gebraucht, um einen Begründung für ihre Treffen, ihre ungewöhnliche Verbindung zu finden, die standhielt vor ihrer Vernunft. Sie hatte nie einen Menschen getroffen, der so verwandt mit ihr war, mit dem der Energienaustausch so einfach war, der sie so verstand. Einer von ihnen war versehentlich in die falsche Generation katapultiert worden. Sie beschloss, diesen Fehler nicht länger als gegeben hinzunehmen. Die Moral, die Stimme ihrer Mutter, war an diesem Abend spätestens mit dem zweiten Glas Wein ertränkt worden. Luisa hatte keine Kraft mehr.
Und so brach unter seinen warmen Händen ein Damm in ihr, den sie mühevoll immer höher und stabiler gebaut hatte in den letzten Monaten. Er barst und ließ ihre Gefühle ungebremst strömen, zusammen mit einigen Tränen. Hans spürte, wie ihr Widerstand nachließ, drehte sie ruhig zu sich herum, strich über ihre Haare und flüsterte ein überflüssiges „Bitte, schlaf mit mir“ leise in ihr Ohr, nicht ohne zärtlich und scheinbar unbeabsichtigt mit seinem Atem an ihrem Gesicht vorbei zu gleiten und vorher ihre Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Er sah ihr ein letztes Mal fragend in die Augen. Luisa nickte leicht und ließ sich endlich in seine Arme fallen. Sie war nicht länger in der Lage, ihre Gefühle mit Normalität zuzuschütten, nicht in dieser Nacht. All die anderen Menschen, ihre Fragen, ihre Skepsis, verblassten hinter den klaren Konturen seines Gesichtes. Sie tat seine zahlreichen Komplimente nicht länger mit einem unsicheren Lachen ab sondern gab sich seiner Werbung hin.
Er berührte sie, wie sie niemals zuvor berührt worden war. Kein Zittern ging durch seine Finger, als er sachte die Knöpfe ihrer Bluse öffnete. Seine starken Hände hatten zehn Federn statt Finger, wie ein Hauch streichelten sie sanft über ihren Rücken. Sie überließ sich ihnen ganz. Er liebkoste ihren Körper, als wäre er ein kostbares, zerbrechliches Juwel. Er wusste, wie sie angefasst werden wollte, weil zahlreiche Frauen es ihn gelehrt hatten. Und sie ließ sich mitreißen auf dieser Welle der Zärtlichkeit, all die Energie, die sich seit Monaten zwischen ihnen aufgebaut hatte, entlud sich explosionsartig in diesen Stunden. Nie hatte sie mit einem Mann eine erste Nacht verbracht, dessen Seele sie so durch und durch kannte, mit dem sie so vertraut war. Alles war so klar, so geregelt, nichts musste in Frage gestellt, durch Unsicherheit zerstört werden. Sie war die Frau, er war der Mann, so sollte es sein. Er hatte Blumen gekauft, er hatte ihr den Wein eingegossen, er hatte ihr den Stuhl zurückgezogen, er hatte für sie gekocht, er hatte Musik aufgelegt. Mit derselben Selbstverständlichkeit trug er sie dann ins Schlafzimmer und entkleidete sie nach und nach. Und sie nahm ihre tiefe Zuneigung und Leidenschaft an, ließ sich nach allen Regeln der Kunst von ihm verführen und verwöhnen. Die jahrzehntelange Übung machte ihn zum Meister. Sie hatte es noch nie so genossen, einen Mann in sich zu spüren und erbebte unter der Hitze seines Körpers.
Am nächsten Morgen wurde er von den ersten Sonnenstrahlen geweckt. Luisa war immer noch da, wie er erleichtert feststellte. Sie lag neben ihm und sah ihn an. Neugierig tasteten sich ihre Blicke ab, ängstlich auf der Suche nach der Veränderung. Ihre Augen waren klar und ehrlich wie stets.
„Mein Mädchen“, murmelte er leise und tastete nach ihrer Hand.
„Hans … was machen wir denn jetzt?“, fragte sie ihn besorgt und hoffte inständig, er kenne die Antwort. Er strich sanft eine Haarsträhne aus ihrer Stirn, küsste sie auf dieselbe und antwortete lächelnd: „Erstmal Frühstück.“