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Autobahnromanze

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17.11.2003
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Autobahnromanze

Ein fahlblaßblauer Himmelsstreifen unter grauen Wolken am Horizont, sparsam angestrahlt, der Anschnallgurt fest um ihn, Kilometer um Kilometer.

Beinahe klischéehaft war der salzige Geschmack, der seine Mundwinkel tropfenweise erreichte, wunderbar und angenehm und doch seltsam, befremdlich. Das Klacken eines Benzinfeuerzeuges, als es geöffnet wurde, gespensterhaft blaß schien ihm die blaugelbe Flamme, die er über die knisternde, erstehende Glut seiner Zigarette in seine Lungen sog.
Nichts endet, und trotzdem ist alles vorbei, philosophierte er dilettantisch, während er eine tropfenkalte Dose Cola light öffnete, dem Verkehr auf den schurgeraden Autobahnen keines Blickes würdigend. Heiß war er, dieser Sommer, das war die alles überziehende Erinnerung, gepaart mit dem Nichtgeruch in durch smogverkrustete Popel verstopften Nasenhöhlen. Hier draussen, außerhalb der Stadt, war es ganz anders, und doch wieder genauso leer und flach und still und einsam wie in der Stadt, trotz ihrer vier Millionen Einwohner. Aber die Luft war frisch hier, die Nase frei: er konnte allerhand Gerüche unterscheiden, alle unterlegt mit dem zugig frischen Geruch des schnell heraufziehenden Herbstes, früh, dieses Jahr, wie er.

Ob er die konkreten Gedanken verscheuchte und aus seinem Gehirn heraustrieb oder ob er einfach nur keine Lust mehr hatte, zu denken, wußte er nicht zu sagen, er wollte auch gar nichts mehr sagen, nichts mehr denken, jetzt, wo es letztendlich soweit war. es war schön, auch wenn die Bewußtwerdung dieses Zustandes noch nicht angefangen hatte, und wenn doch, war sie zumindest sicher nicht abgeschlossen.

Kein Stereotyp mehr, ein Archetyp seiner selbst, nicht mehr willens zu konkurrieren, nicht mehr danach strebend, so zu sein, wie der Gott seines Vertrauens, sondern vielmehr sich mit ihm vergleichend saß er, bequem zurückgelehnt hinter dem Steuer seines Fiestas, seine Tränen im Rückspiegel betrachtend. Leere Augen müssen nicht zwangsläufig tote Augen bedeuten. Möglicherweise gibt es verschiedene Arten, 'gefüllt' zu sein, oder 'erfüllt', selbst, wenn nichts mehr da ist, restlos gelöscht. Ausgelöscht durch sich selber. Sao seauton. Gesunde Laute im Ohr zu haben, korrekte, der Sprachentwicklung folgende, sind beinahe genausoviel wert, wie überhaupt keine Worte im Ohr zu haben. Noch ein Jahrhundert Leser und der Geist selber wird stinken. Nein! Reingewaschen war sein Geist. Weggeschruppt, vielleicht, doch es machte nichts mehr aus. Wie sollte es jetzt werden? Er verstand sie das erste mal in der situation, als sie zurückgekehrt war, wie er zurückkehrte, jetzt, in diesem Moment. Aus der tiefsten Hölle dieser Welt, aus ihrem ganz persönlichem Arschloch fuhr er hinaus, wenn er sich vielleicht in diesem Moment noch im Enddarm der Hölle befand, bereits faltenfrei, hinter der letzten (zweiten) Biegung, diesseits!, der KOHLRAUSCH'schen Falte rollte er mit hundertdreißig, hundertvierzig km/h dem Sphincter Ani der Welt entgegen. Wie Scheiße wollte er sich ausstoßen lassen, sich vielmehr noch zusätzlich herauschschleudern wie ein Schwall Dünnpfiff, der sich brachial hervorbrechend geometrisch exakt, einen Zylinder beschreibend, kreisförmig an der Schüssel bricht. Erleichterung verschaffen wollte er sich selbst und der Welt, in der er gelebt hatte und viele Male gestorben war.

