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- 20.09.2007
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Mosaik
Die folgende Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit:
Als ich drei oder vier Jahre alt war, ging mein Vater an einem heißen Tag im Spätaugust mit mir ins Freibad. Er breitete eine große Decke auf der Wiese aus, so dass eine Hälfte im Schatten eines Baumes lag und die andere in der Sonne. Er legte sich auf die Sonnenseite, hielt einen vorbeilaufenden Jungen am Hosenzipfel fest und drückte ihm eine Mark in die Hand, damit er mir ein Minimilk Vanille kaufe. Vom Rest könne er sich auch eins aussuchen. Weil ich mit meinem Eis glücklich war, schlief mein Vater in der Sonne ein und ich fing an, mich zu langweilen. Und weil das Kinderbecken komisch roch und zu viele Frauen mit schwammigen Oberschenkeln darin herumwateten und ihre mit Eimern und Schwimmenten um sich werfenden Kinder beaufsichtigten, ging ich in den Sandkasten, wo ich auf den Ball eines anderen Mädchens trat, stürzte, und mir am Waschbeton den Ellenbogen aufschlug.
Wenn ich ein bisschen blinzle und den Kopf schief lege, sieht die Narbe an meinem rechten Ellenbogen aus wie ein Katzenkopf. Es ist nicht leicht, sie anzusehen und dabei auch noch den Kopf schief zu legen. Meine Mutter erzählt diese Geschichte gern ein bisschen anders, mal war sie dabei und sah mir von unserem Platz unter dem Baum aus zu, ein anderes Mal sonnte sie sich und mein Vater hatte die Aufgabe, mich im Auge zu behalten. Das hängt ganz von ihrer Stimmung ab. „Dabei konnte man dich doch gar nicht übersehen, wie du gestrahlt hast, in deinem sonnengelben Kleid!“, ruft sie, drückt eine Zigarette im Blumenkasten aus und stützt sich mit beiden Armen auf die Balustrade. Ein schwerer Seufzer, sie lässt den Kopf hängen, genau wie die Petunien im Kasten. Ihnen fehlt Wasser, dafür haben sie Läuse.
Meine Mutter murmelt etwas, das wie „Arschloch“ klingt und lässt sich auf den großen Sessel fallen, der angeblich noch aus ihrer Studentenzeit stammt. Ich blicke in ihr trockenes Gesicht, das sie in die Sonne streckt wie eine lichthungrige Pflanze. Ich weiß, was sie sich jetzt vorstellt. Ein Balkon mit schmiedeeisernen, geschwungenen Streben, vierter Stock, in einer kleinen Gasse in Montmartre. Von der Hauptstraße wehen Auto- und Passantengeräusche her. Meine Mutter trägt ein rotkariertes Kleid und sitzt in einem Korbsessel, raucht mit Zigarettenspitze, einen Espresso neben sich. Aus einem großen Terrakottakübel wuchert Kapuzinerkresse.
Ihr Gesicht ist regungslos, sie hat vergessen zu atmen. Vielleicht ist sie tot.
„Mama“, sage ich laut.
„Mhm.“
„Ich treffe mich später mit Maria.“
„Nimm dir, was du brauchst, Schatz.“
Ich rühre mich nicht. „Heute hat Herr Selbach nach der Stunde meine Brüste angefasst.“
„Hm.“ Ihre Stimme macht einen kleinen interessierten Schlenker, so als würde ihr mitten im Sprechen das Stromkabel herausgezogen.
Ich drehe mich um und gehe in die Küche, ziehe einen Schein aus dem Portemonnaie meiner Mutter und gehe aus dem Haus. „Komm nicht so spät nach Hause!“, ruft sie mir träge hinterher.
An der Bushaltestelle gegenüber Luigis Pizzeria sitzt eine alte Frau mit ihrer Katze. Sie ist immer dort, wenn ich vorbeikomme. Eine Weile beobachte ich sie von der Ampel aus: Ihr Gesicht ist bewegt, so als würde sie sich unterhalten, ohne den Mund dabei zu bewegen. Ihre Hände streichen im Wechsel über das rotgetigerte Fell des Katers, der sich auf ihrem Schoß breitgemacht hat. Er schnurrt, da bin ich ganz sicher.
Es wird grün, aber ich überlege es mir anders. Anstatt die Straße zu überqueren, gehe ich zur Bushaltestelle und setze mich neben die alte Frau.
