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Stühle sind Objekte

Beitritt
18.12.2001
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1.318

Stühle sind Objekte

Stühle sind Objekte. Stühle können im Raum stehen. Einen Stuhl kann man auf einen Tisch stellen. Man kann ihn auch zuerst umdrehen und dann auf den Tisch stellen. Auf den Kopf stellen und dann auf den Tisch stellen. Vielleicht kann man auch den Tisch auf den Stuhl stellen. Aber dann wird sich der Tisch bewegen. Der Tisch wird sich auf Boden bewegen.
Menschen sind auch Objekte. Man kann sie auch verschieben. Im Raum verschieben.
Aber sie sind schwer zu verschieben. Will sie meistens gar nicht verschieben. Sie räumen sich manchmal auch selbst auf.
Menschen können sich bewegen. Stühle und Tische können sich nicht bewegen. Auch Bücher können sich nicht bewegen. Aber Menschen bewegen sich. Sie sind dann nicht mehr aufgeräumt.
Ein Mensch will mich bewegen. Er steht so nah vor mir. Kann nicht mehr sehen, was hinter ihm ist. Weiß nicht, ob der Stuhl noch da ist. Weiß nicht, ob der Tisch noch da ist. Ein Mensch hat mich bewegt. Ich schreie. Ich schreie. Ich schreie. Ich schreie. Ich schreie.
Sitze wieder. Sitze im Raum. Sehe einen Menschen vor mir. Er ist so groß. Größer als der Tisch. Und der Stuhl. Größer als der Tisch und der Stuhl auf ihm. Das Objekt verschiebt sich. Er wird kleiner. Jetzt ist er kleiner geworden als der Tisch. Und der Stuhl.
Objekte können weh tun. Ein Objekt und ein Objekt wollen denselben Raum. Und dann tut es weh. Stuhl kann weh tun. Oder Tisch.
Aber Stuhl ist an seinem Platz. Und Tisch ist an seinem Platz. Und alle dreiundsechzig Bücher sind an ihrem Platz. Bücher können sich nicht bewegen.
Menschen können Bücher verschieben. Aber Bücher können keine Menschen verschieben. Menschen können Bücher tot verschieben. Bücher sind tot, wenn sie nicht mehr da sind. Menschen sind auch tot, wenn sie nicht mehr da sind.
Es ist kein Mensch da. Alles ist aufgeräumt.
Hundertundsechzig und eintausendundvierzig sind eintausendundzweihundert, neunhundertdreisig und achthundertsechsundsechzig sind eintausendsiebenhundertsechsundneunzig, vierhundert und zweihundertachtundachtzig sind sechshundertachtundachtzig. zweihundertvierundvierzig und ...
Ein Mensch verschiebt sich wieder in den Raum.
Noch ein Mensch. Zwei Menschen. Zwei Menschen und dreiundsechzig Bücher sind fünfundsechzig. Menschen sind größer als Bücher.
Menschen tun weh. Alles verschiebt sich. Stuhl verschiebt sich. Tisch verschiebt sich. Alle Bücher verschieben sich. Ich. Kann ihre Seiten sehen. schreie. Alle Seiten sind. Ich. dreiundzwanzigtausendeinhundertundvierundachtzig. schreie.
Die Seiten sind weg. Alles verschiebt sich. Nur Menschen verschieben sich nicht. Raum verschiebt sich. Raum verschwindet. Menschen tun weh.
Kleidung. Auf Boden. Fünf Kleidung und zwei Menschen sind sieben.
Manche Objekte können da sein, wo auch andere sind. Sechsundachtzig. Wenn ein Objekt und ein Objekt zusammengehen, sind es dann zwei Objekte?
Manche Objekte kann ich durchsehen. Und wenn ich sie zähle, macht es immer nur: eins.
Menschen kann ich nicht durchsehen. Menschen sind da.
Räume können sich verschieben. Und sie können verschwinden. Bücher können nicht verschwinden.
Menschen tun wieder weh. Kleidung verschiebt sich.
Alles verschiebt sich. Ein Bild verschiebt sich. Noch ein Bild verschiebt sich. Ein Bild und noch ein Bild macht zwei. Aber Menschen verschieben sich nicht.
Stuhl ist wieder da. Und Tisch ist wieder da. Alle Bücher sind wieder da. Menschen bewegen sich wieder. Zwei Menschen und dreiundsechzig Bücher macht fünfundsechzig.
Menschen sind wieder verschwunden.
Fünfundsechzig Objekte.

 

Parataxen sind Wörter. Fünfhundertneunundzwanzig Wörter sind Geschichte. Schreibstile verschieben sich. Lesbarkeit ist subjektiv. Was Menschen, Stühle und Bücher, kann wichtig sein. Was wichtig sein kann, kann auch häßlich sein.
Sich ins Bett verschiebend,
...para

PS:
Zahlenschiebereien finden manche Leute schön, ich nicht, Verzeihung. So bleibt mir der Sinn verborgen, wie bei Mathevorlesungen. Gut Nacht.

