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Unterwegs zu den Sternen...

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19.09.2003
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Unterwegs zu den Sternen...

Sternenklarer Himmel. Die Zeit stand still. Kein Windhauch durchbohrte die laue Nacht. Eine Frau überquerte die blühende Wiese vor der Bucht, schlenderte den schmalen Strand entlang und die Wellen warfen ihr die Flasche direkt vor die Füße.


Flaschenpost
eingerost‘
ist der Verschluss
und der Kuss
auf dem Papier
fand seinen weiten Weg zu mir.


Sie hielt die grüne Flasche in der blutigen Hand. Neben ihr im Sand lag der mühsam aufgeschraubte, verrostete Verschluss. Ganz vorsichtig strich sie mit dem Handrücken über den geborgenen Schatz, den sie aus dem Inneren des bauchigen Glases herausgepuhlt hatte, glättete den vergilbten Zettel und der aufgemalte Bleistiftkuss weckte eine tiefe Sehnsucht in ihr. Kein woher und warum – nur ein unendlich tiefes „es ist“ umhüllte den Moment und die Sinne schwanden ihr. Stationen ihres Lebens tauchten vor ihr auf und Gedankenfetzen hingen in der Luft:


Habt kein Gewissen,
seid zu beflissen,
Macht und Reichtum zu erlangen,
wenn auch bei diesem Unterfangen
andere Menschen Schaden nehmen.

Habt keine Tränen,
um die Armen zu beweinen;
liebt nur euch selbst - und sonst wirklich keinen.

Das Kind, das ihr einst wart
- oh, wie ist die Strafe hart -
mit dem zärtlich-kindlichen Gemüt
ist entschwunden - ihr seid gar zu sehr bemüht,
nicht mehr zu plappern munter drauf los,
nicht mehr zu fühlen wie in Abraham‘s Schoß,
nicht mehr zu sein, einfach und echt,
nicht mehr zu wissen, was gut ist, was schlecht.

Diese Zeiten sind gegangen,
habt nicht wieder angefangen
Mensch zu sein.


Die Gestalt am Seeufer blickte über das tausend mal abertausend Lichtpünktchen widerspiegelnde Wasser hinaus. Es schien, als ob kleine Elfen Reigen tanzten, die Zehenspitzen sekundenlang mit dem kühlenden Naß benetzend, um sie dann blitzartig wieder herauszuziehen.

Nur noch bruchstückhaft kamen und gingen Erinnerungen. Schließlich war da nichts mehr, was sie umarmen und loslassen musste und so saß sie bewegungs- und gedankenlos am Ufer – stundenlang, bis...

Ihr schallendes, glockenhelles Gelächter überzog die still daliegende See und hallte aus allen Windrichtungen zurück. Es gab keine Zeit mehr, keinen Raum, keine Begrenzung. Ihr bisher genutztes Gehirn von einem Drittel hatte sich schlagartig erweitert und nahezu einhundert Prozent erreicht. Nie gekanntes Glücksgefühl erfasste die Frau. Sie fragte sich nicht, ob sie träumte, denn in dieser Nacht war sie bereit, das aufzunehmen, was sie empfangen wollte. Sie war tatsächlich endlich soweit! Bereit, loszulassen - all das, was sie bis jetzt an Glaubenssätzen in sich trug, all das, was sie übernommen hatte – von ihrer Mutter, von ihrem Vater, von ihren Lehrern, von Ihrer Regierung, von Ihrer Gesellschaft, vom Massenbewusstsein, von Ihrer Kirche. Wenn diese Nacht vorüber gegangen sein wird, werden mit dem Anbruch des neuen Morgens jegliche Dogmen in ihr ausgelöscht sein und ihr altes Ich mit allen Begrenzungen würde hinter ihr liegen – transformiert und erwacht mit einem immensen Wissen. Und ihre Gedanken kehrten noch einmal zurück – weit, weit bis zum Anfang ihres Denkens...