„Tag.“
Sie dreht mir ihr Gesicht zu und nickt kurz und freundlich, ohne dabei mit dem Streicheln aufzuhören. Ihre Bewegungen erinnern mich an die einer Spinnerin, die am Spinnrad sitzt.
„Worauf warten Sie?“, frage ich.
„Mein Sohn kommt mit dem achtunddreißiger Bus.“ Ihre Stimme klingt erstaunlich fest.
„Ah.“ Ein paar Minuten verstreichen. Ich höre nichts als das Schnurren des Katers und ein gelegentlich vorbeifahrendes Auto. Dann kommt der Bus, ein paar türkische Kinder steigen aus, die Nachbarin reckt den Kopf.
„Ist er nicht da drin, ihr Sohn?“, frage ich.
„Nein“, sagt sie. „Nein.“
„Hat er versprochen zu kommen?“
„Schon lange.“ Sie seufzt, aber bleibt sitzen und fährt fort, ihren roten Kater zu kraulen.
„Was tun Sie jetzt?“
„Vielleicht kommt er mit dem nächsten.“
Der Bus zischt, schließt die Türen und fährt heulend weiter.
„Wie heißt Ihr Kater?“
„Kikki“, antwortet sie. „Und es ist eine Katze.“
Von dem Geld aus dem Portemonnaie meiner Mutter kaufe ich mir eine Pizza Tonno und setze mich damit ans Flussufer auf einen Stein. Zu viel Käse auf der Pizza. Ich werfe den Schwänen etwas zu, als mich etwas am Kopf trifft. Ich drehe mich um.
„Keinen Käse für Schwäne, spinnst du?“ Schräg hinter mir auf einer Bank sitzt ein finster blickender Typ mit knielangem Mantel, obwohl doch schon Frühling ist.
„Du bist ganz schön unhöflich“, sage ich und beiße von meiner Pizza ab.
„Und du bist dumm.“
„Woher weißt du das?“ Ich stehe auf und setze mich neben ihn auf die Bank. „Willst du auch ein Stück?“
„Schwäne mit Käse zu füttern ist dumm. Ich mag keine Pizza.“
„Warum?“
„Schwäne sollte man überhaupt nicht füttern, sie finden allein -“
„Nein, ich meine, warum magst du keine Pizza? Jeder mag Pizza.“
„Ich nicht. Die Pizzen machen eh nur die Türken und an ihr Schild draußen schreiben sie Luigi dran. Und weißt du, wie es in so einer Küche zugeht?“
„Nein.“
Er schaut mich entrüstet an, ein bisschen fassungslos. „Schlimm jedenfalls!“, ruft er dann.
„Schon gut“, sage ich und lache. „Warum bist du so wütend?“
Er antwortet nicht. Stattdessen bohrt er mit dem Absatz seines Schuhs ein Loch in die Erde.
„Wie heißt du?“
„Du fragst so viel, Mädchen. Warum gehst du nicht nach Hause?“
„Ich habe kein Zuhause. Meine Mutter hat Krebs, ich wohne bei meiner Großmutter und ihrer Katze Kikki.“
Jetzt schaut er mich an, grimmig, aber unbewegt. Er ist unrasiert und struppig, seine Augen sind glanzlos und dunkel und liegen tief in ihren Höhlen.
„Warum trägst du diesen Mantel?“, frage ich. „Es ist doch Frühling.“
„Dicke Menschen frieren nicht so schnell wie dünne. Vielleicht ist dir deswegen warm.“
Ich muss lachen über sein Bemühen, etwas Gemeines zu sagen. „Komm schon, Carlo, ich bin überhaupt nicht dick. Vielleicht nicht so knochig wie du, aber nicht dick.“ Ich schubse ihn ein bisschen, immer noch lachend, während er aufs Neue beteuert, wie dick ich sei. Schließlich kann ich nicht mehr, ich kriege Seitenstechen vor Lachen und atme tief durch, um mich zu beruhigen.
„Überhaupt nicht.“
„Doch, sehr.“
„Ach, Carlo.“
„Ich bin nicht Carlo!“
„Wer bist du dann?“
Daraufhin schweigt er.
In Deutsch bei Herr Selbach sollen wir ein Gedicht über den Frühling schreiben und dabei rhetorische Mittel kennzeichnen. Das mit den meisten verschiedenen rhetorischen Mitteln gewinnt. Meins lautet:
Dünne Menschen frieren
im Frühling.
