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Bis knapp unter die Sterne
Die Dunkelheit nimmt mir die Beine, die Arme, das Gesicht, ich bin so groß wie das Zimmer. Ich liege reglos da und horche in die Dunkelheit. Die Wände ziehen sich zusammen, verharren, dehnen sich, das Zimmer atmet, mein Herz ist leise, es klopft nicht, es flüstert. Am Fenster surren die Nachtfalter auf ihrer Suche nach Licht. Das einzige Licht liegt wie ein gelber Faden unter der Tür.
Tagsüber ist der Hund gestorben. Zuerst dachten wir, er schliefe bloß. Ich hielt mein Ohr an seine Nase, die Nase war feucht und kalt und still.
Der Vater sagte, der Hund sei gestorben, weil er alt war.
Schon gestern war er alt, schon vorgestern, und auch morgen wäre er alt gewesen. Trotzdem ist er heute gestorben. Einfach so.
Alle sind traurig. Die Mutter ist traurig, der Vater ist traurig, ich bin traurig. Der Finger der Mutter zeigte zur Decke, die Mutter sagte, dass er jetzt da oben sei.
Ich blickte ihrem Finger nach und suchte den Hund, ich konnte ihn nicht finden. Doch nicht an der Decke, sagte die Stimme der Mutter, im Himmel, der Hund ist jetzt im Himmel. Er ist jetzt ein Stern und leuchtet auf uns herunter, wenn es dunkel ist.
Ich glaube nicht, dass es ihm dort oben gefällt, was hat er davon, dass er leuchtet. So sind alle traurig. Man müsste ihn zurückholen, den Hund von da oben wegholen.
Mit einem Wimpernschlag streife ich die Dunkelheit von mir ab, die Bewegung gibt mir mein Gewicht zurück, ich habe wieder Arme, Beine, ein Gesicht, eine Haut, kalt und fest wie eine Schale. Meine Füße schlüpfen aus dem Bett, finden den Teppich und die plüschige Oberfläche der Hausschuhe. Der kalte Luftzug und der Geruch nach feuchter Erde weisen mir den Weg ans Fenster. Ich ziehe die Vorhänge auseinander, die Dunkelheit findet keinen Halt mehr an den Dingen und rutscht einfach ab von ihnen. Der Mond treibt wie ein leuchtender Köder auf dem Himmel, die Angelschnur sieht man nicht, den Angler sieht man nicht, die Fische sehen immer nur den Köder.
Die Sterne sind viele, soviele, wie es tote Hunde gibt. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um sie aus der Nähe zu betrachten. Es bringt nicht viel, ich bin nicht groß genug, sie sind zu hoch. So hoch wie das Haus.
Das Fenster steht halb offen, durch den Spalt weht der Wind, er trägt die Luft aus dem Garten ins Zimmer, immer mehr, bis es keine Luft mehr im Garten gibt oder bis das Zimmer voll ist. Dann fliegt das Zimmer davon wie ein aufgeblasener Ballon. Wenn ich merke, dass es bald soweit ist, mache ich die Tür auf, um die ganze Luft wieder rauszulassen. Ich will nicht aufwachen und plötzlich irgendwo weit weg sein, weil das Zimmer, während ich geschlafen habe, weggeflogen ist.
Über der Stuhllehne hängt die Hose wie das abgezogene Fell eines blauen Kaninchens, der Pullover und die Schuhe liegen griffbereit daneben, ich ziehe mir die Sachen über.
Mit dem Stuhl unter den Füßen ist es leicht, auf das Fensterbrett zu klettern. Durch den offenen Spalt zwänge ich mich nach draußen, das Blumenbeet liegt direkt darunter. Unter meinem Fenster wachsen keine Blumen, die Erde ist plattgetreten und kahl. Ich lasse mich an der Wand entlang hinabgleiten, der Putz ist rauh und kalt auf der Haut, die Hosenbeine scheuern daran und rutschen hoch bis zu den Knien. Die Metallknöpfe an der Hose machen ein scharrendes Geräusch. Es ist zu laut und bei den Eltern oben geht das Licht an.
Ich bin ein Schatten, ich drehe mich nicht um, husche durch die grauen Blumen in den Garten, über das kurzgemähte Gras bis zu dem Loch. Das Loch ist so groß wie der Körper des Hundes. Der Vater sagt, es ist trotzdem noch nicht tief genug.
Für mich reicht es. Ich lege mich flach auf den Boden des Loches, presse mein Gesicht an die Erdwand und warte. Warte. Warte. Als ich über den Rand luge, brennt im Haus kein Licht mehr, die Fenster sind dunkel, das Haus schläft wieder, sieht nichts, hört nichts, merkt nichts.
Außer mir liegen in dem Loch noch die Schatten der Bäume. Die Bäume sind Fichten und Blautannen, die Schatten sind lang und gezackt wie Sägeblätter, sie sägen die Spitzen von den Grashalmen ab, man kann es hören, wie es raschelt. In den Bäumen schlafen die Vögel. Wenn sie schlafen, singen sie nicht, dann ist es still im Garten, bis auf das Sägegeraschel der Schatten. In den Zweigen hängt der Mond.