Er würde sich nicht mehr verschenken, hatte sich zu lange prostituiert, war die Hure seiner neuen Welt geworden, hatte seinen Schwanz lutschen lassen von dieser Stadt, ein ums andere Mal, hatte sich erleichtert und sich doch niemals auch nur für einen Tag Erleichterung verschaffen können.

Stille. Er drehte die Musik auf bis zum Anschlag und genoß die Stille, die in seinen Kopf einzog, genoß das organische Sein des Blutpochens in seinen Ohren, verdängte die Namen der Arterien, die er spürte und ihrer Ursprünge, weigerte sich, erneut in einen Ery zu steigen und diese immer gleichen Bahnen zu durchschwimmen, schwallweise weitergestoßen durch diese und jene Regionen. Ich besitze noch einen Kern! dachte er einmal, und nocheinmal, da ihm dieser profane Gedanke ob seiner Trivialität gefiel, ein netter, sauberer, stiller Vergleich – unwichtig, wie hinkend, wie konstruiert er schien, nichts konnte sich aufdrängen in der Weite seiner Welt, den Enddarm durchschreitend.

Einen Kilometer nach der Grenze warf er seine Aufenthaltsgenehmigung aus dem Fenster.

Es konnte die Wut nicht auslöschen. Von vornherein war es klar, das dergleichen keinen Effekt erzielen würde, so wie nichts auf der Welt einen Effekt erziehlt, trotzt des definitionsgemäß in sich schlüssigen – auch zahlenlosen empirischen (auch subjektiven, Alltags-) Versuchen standhaltenden – Gestzes von Actio und Reactio. Sich aufzwängende Kreise – oder für den fortschrittsorientierten, akademisch vorgebildeten Deppen: Spiralen, je nach momentanem Weltverständnis, vielleicht (oder gerade) des Rausches: Spiralen – sind wohl als esoterisch und unbewiesen zu verlachen. Eher zu verachten, zu bespucken, kurz: zu verneinen. Tut es den etwas zur Sache? Und geht es überhaupt um die behandelte Sache?

Wenn sie könnten, sie dürften. Sie dürften in ihn hineingreifen und sich bedienen. Für was brauchte er noch ein Herz? Hatte er es jemals benutzt? Nie! Das Blut, es fließt auch von allein, getrieben von dem unstillbarem Drang danach, Scheiße durch zweihundert Millionen Leiber, täglich hängengeblieben, versackt, aufgespießt im Parenchym der Milz, braun zu färben.

Verbittert, versackt, wie sein Hirnblut, dabei sollte es nicht mehr da sein, weg wie jene Ahnung, die er einmal vom Leben zu haben geglaubt hatte. Wie oft hatte er schon versucht, sein Leben durch den Tod anderer zu tauschen? Möglicherweise war die die einzig legale, ideale Gelegenheit die Quantität eben jener Erfahrungen drastisch zu erhöhen. Masse statt Klasse. Was macht es schon, sie nicht zu kennen, sind wir nicht sowieso alle gleich, gehen ineinander über? C.G. Jung-mäßig? Oder will irgend jemand behaupten, Ernie und Bert hätten unterschiedliche Energiekörper? In den Sechzigern war so etwas vielleicht mal bahnbrechend, aber heutzutage, wo man den Kaffee wahlweise mit oder ohne Zucker, Milch und Ephidrin trinkt?

Vorbei.

Ihm kam das stille Versprechen in den Sinn, das er seiner Yuccapalme gegeben hatte: Ich nehm' dich mit. Nichts wollte er mitnehmen. Diese Pflanze war genauso krank gewesen, wie er es immer noch war. Es durfte, konnte niemand anders überleben, bis auf ihn. Verrotten soll sie, eingehüllt in einem schwarzen Leichensack, 150 Liter, dünnwandig, er wäre beinahe gerissen, Seramis im Hausflur, nichts wie weg, nichts wie weg, nichts wie weg, dachte er und ob er sich jetzt entscheiden müsse zwischen den beiden Lichtern, die so hektisch aufblendeten, am Ende seines ganz persönlichen Tunnels.

 

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