 

Hej Philoratte,

mir hat Dein Text recht gut gefallen. Der xtrem naive Stil hat mich an einen geistig behinderten Menschen erinnert, der die Welt auf seine Art schildert. Am ehesten scheint es die Welt eines autisten zu sein, der die Welt zwar wahrnimmt, aber nicht richtig zu ihr durchdringen kann.
Und so ganz nebenbei hat dieser Text auch noch philosophische Aspekte, er zeigt uns eine neue Sicht der Dinge, teilt sie ein in bewegliche und unbewegliche, in Einzelobjekte und Mehrfachobjekte, in Objekte, die weh tun, und welche, die tot sind. Und er zeigt auf, in welchen Relationen diese Dinge zueinander stehen.

Gefällt, gerade wegen seiner Eigenwilligkeit!

Gähnende Grüße

chaosqueen

 

Servus Ratte!

Hab es nicht ungern gelesen. Es schien mir trotz völligem Unverständnis nicht sinnlos zu sein. Als würde ich ein Bild durch eine, von meiner Hand bewegte, Glaskugel betrachten. Ständig verändern sich die Dimensionen. Das immer Gleiche nimmt durch die veränderte Perspektive unterschiedlichen Raum ein. Woher kommt allerdings das Wehtun, warum die Schreie? Weil es im Kopf nicht zusammengeht was sich einem da präsentiert, die Zahlen keiner Logik zu gehorchen scheinen?

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Hey Para, chaosqueen, maxy und Eva!

Vielen Dank für eure Kommentare, hab mich wirklich darüber gefreut! :)

Ich hab ganz absichtlich ein wenig Zeit verstreichen lassen, bis ich mich auf diese Geschichte jetzt endlich mal melde. Mir war natürlich bewusst, dass diese sicherlich nicht gerade leicht verständlich ist und eure ganz unterschiedlichen Reaktionen zeigen mir außerdem, wieviel Interpretationsspielraum diese bietet. Gerade diese Vielfalt an Reaktionen von euch finde ich aber doch ziemlich spannend.

chaosqueen kam mit ihrer Erklärung ganz klar am nächsten heran an das, worum es mir in dieser Geschichte tatsächlich ging. In der Tat wollte ich versuchen, die ganz eigene, uns so fremde Welt eines (jugendlichen) Autisten zu schildern. Dabei versuchte ich, ganz typische Merkmale dieser geistigen Behinderung in die Handlung miteinzuflechten. Zum Beispiel das ständige Zählen irgendwelcher Ansammlungen von Gegenständen.

Was den Text zwangsläufig so unverständlich macht, ist, dass ich unbedingt vollständig aus der Perspektive dieses Jugendlichen erzählen wollte. Das macht das ganze natürlich nicht wenig rätselhaft und eigenartig. Aber genau das ist die subjektive Welt eines geistig Behinderten eben nun mal auch. Körperliche Behinderungen können wir immer irgendwie sehen und betrachten. Behinderungen des Geistes dagegen können nicht über die gewöhnlichen Sinne verstanden werden. Man muss sich viel eher in sie hinein versetzen. Sonst bleiben sie für immer fremdartig und verschlossen.

Zur Handlung (von außen betrachtet): ein junger Mann hockt still und verlassen in einem kleinen Zimmer. Um ihn herum betrachtet er einen sich darin befindlichen Stuhl, einen Tisch und eine Reihe Bücher. Möglicherweise befinden sich in diesem Raum auch noch weitere Gegenstände. Aber er kennt keinerlei Begriffe für diese weiteren Dinge. So existieren sie für ihn auf sprachlicher Ebene einfach nicht und er kann sie in keinerlei Satzgefüge einpassen. Und infolgedessen auch nicht davon erzählen.
Plötzlich kommt seine Mutter (oder sein Vater) in dieses Zimmer. Sie ergreift ihn und möchte ihn aus irgendeinem Grunde aus dem Zimmer heraus bekommen. Möglicherweise spricht sie irgendetwas zu ihrem Jungen, doch dieser nimmt ihre Worte nicht wahr. Er nimmt nur wahr, dass sie ihm weh tut (als sie ihn am Arm packt) und dass plötzlich irgendetwas wie von Zauberhand in seine abgeschlossene, gerade noch so heile Welt hineingreift. Er kann sich das nicht erklären, gerät darüber in Panik und beginnt stoßweise zu schreien.
Die Mutter geht wieder aus dem Zimmer und kurz darauf kommen nun beide Elternteile in das Zimmer. Nun versuchen sie es zu zweit, ihn aus dem Zimmer zu bekommen. Auch jetzt schreit der Junge wieder - doch es hilft nichts. Er wird - für ihn unfreiwillig - hinausgetragen.
Wohin geht die Reise? Sie landen wenig später in einem Badezimmer dieses Anwesens. Warmes Wasser wird in eine Badewanne eingelassen, der Sohn wird von seinen Eltern entkleidet und anschließend in jene Wanne hineinmanövriert.
Der Junge hat keinen Begriff für "Badewanne", kann daher nicht davon erzählen. Aber er kann die vielen Seifenblasen auf dem eingelassenen Wasser zählen. Es sind genau "Sechsundachtzig" - jedenfalls für einen kurzen Augenblick. Er entdeckt jetzt auch, dass "Manche Objekte können da sein, wo auch andere sind." Er meint damit, dass Gegenstände in das "Objekt" Wasser eingetaucht werden können. Das ist für ihn ungewöhnlich, denn er weiß, dass sonst weder Stühle in Tische noch Bücher in Stühle eingetaucht werden können. Aber jetzt kann sogar er selbst sich in etwas hineintauchen. Das Wasser tut ihm auch nicht weh, so wie es andere "Objekte" erfahrungsgemäß tun können.
Hier stellt er dann auch die einzige Frage(!) im ganzen Text: "Wenn ein Objekt und ein Objekt zusammengehen, sind es dann zwei Objekte?".
Er ist irritiert. Sein Vertrauen in eine geordnete und damit nicht angsteinflößende Welt wird ein wenig erschüttert. Es ist ein wenig so, als würden jetzt zwei zuvor stets getrennte Dinge ineinander verschmelzen und darin aufgehen. Aus zwei Objekten wird plötzlich eines. Wie zwei Wolken, die ineinander treiben...