Es war kühl an diesem Morgen im Oktober. Und sie erblickte das Licht der Welt. Das kleine, zarte Kind mit dem flusrigen, dunklen Flaumhaar schrie, was sein Stimmchen hergab. Und seine Mutter wiegte es in den Armen... Noch wußte das Mädchen nichts von dieser Welt, nichts zählte, nur die Nähe zu einem warmen, weichen Körper, der sie sicher um-schlungen hielt und ihr das klitzekleine Köpfchen streichelte. Nichts war von Bedeutung außer dieser Wärme und Geborgenheit, die sie geschenkt bekam und die sie wie selbstverständlich annahm. Und so gebar dieses winzige Geschöpf die Liebe. Die erste Liebe – zu ihrer Mutter. Und der Antritt ihrer Reise in das Leben hatte begonnen.

Immer unterwegs. Unentwegt auf der Suche. Als Kind musste sie häufig umziehen von einer Stadt in die andere, weil ihr Vater die berufliche Erfolgsleiter stetig hinauf kletterte und immer wieder versetzt wurde. Als Erwachsene suchte sie ihren Weg und verhedderte sich hin und wieder ordentlich.

Oh, ihr quälenden Geister -
die mich hochheben,
hinaus tragen,
fliegen lassen
- Momente nur,
mir das Gefühl geben,
aus eigener Kraft zu schweben,
um mich dann doch schließlich
fallen zu lassen.


Kein Mann passte, und als ihre Kinder noch nicht groß genug waren, schlug sie sich mit ihnen alleine mehr schlecht als recht durch. Sie liebte ihre Kinder. Sie liebte sie sogar sehr und sie war stolz auf sie – und auch auf ihren Hof. Sie liebte die Tiere, ihren Garten und sie besuchte ihre Mutter so oft sie konnte. Und sie liebte einige Männer, doch die Wunden klafften mit jeder verlorenen Liebe weiter auseinander. Ja, sie hatte in ihrem Leben viel geliebt, doch die Gefühlskälte der Menschen war ihr zuwider.

Und nie vergaß sie zu suchen. Jahre später, die Kinder waren lange aus dem Haus, zählte sie bereits ein halbes Jahrhundert und es erwachte eines Tages ein weiteres Mal in ihr die Liebe. Die Liebe zu ihrem wahren Sein – zu Gott – und sie betete:


... und ich liebe die Winde,
die die Bäume schütteln machen...
... und ich erstarre in Ehrfurcht und Demut vor Dir
und danke Dir, dass Du bei mir bist.

...und ich liebe das Leben, das überfließt,
das auf mich sprang, wie ein Funke...
...und ich erstarre in Ehrfurcht und Demut vor Dir
und danke Dir, dass Du bei mir bist.

...und ich spüre den Hauch der Ewigkeit,
der uns umgibt - immerzu...
... und ich erstarre in Ehrfurcht und Demut vor Dir
und es durchzieht mich ein Schauer,
wenn mir bewusst wird, was mir bewusst ist.


So saß sie da, schaute über das Glitzerwasser und immer, wenn ein weiterer Gedanke die Stille durchbrach, umarmte sie ihn und ließ ihn los, dahin fahren über das sanft wogende Naß bis er sich auflöste. Mit diesem Innehalten und dem Zettel in der Hand schlief die Frau ein auf dem weichen Sand und wachte auf, als der Morgen kühlen Wind brachte. Fröstelnd erhob sie sich von ihrem Platz und hinterließ eine kleine Kuhle auf dem sandigen Boden. Sie fuhr heim. Nach Hause zu ihrer alten Mutter. Schon lange war der Vater nicht mehr in dieser Welt und so lebte die Witwe ganz alleine in dem geräumigen alten Haus. Die Freude war groß über das unerwartete Wiedersehen mit der Tochter.

Beim gemeinsamen Kuchenbacken, entging der Mutter nicht die seltsame Gelöstheit der verwandelten Tochter; die alte Dame verlor jedoch kein Wort darüber. Der anschließende Schmaus als auch der dazugehörige Kaffeeklatsch tat beiden so richtig gut und machte schließlich müde, sodass der Abend nicht lange dauerte. Glücklich und erschöpft, die eine vom Reden, die andere auch von der anstrengenden Fahrt – gingen die beiden Frauen zu Bett.