Von den Rändern bröckelt Erde, zuerst fein wie Staub, dann in festen Klumpen, die Erde rieselt mir aufs Gesicht, in den Mund, in die Augen, sodass ich nur noch riechen kann. Ich rieche die Erde, sie riecht feucht und alt, es regnet alte Erde von den Rändern.
Ich richte mich auf und steige aus dem Loch, schleiche geduckt durch das Gras, durch die Blumen zurück zur Hauswand. Die Blumen sind nass, das Wasser saugt sich an meiner Hose fest, macht die Beine darin schwer wie Blei.
An der Wand entlang taste ich mich um das Haus herum bis zu der Stelle, wo die Leiter steht. Die Leiter hat der Vater da hingestellt, er repariert das Dach. Im Dach ist ein Loch. Weil die Seele des Hundes durch das Dach in den Himmel entwischt, sagt der Vater, deshalb ist da ein Loch. Der Hund hat eine große Seele. Leider.
Ich setze den Fuß auf die unterste Sprosse, sie trägt mich, ich bin leicht wie ein Blatt. Ich klettere die Leiter hinauf, es ist nicht einfach, in die Lücken zwischen den Sprossen passt zweimal mein Kopf. Und viermal rutscht mein Fuß von dem glitschigen Metall der Leiter. Immer weiter geht es nach oben, vorbei an den unteren Fenstern, vorbei an den oberen Fenstern, sie sind schwarz und ruhig, ihr Inneres glänzt wie eine Pupille, das Haus schläft, ich bin leise, um das Haus nicht aufzuwecken. Die Leiter ist lang, sie reicht weit, weit hinauf, bis aufs Dach, bis knapp unter die Sterne.
Weiter hinten liegt flach und schwarz die Stadt, ihre Häuser sind wie rechteckige Igel an den dunkelblauen Himmel gepiekst, mit ihren spitzen Antennenstacheln an den Wänden und auf den Balkonen.
Das Dach ist nicht gemacht zum darauf Stehen, das Haus mag es nicht, wenn man auf seinem Kopf herumtrampelt. Meine Beine wackeln und sind dünn wie die Beine der Streichholztiere, die man im Herbst mit Kastanien baut. Mein Körper ist eine Kastanie, schwer und rund und ungelenk, ich schwanke. Über dem Haus sind haufenweise Sterne, staubkörnchenkleine Leuchtpunkte, dazwischen der Mond, hell und so groß wie ein Daumennagel. Die Seele des Hundes muss genau über dem Loch im Dach sein, doch selbst da kommen noch eine ganze Menge Sterne in Frage, mehr, als es Grashalme im Garten gibt. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und mache mich lang, noch länger, bis es nicht mehr weiter geht, strecke die Arme aus und hasche mit der Hand nach Licht. Es geht nicht, ich bin immer noch zu klein, nicht größer als ein Nachtfalter. Nur fliegen kann ich nicht.
Meine Beine gehören nicht mehr zu mir, sie gehorchen mir nicht mehr, sie gleiten ab und rutschen davon, zappeln wild durch die Luft, während ich über die Schindeln auf den Rand des Daches zutreibe. Die Dachrinne klappert, als ich mit dem Fuß hineinstoße, sie knackt, als sie zusammen mit dem Fuß vom Dach abreißt.
Wir fallen in die Tiefe, meine Füße, die nicht mehr zu mir gehören, und ich. Wir landen neben dem Blumenbeet im Gras. Das Gras ist hart, härter als zuvor, hart wie Stein. Der Aufprall presst mir die Luft aus den Lungen, stopft mir einen Pfropfen in den Hals, direkt vor den Schrei, der aus mir herauswill. Meine Beine sind kaputte Streichhölzer, brennen tun sie trotzdem.
Ich kann mich nicht bewegen, nur den Mund, nur die Augen. Ich schließe die Augen und bewege den Mund. Mache ihn auf. Mache ihn zu. Auf. Zu. Zu. Auf. Aber es kommen keine Töne heraus, nichts. Ich schmecke das Gras, es hängt mir zwischen den Zähnen, klebt auf meiner Zunge, ich versuche es zu zerkauen, es schmeckt nass und bitter.
Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich die feuchten Stengel der Blumen und dahinter die Hauswand, die Sterne sind über meinem Ohr, sehen kann ich sie nicht, aber ich weiß, dass sie da sind. Das Ohr hört sie nicht. Die Welt ist ein Stummfilm.
Ich gebe es auf, sprechen zu wollen, mich bewegen zu wollen. Ich liege einfach da und warte. Warte. Warte. Darauf, dass es hell wird. Dass die Sterne ganz von selbst verblassen und jemand anders den Hund zurückholt. Ein anderer als ich.