Dicke Menschen frieren
nicht im Frühling.
Als wir unsere Gedichte laut vorlesen müssen, kichern die Mädchen aus den hinteren Reihen und Maria, die vor mir sitzt, dreht sich zu mir um. Ich zwinkere ihr zu.
Mein Gedicht gewinnt nicht, aber nach der Stunde will Herr Selbach mit mir sprechen.
„Francine, ich habe mich nur gefragt, wie es bei dir so zuhause läuft.“
„Gut.“
Ich sehe das Erstaunen auf seinem Gesicht, er hat wohl eine längere Antwort erwartet, die er spontan aufgreifen kann. An einem „gut“ ist nichts aufzugreifen. „Nur gut?“
„Blendend.“
Er runzelt die Stirn. „Vielleicht könnte man mit deiner Mutter ja mal einen Termin ausmachen, zu einer Sprechstunde? Du bist natürlich auch eingeladen.“
„Mal sehen. Sie hat ziemlich viel zu tun.“ Ich gehe zur Tür. Über meine Schulter werfe ich ihm einen Blick zu und fahre mir mit der Hand durchs Haar. „Wenn ich meinen Freund mitbringen darf.“
Im Bus sehe ich Carlo, aber ich gebe vor, ihn nicht zu bemerken. Aus dem Augenwinkel beobachte ich ihn, ich bin ganz sicher, dass er mich auch gesehen hat. Als er am Klinikum aussteigt, setze ich meine Kopfhörer auf und folge ihm.
Mit hastigen Schritten und seinen langen Beinen läuft er Richtung Flussufer, ich kann ihm kaum folgen. Manchmal blickt er nervös nach links und rechts, als würde er etwas Unbestimmtes suchen, oder kramt in seiner Manteltasche herum. Dann, ohne Vorwarnung, dreht er sich um. Ich laufe noch eine Weile weiter auf ihn zu und blicke ins Leere, dann fokussiere ich ihn, setze meine Kopfhörer ab und sage: „Carlo! Was machst du denn hier?“
„Warum folgst du mir? Hast du keine anderen Freunde?“
„Ich hab dich nicht mal erkannt, meine Augen sind schlecht. Eigentlich trage ich eine Brille. Ich gehe meine Mutter besuchen“, sage ich und mache eine Kopfbewegung in Richtung Klinikum.
Kurz schaut er verblüfft, bringt ein „hm!“ hervor, dann kehrt der finstere Ausdruck in sein Gesicht zurück.
„Aber hey, schön, dass wir jetzt Freunde sind“, sage ich und gebe ihm einen Klaps auf die Schulter. Zum ersten Mal sehe ich, wie jegliche Spannung Carlos Körper verlässt, und erst dann fällt mir auf, wie verkrampft er eigentlich ist. „Was?“, blafft er. Einen Moment lang sieht er aus, als wolle er mich schlagen. „Wer hat das behauptet?“
„Du selbst, grad eben. Du hast gesagt: Hast du keine anderen Freunde?“
Ich glaube, er versteht nicht ganz, aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich hake mich bei ihm unter und ziehe ihn weiter. „Wohin gehst du? Wieder runter zu den Schwänen?“ Irgendwie ist es anstrengend, so mit ihm zu laufen, wir haben nicht denselben Rhythmus und er hat sich wieder verkrampft, als wäre er halb aufgetaut. Aber immerhin.
„Wolltest du nicht deine Mutter besuchen?“ Er befreit sich aus meinem Griff.
„Ach, das kann warten. Die kriegt eh nix mit vor lauter Morphium.“
Am Flussufer steuert er auf dieselbe Bank zu, von der aus er mich gestern mit Steinchen beworfen hat.
„Sitzt du immer auf derselben Bank?“
Er grummelt nur irgendwas.
„Magst du Schwäne?“
„Was du für Fragen stellst! Immer nur Fragen, Fragen. Kannst du nicht mal die Klappe halten?“
„Aye, Sir“, sage ich. Schweigend beobachte ich ihn von der Seite.
„Lieber als Menschen?“
„Herrgott!“
„Ja?“
„Menschen sind faul und dreckig. Von Innen heraus, bis an die Oberfläche.“
„Und du? Bist du auch faul und dreckig? Oder bist du eigentlich ein Schwan?“ Ich mache große Flügelbewegungen und recke den Hals.