Noch in dieser Nacht neigte sich die Lebensreise der Fünfzigjährigen ihrem Ende zu. Die verwundete Hand schmerzte und pochte mehr und mehr. Dennoch krampfhaft das gelbliche, uralte Blatt Papier fest umschlossen haltend, gingen ihre Gedanken eigene Wege.


Weder Raum noch Zeit
trennen mich
von der Ewigkeit.

Da und dort
ist gewiss,
dass der Ort
sekundär ist.

Selbst die Zeit
ist kein Maß,
denn sie eilt
nur zum Spaß
dem Menschen davon.


Der schemenhafte Schatten erhob sein Wort und seine hauchende, tiefe Stimme raunte ihr ins Ohr:


Bin gekommen, Dir zu sagen,
brauchst nun keinen Schmerz mehr tragen.
Nur die Lebenden die Trauer;
noch immer nicht sind sie viel schlauer.

Aber Du wirst nun erfahren,
was es heißt, von hier zu geh‘n.
Endlich Antwort auf die Fragen,
Du wirst sehend, wirst versteh‘n.

Keine Angst mehr, keine Sorgen,
keine Angst mehr vor dem Morgen.
Es ist dort heller als das Licht,
doch die Menschen wissen darum nicht.

Keine Geisterwesen schwirren tösend durch die Luft.
Keine Seele steigt empor aus der legendären Gruft!
Wohin Du kommst, ist alles eins.
Dies ist die Wirklichkeit des Seins.

Gleich geht sie los, die lange Reise,
komm‘ her zu mir – psst, sei ganz leise.
Von Euch zu uns, das geht so schnell;
kannst Du‘s erkennen? Da vorn‘ wird‘s hell.

Jetzt bist Du hier am Anfang angekommen -
die Welt dort hinten ist nur noch verschwommen.
Dies ist mein Reich, das Du bis jetzt geseh‘n.
Bis hier hin – und nicht weiter darf ich mit Dir nur geh‘n.

Geh‘ Deinen Weg, Du lernst noch viel,
Du bist noch lange nicht am Ziel.

Die Ewigkeit ist gar nicht lange!
Bist Du davor etwa bange?
Das Ziel heißt nicht, das Ende erreicht zu haben.
Halt, bleib‘ noch, eines will ich Dir doch sagen:

Der Allmächtige hat etwas Großes vor,
den goldenen Schlüssel besitzt er - zu dem Tor,
vor dem ein jeder einmal steht - irgendwann.
Dahinter der Garten Eden – wie gehabt...

...alles von Anfang an.


Und der Tod entschwand und ließ sie allein. Nichts war mehr, wie es einmal war, als der Morgen graute. Starr auf dem Bett liegend, fand die Mutter den Leichnam vor. Lange saß sie neben der Tochter und streichelte deren Kopf – wie damals, als sie noch ganz klein war...

Irgendwann stieg die alte Frau die Treppen hinunter, begab sich in die große Wohnküche und entfachte das Holz im Kamin, während sie vor sich hin murmelte:


Eis in meinen Adern,
klirrend,
bibbernd,
händeringend
quillt es perlchenweise
aus meinem Körper.
Meine Augen frieren...


Es war kalt an diesem Morgen im Oktober...


Stille,
Lautloses Lauschen in die Ewigkeit.
Minuten verrinnen in der Zeit.
Stille.
Schwarze Löcher in der Luft
Gedanken steigen aus der Gruft...
... vorbei


Es dauerte einige Zeit, bis die nichtendenwollende eisige Lautlosigkeit gebrochen wurde.

Gestern abend bin ich gestorben. Doch wie es dazu kam, ist mir ein Rätsel. Um einundzwanzig Uhr war ich noch am Leben - und bei bester Gesundheit. Was ich jetzt bin? - Ein Bewußtseinspunkt, der in etwa ein Meter achtzig über den Boden schwebt??? Ein Gespenst, das von Zimmer zu Zimmer wandert und nach einem Ausweg, nach Erlösung sucht???

Aus dem Nichts wurde ich geboren und in das Nichts muss ich zurückkehren! Wenn das stimmte, wie glücklich ich dann wäre. Denn ich wünsche, nur negativ zu sein - ausgelöscht, überhaupt nicht existent, im tiefsten Schacht des "Niegewesenseins“, der schwarzen unendlichen stillen Nacht zu ruhen.