Doch allzuschnell ist das Bad wieder zu Ende, der Junge wird wieder angekleidet und anschließend zurück in sein kleines Zimmer gebracht.


@maxy

Deine Assoziationen finde ich interessant. Diese Raumplastik in der Pinakothek, die du da beschreibst, werd ich mir bei Gelegenheit mal anschauen. "Cube" hab ich mal vor einigen Jahren im Kino gesehen. Weiß aber nicht mehr so arg viel davon.

Lustig ist aber schon, dass dir auch irgendwie ausgerechnet Sartre in den Sinn kam, denn zZ. les ich nämlich gerade sein Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" (oder besser gesagt: versuche es zumindest!). Darin versucht Sartre die Welt bzw. das Sein rein "phänomenologisch" zu erklären, dh. konsequent nur das als wahr zu akzeptieren, was über unsere Sinne objektivierbar ist (und nicht, was wir darin rein gewohnheitsmäßig noch so alles mit hineinlegen wollen, zB. jede Menge Bedeutungen). Dabei werden selbstverständlich auch Menschen erstmal zu schlichten Objekten. Erst anhand der Gegenübertragung werden diese Anderen zu Leben erweckt (und nicht etwa als Roboter wahrgenommen) und als Seinesgleichen erkannt. Oder auch nicht - wenn diese Fähigkeit in einem Menschen aus irgendeinem Grund verkümmert ist.

 

Hallo Philo,

Deine Geschichte finde ich ansprechend, vor allem

Zitat:
„Ein Mensch will mich bewegen. Er steht so nah vor mir. Kann nicht mehr sehen, was hinter ihm ist. Weiß nicht, ob der Stuhl noch da ist. Weiß nicht, ob der Tisch noch da ist. Ein Mensch hat mich bewegt. Ich schreie.“

ist sehr bewegend, weil sich doch letztlich zeigt, dass wir alle (nur graduell unterschiedlich) so ausgeliefert gegenüber (Be)handlungen sind. Glück hat man, wenn diese äußeren Einflüsse zu (vielleicht selbst im Moment nicht erkanntem) Guten führen.
Gut gemacht ist auch die Verwendung der Zahlen als Repräsentanten eines Ruhepols und als Hinweis auf die spezielle psychische Situation des Protagonisten.
O. Sacks beschreibt in seinem Buch `Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte´ eindrucksvoll die zahlenakrobatischen Fähigkeiten mancher psychisch isolierter Menschen.

Jetzt bin ich noch am Überlegen, inwieweit ein Bogen vom Autismus zum Solipsismus zu schlagen ist- auf alle Fälle ein zum Nachdenken anregender Text.

Alles Gute,

tschüß… Woltochinon

 

Philo,

ich war aufgrund Deines Hinweises in einem anderen Thread neugierig geworden und hatte die Geschichte zunächst ohne Deine Erklärung gelesen. Ich bin dann schnell auf die Idee gekommen, dass es sich um die Weltsicht eines Autisten handelt, allerdings konnte ich die Handlung nicht entschlüsseln. Die Geschichte gefällt mir wirklich sehr gut, weil sie leistet, was gute Geschichten manchmal zuwege bringen: Eine neue Perspektive eröffnen. Du hast eine Form gefunden, Gedanken auszudrücken, die quasi sub-verbal existieren. Das finde ich ziemlich beeindruckend.

Eine andere Interpretation hatte ich auch erwogen: Die Weltsicht einer künstlichen Intelligenz, obwohl hier das recht zentrale Konzept von "Schmerz" nicht dazu passt. In der KI hat man oft das Problem, dass Entscheidungen nach festgefügten Ontologien getroffen werden sollen. Treten Objekte auf, die nicht in das Schema passen, kann die KI extrem "irritiert" werden (so wie in Deinem Text). Ich finde es erstaunlich, wie "roboterhaft" ein Autist also vielleicht denkt und umgekehrt, wie "autistisch" eine KI sein kann.

 

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