„Die Welt wäre jedenfalls besser, wenn Menschen mehr wie Schwäne wären. Sieh dir ihr Gefieder an. Da perlt alles dran ab.“
„Ja, Schwäne sind hübsch. Aber ich weiß nicht, ob sie auch schlau sind. Schweine zum Beispiel, die sind intelligent, aber dreckig. Oder Raben.“
Er mustert mich interessiert und ich mustere ihn, für einen Moment, der seltsam zeitleer ist.
Dann spricht er, es fühlt sich an, als würde mich jemand an einer Schnur, die an meinem Kopf befestigt ist, aus dem Wasser ziehen. Seine Stimme dringt nur langsam in mein Bewusstsein. „Die Besuchszeit ist bald vorbei.“ Ich habe nicht mal eine Uhr dabei.
„Achja“, sage ich traurig. „Wie spät ist es denn?“
Sein Blick löst sich von meinem, er schaut auf sein Handgelenk. „Fast siebzehn Uhr.“
„Gut“, sage ich und stehe auf. „Gut. Ich gehe nach Hause.“
Im Kühlschrank ist nichts, außer ein paar Zitronen, einer Flasche Ketchup und einer Packung Schinken. Ich nehme den Schinken, öffne eine Dose Mais aus der Vorratskammer und setze mich damit zu meiner Mutter auf den Balkon.
„Ist dir nicht kalt?“, frage ich.
„Ein wenig“, sagt sie. Die Sonne steht schon tief.
„Wie war's in der Schule?“
„Wie's halt so ist, in der Schule.“
„Hmm.“ Sie lässt langsam ihren Kopf kreisen.
„Naja, Maria und ich sitzen ab jetzt nicht mehr nebeneinander, weil wir zu viel reden. Aber nur in Deutsch. Und ein komischer Typ von der Straße hat mich vorhin angesprochen und wollte mich ins Kino einladen.“
Meine Mutter schlägt die Augen auf und sieht mich an. „Mensch, Franc, iss doch was Richtiges.“
„Ist nichts da.“
Ich denke an Carlo und die Schwäne und frage mich, was er wohl zum Abendbrot isst. Bestimmt schmiert er sich Brote in der Küche, belegt sie mit Pfeffersalami oder Camembert, dazu geviertelte Tomaten mit Kräutersalz, wie er es von seiner Mutter gewohnt war. Damit setzt er sich an seinen Esstisch und schaut mit finsterer Miene die Nachrichten.
Eigentlich ist das Bild absurd. Ich habe aufgehört zu kauen, starre auf die Petunien meiner Mutter, die Dose Mais in der linken und die Gabel in der rechten Hand und schlucke schwer.
Es ist dunkel im Wald, als würden die Baumkronen das Tageslicht aufsaugen, und es herrscht eine Stille, als hätte man Watte in den Ohren. Der Waldboden absorbiert jegliche Geräusche. Ich beobachte eine Person, von der ich weiß, dass sie Carlo ist. Er hat sich eine kleine Grube in den Boden gegraben, kein wirkliches Loch, eher eine Senke. Überall ist trockenes Laub. Ich geselle mich zu ihm und gemeinsam sitzen wir geschützt in der Kuhle. Im Waldboden. Carlo nimmt keinerlei Notiz von mir. Ich fange zwei vorbeilaufende Frischlinge, die merkwürdig rund und glatt sind und an einer langen Schnur zusammengebunden, und wir essen ihr rohes Fleisch. Ich teste die Konsistenz, indem ich es mit der Zunge gegen meine Zähne drücke und eine Weile mit komischem Magengefühl damit herumspiele.
Mein Bett fühlt sich an wie der Waldboden und unbeweglich dazuliegen wird mir unerträglich. Ich stehe auf und gehe mit meiner Decke auf den Balkon, um etwas zu riechen, etwas zu hören, nichts zu schmecken und um etwas zu sehen. Aber alles, was ich sehe sind die verlausten Petunien und der Sessel meiner Mutter mit dem hässlichen Hahnentrittmuster, der angeblich aus ihrer Studentenzeit stammt. Ich weiß ganz genau, dass sie ihn irgendwann vom Sperrmüll mitgebracht hat. Aber ich setze mich trotzdem hinein, lege die Beine auf das Balkongeländer und schlafe ein.