Aber die Tatsache, daß mir noch Eindrücke aus meiner Umgebung zufließen, scheint anzudeuten, daß ich weiterhin b i n, wenn ich auch nicht so recht zu sagen vermag, in welcher Gestalt, in welchen Zustand oder an welchem Ort... ...gebe Gott, daß es nicht h i e r sein muss!!!

In diesem Augenblick kann ich meine alte Mutter sehen. Sie sitzt dort drüben am Feuer und blickt ausdruckslos in die flackernden Flammen; sie hat noch nicht wirklich begriffen, daß ich tot bin - ebensowenig wie ich. Wie ist es nur geschehen? Herzversagen? In dieser Hinsicht hatte ich nie Schwierigkeiten. Mit meinen fünfzig Jahren konnte ich noch spielend bis zu unserem alten Bahnhof joggen, der cirka sechs km von meinem Hof entfernt liegt. Habe so manchen Zwanzigjährigen gesehen, dem nach einem halben Kilometer die Puste ausging. Ich war doch wirklich noch absolut fit. Warum also? - ...natürlich, das liegt jetzt alles in der Vergangenheit...

Was für ein merkwürdiges Gefühl, gestorben zu sein. Ha, dabei bin ich in meinem Leben schon tausend Tode gestorben, und ich dachte immer, wenn das alles hier - mein Leben - mal vorbei ist, fände und hätte ich endlich meine Ruhe...

Wie traurig du schaust, Mutter. Ich bin doch hier, siehst du mich nicht? Erkennst du mich denn nicht?

Mutter!!! - Wie laut muss ich denn noch schreien, bis du mich hörst.....?

Schreie ich? Habe ich überhaupt einen Mund? Wer oder was bin ich nur??? Ich bin da und doch hört und sieht sie mich nicht! Was für ein Zustand! Gibt es für mich überhaupt Hilfe oder stehe ich schon mittendrin im Fegefeuer, das die Christen doch ihren Gläubigern so gerne glauben machen wollen.

....mir wird Angst! Ich will hinaus! Hinaus aus diesen alten Gemäuern, die mich gefangen halten, die mir die Luft zum Atmen nehmen...
- Na sowas, bin ja schon draußen!?

Wie klar der Himmel ist. So blau und hell. Endlich, endlich kann ich frei durchatmen. Tut das gut. Mir ist so leicht, so leicht...

...was ist das? Da kommen zwei helle Punkte auf mich zu. Jetzt sind sie da. - Es ist so hell! Ich höre Stimmen in meinen Ohren - dabei hab‘ ich doch gar keine Ohren. Oder doch? Leise, zarte, glockenhelle Stimmen dringen in mich hinein, ich spüre sie in mir. ...sie wollen mich beruhigen...

...es ist so unsagbar hell! Hätte ich Augen wie gestern noch, ich hin sicher, meine Pupillen wären für immer verblitzt. Doch ich sehe, sehe mit anderen Augen - ich sehe, ich höre und fühle, doch ich verstehe nichts.

"Was wollt ihr? Was wollt ihr vor mir?‘ - ...mir ist, als ob sie mich jetzt mit sich ziehen... es geht so schnell... die Erde unter mir - sie verschwindet...
...wo bin ich?

Ich glaube, jetzt haben sie Halt gemacht. Es ist so still hier. Da, da sind noch Andere. Sie kommen zu mir und - huch - sie sind durch mich hindurchgegangen!!!

...nein, eigentlich nicht unangenehm, mir ist als hätten sie mich eben begrüßt. Wer sind sie? Wie soll ich sie benennen?. Einen Körper wie wir Menschen - ha, bin ja jetzt selbst keiner mehr... - was bin ich?

...jedenfalls einen Körper haben sie nicht. Ich auch nicht? Egal! Egal, was ich auch bin, langsam fange ich an, Gefallen an diesem Seinszustand zu finden; es ist so friedlich - so unsagbar friedlich und ich bin nicht mehr allein. Sie sind alle wie ich. Körperlos - und doch kann ich sie sehen. Ich glaube... - es sind Engel...

Ob hier der Himmel ist?.......


© Rachel Violeth 1988

 

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