Unverschämtheit!
Mürrisch stöckelt Hanne über den Marktplatz ihrer kleinen Heimatstadt. Kopfsteinpflaster!
Wie sie es haßt! Das halten die besten Schuhe nicht aus!
Überhaupt ist es eine Qual, hier einzukaufen, kein einziger vernünftiger Laden mehr, nicht mal Hosengummi ist mehr zu bekommen, dafür reiht sich nun ein Postkartenständer an den anderen. Alles nur noch für die Auswärtigen, wie Herbert immer sagt!
Ihre Füße schmerzen, sie muß sich setzen!
Zielstrebig steuert sie auf die kleine Eisdiele zu, läßt sich aufatmend an einem runden, blauen Tisch im Freien nieder, hält Ausschau nach der Bedienung und bestellt: „Einmal Erdbeer mit Sahne, wie immer!“ „Kommt sofort, schöne Frau!“ Dienstbeflissen macht sich der junge Mann an die Erfüllung ihres Wunsches.
Man mag von den Italienern halten, was man will, freundlich sind sie ja schon! Und so charmant! Die wissen, was eine Frau sich wünscht!
„Darf ich gleich kassieren?“ reißt sie der Kellner aus ihren schwärmerischen Gedanken, „es geht nicht anders hier draußen!“
Lächelnd zahlt Hanne, wirft ihm noch einen wohlwollenden Blick hinterher und wendet sich dann ihrem Eisbecher zu. Wie dumm, der Löffel fehlt!
Das ist ja wieder mal typisch! Komplimente verteilen, aber das Wesentliche vergessen! Herbert hat schon recht, was nutzt das ganze Getue, im Leben zählen andere Dinge!
Seufzend erhebt sie sich von ihrem Platz und nimmt ärgerlich an der Theke den fehlenden Eislöffel entgegen. Ach, ihm tut es leid? Das hilft jetzt auch nichts mehr. Wenn man nicht alles selber macht!
Unwillig und mit dem Gedanken, sich beim nächsten Mal das Trinkgeld zu sparen, schlängelt Hanne sich durch die Tischreihen zurück und glaubt ihren Augen nicht zu trauen.
Ein großer, dunkelhäutiger Mann sitzt an ihrem Platz und macht sich in aller Seelenruhe über ihren Eisbecher her. Welch eine Unverschämtheit! So weit ist es also schon!
„Lass’ bloß nie deine Sachen aus den Augen, dieses Gesindel reißt sich alles unter den Nagel“, pflegt Herbert sie immer zu ermahnen.
Und jetzt das! Aber nicht mit ihr! So nicht!
Mit einem erbosten „Jetzt aber!“ setzt Hanne sich zu dem Schwarzen an den Tisch. Sie holt tief Luft, greift schnell nach dem kleinen silbernen Tablett und zieht es mit einem Ruck auf ihre Seite.
Verblüfft hält der fremde Mann inne, ringt vergeblich um Worte und verfolgt mit weit aufgerissenen Augen, wie Hanne beginnt, ihr Eis zu löffeln.
Soll er nur schauen! Damit hat er wohl nicht gerechnet! Der glaubt wohl, sie gehört zu denen, die sich alles gefallen lassen! Aber vor ihr als Frau hat der ja sowieso keine Achtung!
Als würde es nicht reichen, daß er und seinesgleichen hier auf ihre Kosten leben.
Politisch verfolgt, von wegen! Faul und arbeitsscheu sind sie, alle miteinander!
Machen sich hier einen schönen Lenz, während Männer wie Herbert sich täglich neun Stunden lang an der Drehbank die Beine in den Bauch stehen! Wen wundert es da, daß seine Laune von Tag zu Tag unerträglicher wird? Wie gut, dass er sie jetzt nicht sehen kann! Seine Frau mit einem Ausländer am Tisch! Und warum hat dieser unverschämte Schwarze nicht einmal soviel Anstand, aufzustehen und sich zu entfernen, nachdem ihm seine miese Gaunerei nicht gelungen ist?
Aufgebracht stochert Hanne in ihrem Eisbecher. Was ist das nur für ein Mensch? Was geht wohl in seinem Kopf vor? Denkt er schon über seine nächste Schandtat nach? Wie kann er ihr dabei nur so offen in die Augen schauen? Das beweist doch seine ganze Durchtriebenheit!
Entspannt zurückgelehnt sitzt der fremde Mann ihr jetzt gegenüber und mustert sie mit neugierigem Blick. Er lacht sie sogar an und zwei Reihen strahlend weißer Zähne blitzen ihr aus dem dunklen Gesicht entgegen.
Das ist ja wohl die Höhe! Der Kerl macht sich auch noch lustig über sie!
Wütend starrt sie zurück. Registriert dabei seine freundlichen Augen, das glänzende, kurzgeschnittene Haar, die durchaus modische Kleidung, seine gepflegten Hände, seine ganze, angenehm wirkende Erscheinung. Wenn sie ihn da so mit Herbert vergleicht!
Aber Kunststück! Diese Typen sitzen ja den ganzen Tag nur in der Sonne, schneiden sich die Fingernägel und lassen den Herrgott einen braven Mann sein! Da kann man leicht gut aussehen! Von denen macht sich ja keiner dreckig. Und die Rotkreuz-Kleiderkammer gibt ja auch so einiges her, das ist nicht zu übersehen. Umsonst und für nichts. Asylant müßte man sein! Kost und Logis frei! Bekommen die nicht sogar ein Taschengeld? Es ist einfach eine Schande! Ach! Jetzt wird es ihm wohl doch ungemütlich. Wird aber auch Zeit!
Langsam und gelassen steht der Fremde von seinem Platz auf, greift nach seiner Jacke, schiebt seinen Stuhl ordentlich an das kleine Tischchen, betrachtet Hanne noch einmal lächelnd und wünscht ihr in erstaunlich flüssigem Deutsch einen weiterhin guten Appetit und dazu noch einen angenehmen Tag.
Frechheit! Hat dieser Kerl denn nicht einmal die Spur eines schlechten Gewissens? Der traut sich tatsächlich, ihr jetzt noch eine schöne Zeit zu wünschen? Die hat er ihr doch gerade eben gründlich verdorben. Es ist unglaublich!
Trotz aller Empörung kann sie es nicht lassen, nach einer Weile verstohlen den Kopf zu drehen und dem Fremden nachzuschauen. Hochaufgerichtet und ohne Eile schlendert er über den sonnigen Marktplatz des kleinen Städtchens und betrachtet dabei interessiert die verschiedenen Auslagen der Schaufenster. Als ob der sich was kaufen könnte! Das ist doch pure Provokation!
Resigniert seufzend wendet Hanne sich wieder um und ihr Blick fällt dabei auf das runde, blaue Tischchen unweit von ihr.
Ein Eisbecher steht dort. Auf einem kleinen, silbernen Tablett.
Hellrosa, in der Sonne zerlaufenes Erdbeereis. Mit Sahne. Aber ohne Löffel.