Am Morgen erwache ich sehr früh, weil es kalt ist, die Vögel lärmen und mein Nacken steif ist. Ich will aufstehen, aber mein linkes Bein ist eingeschlafen und vollkommen taub, sodass ich wegknicke und fast auf den Boden geknallt wäre, hätte ich mich nicht am Balkongeländer festgeklammert. Einige Minuten verstreichen, bis das Gefühl in mein Bein zurückkehrt. Währenddessen fühle ich mich amputiert und versuche, mir mein Leben mit nur einem Bein vorzustellen. Ich hätte wahrscheinlich eine Aluprothese mit Gelenk und Fuß, die sich deutlich an meinem Hosenbein abzeichnete. Die Leute hätten Mitleid mit mir, weswegen ich im Sommer nur noch knielange Röcke tragen würde. Der Bus würde nie mehr vor meiner Nase wegfahren. Mütter würden ihre Kinder auffordern, mir einen Butterkeks abzugeben. Luigi würde mir an schönen Tagen eine Pizza schenken.
Ein wenig bedaure ich es, als ich mein Bein wieder spüren kann.
„Mensch, Franc“, sagt meine Mutter, als sie in die Küche kommt. „Du bist ja schon wach.“ Mutter ist im Nachthemd und ich versuche, nicht hinzusehen.
„Ja“, sage ich. Es ist mein erstes Wort des Tages, ich hätte nicht erwartet, dass ich so heiser bin. „Du auch.“
„Ich brauche einen Kaffee.“
„Wir können zusammen frühstücken.“
Mutter kramt in der Vorratskammer herum. „Es ist kein Kaffee mehr da.“
„Milch auch nicht“, sage ich. „Wir könnten in der Stadt frühstücken gehen. Es ist Samstag.“
„Was?“, sagt sie verblüfft und steckt ihren Kopf aus der Vorratskammer. Dann lacht sie. „Franc, du spinnst ja. Es ist Monatsende. Und so früh kriege ich ohnehin keinen Bissen runter.“ Sie geht in den Flur und kramt in ihrer Handtasche. Ich höre Kleingeld klimpern. „Hier“, ruft sie und kommt wieder in die Küche. „Kannst du ein bisschen Kaffee mitbringen?“
„Reicht das noch für Milch?“
„Das sind zehn Euro, Franc.“
Auf dem Weg zum Supermarkt sehe ich wieder die alte Frau mit ihrer Katze an der Bushaltestelle. Ich beschließe, dass meine Mutter warten kann, überquere die Straße und setze mich zu ihr.
„Guten Tag. Hallo Kikki.“
Mit einer ständig nickenden Kopfbewegung dreht die alte Frau mir langsam ihr Gesicht zu wie eine Schildkröte. „Hallo Mädchen.“
„Ich heiße Francine. Mein Vater ist Franzose. Kann ich Ihre Katze streicheln?“
Sie blickt hinab auf ihren Schoß, auf dem sich die Katze ausgebreitet hat und mir faul entgegenblinzelt. Ich interpretiere das als ja und kraule ihr Fell, das hinter den Ohren besonders flauschig ist.
„Warten Sie wieder auf Ihren Sohn?“
Wieder dreht sie mir ihren nickenden Schildkrötenkopf zu. Ihre Augen sind wässrig hellblau und trüb. Der Versuch, sie mir als junge Frau vorzustellen, klappt nicht, nicht bei ihr. Sie ist wie eine Institution, wie eine Mutter, die man viel zu oft sieht, als dass man ihr Altern beobachten könnte.
Die Katze hat ihre Krallen ausgefahren und langt nach meiner Jeans.
„Ich muss kurz in den Supermarkt und Milch kaufen“, sage ich und stehe auf. „Bis später.“
Eine sehr dicke Frau sortiert gleich am Eingang Marmeladen- und Honiggläser in das Regal. Das Fleisch hängt ihr wie Hängematten träge von den Oberarmen. Ich frage mich, wie ihre Stimme klingt. Wahrscheinlich spricht sie durch die Nase, als hätte sie einen Schnupfen, der niemals weggeht. Ich spreche sie an. „Wo finde ich hier Kaffee und Milch?“
„Milch ist da hinten im Kühlregal und Kaffee gleich hier vorn neben den Frühstückssachen.“ Ihre Stimme ist rau, kein bisschen nasal und sehr angenehm.
„Gleich dort beim Müsli, ja?“
„Ja“, sagt sie nur und runzelt die Stirn.
Mir fällt nichts mehr ein, also drehe ich mich um und gehe. Ich bin sicher, den Blick der Hängemattenfrau auf meinem Rücken zu spüren und schaue nochmal zurück, aber sie steht nur da und sortiert weiter.
Unterwegs trinke ich Milch aus der Packung, um meinen Magen zu füllen. Zuhause sitzt Mutter auf dem Balkon und döst.
„Da hab ich heute Nacht auch geschlafen“, sage ich und sie fährt zusammen.
„Franc, hast du mich erschreckt.“
„Kaffee und Wechselgeld sind in der Küche.“
„Danke mein Engel.“
Wie könnte man jemandem böse sein, der Engel zu einem sagt? „Ich geh wieder raus. Bei Luigi ist eine alte Frau mit Katze. Ich glaube, sie würde mich gern adoptieren oder so.“
„Ja, viel Spaß“, meint sie, ihr mildes, träges Lächeln im Gesicht und steht auf, um in der Küche Kaffee zu kochen.
Ich beschließe, den Rest des Tages bei der Alten und ihrer Katze zu verbringen und mit ihr auf den unbekannten Sohn zu warten. Wahrscheinlich existiert er gar nicht. Womöglich ist er lange tot oder in eine andere Stadt gezogen, verdient jetzt viel Geld und kommt einmal im Jahr seine alte Mutter besuchen. Vielleicht überlegt er, sie in ein Pflegeheim zu geben.
„Hallo.“
„Hallo Mädchen.“ Ein Schildkrötenlächeln.
„Ich werde Ihnen ein bisschen Gesellschaft leisten, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Nein, nein. Gesellschaft tut mir immer gut.“
„Schaun Sie mal.“ Ich kremple meinen Ärmel hoch und zeige ihr die Katzenkopfnarbe an meinem Ellenbogen. „Die sieht aus wie Kikkis Gesicht, finden Sie nicht?“
Sie schaut und blinzelt.
„Ja, sie müssen ein bisschen den Kopf schief legen.“
Ihr überraschend kalter Finger berührt meinen Ellenbogen. „Wie hast du das nur angestellt, Mädchen?“
„Ich war klein, etwa vier oder fünf, ich kann nichts dafür. Mein Vater war mit mir im Freibad und ich bin im Sandkasten auf den Ball eines Mädchens getreten, weil er nicht aufgepasst hat. Ich bin gestürzt und habe mir den Ellenbogen aufgeschlagen. Erstaunlich, wie solche Narben mitwachsen, finden sie nicht? Ich glaube, die war früher viel kleiner.“
„Dein Vater hätte besser aufgepasst.“
„Ja, nicht. Andererseits, wer hat sonst eine Narbe, die aussieht wie ein Katzenkopf?“
Die Alte schüttelt den Kopf und Kikki reckt sich, weil die Streicheleinheiten ausbleiben. Ich kraule sie unterm Kinn und sie schnurrt und schließt die Augen zu Schlitzen. Dann klettert sie vom Schoß der alten Frau auf meinen. Ihre Beine stechen in meine Oberschenkel bevor sie sich als warmes Fellbündel zusammenrollt.
„Beneidenswertes Leben, oder? Man kann machen was man will und trotzdem wird man immer gestreichelt. Niemand würde eine Katze treten, weil sie was angestellt hat. Hunde schon, die werden erzogen.“
Mit dem achtundreißiger Bus kurz nach dreizehn Uhr kommt Carlo. Ich sage nichts. Auch er sagt nichts, sondern steht da wie angewurzelt und schaut stumm zu mir, zu der Katze auf meinem Schoß und dann zu der Alten, die sich erhebt und auf ihn zutappt. „Da bist du ja“, sagt sie und für einen Moment denke ich, dass sie ihn herzen und küssen und ihm in die Wange kneifen will. Aber sie tut nichts dergleichen, zupft nur am Kragen seiner Jacke und sagt: „Auf dem Herd steht ein Nudelauflauf, ich werde ihn für dich warm machen.“
Carlo grummelt etwas und blickt immer wieder nervös zu mir.
„Ist das ihr Sohn?“, frage ich dann. Die Alte dreht sich um und lächelt, jetzt schauen mich beide ruhig an. Ich streichle die Katze.
„Komm nur ruhig mit, Mädchen, es ist genug Essen da. Bestimmt hast du Hunger.“
Ich sehe an Carlos Blick, dass er protestieren will, aber ich scheuche die Katze schnell von ihrem Platz und stehe auf. „Ja, sehr sogar. Nudelauflauf klingt hervorragend.“
In der Küche ist nicht viel Platz, aber sie ist erstaunlich leer. Die Wände sind kalkweiß, es gibt keine Vorhänge, keine Teller an den Wänden oder verstaubte Strohblumen auf dem Küchentisch, nicht mal eine Tischdecke.
Carlo und ich sitzen uns gegenüber, während die alte Frau den Auflauf in den Ofen steckt und die Katze füttert. Er meidet meinen Blick.
„Wie heißt du wirklich, Carlo?“
„Sven.“
„Sven. Ich glaube nicht, dass ich mich so schnell daran gewöhnen kann.“
Keiner von uns sagt etwas, bis die Alte die Küche verlässt.
„Ich wohne hier nur zur Untermiete.“
Überrascht sehe ich ihn an. „Ich dachte, das wäre deine Mutter.“ Ich lache. „Stell dir nur vor, für einen Moment dachte ich, wir wären sowas wie Geschwister.“
Er sieht mich entsetzt an und ich lache nur noch mehr.
„Nein, ich – was? Warum Geschwister? Was redest du?“ Seine Verwirrung kippt in Ärger um, deswegen höre ich auf zu lachen.
„Aber denkt sie, du wärst ihr Sohn?“
„Naja. Sie ist nicht ganz hell.“
„Auf mich macht sie nicht den Eindruck. Bist du wirklich nicht ihr Sohn?“
Er schaut mich finster an. „Nein.“
„Aber du lässt sie glauben, du wärst es?“
„Ja – also, nein!“, ruft er auf mein Stirnrunzeln. „Sie ist nunmal -“, er senkt die Stimme als er merkt, wie laut er geworden ist, „störrisch. Hängt an mir und lässt mich bei sich wohnen.“
„Sie hat dich adoptiert.“
„Naja ...“
„Sozusagen.“
„Ja, wahrscheinlich.“ Wieder schaut er finster. Carlos Mimik belustigt mich. Sobald er bemerkt, dass sein Ausdruck entspannt und unkontrolliert ist, verzieht er die Miene zu diesem finsteren Blick. „Ich bin kein Lügner.“
„Ich weiß“, sage ich leise. „Das bin nur ich.“
Aus dem Wohnzimmer tönt ein Klavier, dramatisch, so als hätte jemand zu viele nicht zusammenpassende Tasten angeschlagen.
„Die Katze“, sagt Carlo. „Läuft immer auf der Klaviatur herum. Jeden Nachmittag. Schlecht erzogen.“
„Katzen kann man nicht erziehen.“
Carlo schweigt und schaut mich an. Völlig neutral dieses Mal, wir mustern uns gegenseitig wie vor ein paar Tagen am Fluss, weder er noch ich verziehen eine Miene. Es ist ein ehrlicher Moment und ich zwinge mich, dieses Gefühl nicht abzuschütteln.
„Meine Mutter hat keinen Krebs“, sage ich, ohne den Blick von ihm zu nehmen. „Ihr geht es gut, zumindest gesundheitlich. Ich wohne bei ihr, auch wenn sie nicht bei mir wohnt. Sie ist irgendwo in Frankreich, mit dem Kopf, zusammen mit meinem Vater, von dem ich nicht viel weiß. Ich habe eine Erinnerung an ihn, aber ich habe keine Ahnung, ob sie wahr ist oder nur ein Traum oder etwas, das ich mir ausgedacht oder meine Mutter mir erzählt hat. Ist auch nicht besonders wichtig. Meine Mutter behauptet, mein Vater sei Franzose und nennt mich Franc, nach Francine.“
Carlo lacht.
„Was gibt es da zu lachen?“
„Beides albern, aber Francine ist noch besser als Franc. Klingt wie Frank.“
„Ja.“ Ich schweige. „Manchmal nennt sie mich auch Engel. Furchtbar, nicht?“
„Erzähl mir von der Erinnerung.“
„Sie ist wahrscheinlich eine Lüge.“ Ich fahre mit dem Finger über die brüchige Tischkante. „Nein, lass. Ich fühle mich grad gut so.“