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Engel in Babylon

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10.11.2002
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Engel in Babylon

Engel in Babylon

Jeder sieht, was du scheinst,
wenige fühlen was du bist.

Niccolo Machiavelli


Der letzte der ersten Träume

Eines Nachmittags, nachdem ich aus einem kurzen Nachmittagsschlaf aufgewacht war beschloss ich, nie wieder zu träumen. Ich hatte soeben geträumt, und einen Traum, der so leicht zu deuten ist, und der mir die Realität in so schmerzlicher Weise vor Augen führt wollte ich nie wieder haben. Es hat nicht funktioniert. Mein Traum, nie wieder träumen zu müssen, zerplatzte, aber der Traum von diesem Nachmittag kam seither nicht wieder. Deshalb bin ich mir nicht sicher, ob es unbedingt als schlecht zu beurteilen ist, dass ich gelegentlich wieder träumte, schließlich entsteht die Realität im gleichen Maße aus dem Traum, wie der Traum aus der Realität. Ich überlege, ob es der Traum allein war, der mich diesen Wunsch äußern ließ. Ich glaube er war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, der Auslöser, nicht aber der Grund. Vielmehr sehe ich den Grund meines Wunsches darin begründet, dass ich mir die Enttäuschung all der Träume, die nicht in Erfüllung gehen, fern halten wollte, und auch wenn der besagte Traum, kein Wunschtraum war, so beinhaltet er dennoch eine Enttäuschung, die weitaus tiefer geht, weil er eine Wahrheit enthält, die ich zwar kannte, die ich mir aber nie auf diese Weise vor Augen gehalten hatte. Da man immer nur über Dinge schreiben kann, die man selbst erlebt hat, werde ich beginnen, meine eigene Geschichte zu schreiben, nicht ohne das Wissen, dass auch andere Menschen sie lesen werden. Wie sehr ich sie kristallisiere, um das Licht in andere Bahnen zu rücken, weiß ich noch nicht. So wie der Traum eine Metapher war, die mir meine Situation verständlich machte, wird auch diese Geschichte eine Metapher auf mein Leben sein, um die Dinge in ein klareres Licht zu rücken. Das ist keine Biographie und kein Lebenslauf, und ich will mir nicht anmaßen, ein Interesse an den folgenden Seiten vorauszusetzen, denn die folgenden Seiten sollen mir selbst der rote Faden in meinem Labyrinth des Lebens sein, die mir zeigen woher ich komme, damit ich weiß, wohin ich gehen muss. Denn jeder Mensch hat einen Weg, den er gehen muss, ob er ihm gefällt, oder nicht, und der schwerste Weg, den ein Mensch gehen kann, ist der zu sich selbst.
Die meisten Menschen verbringen ihr Leben damit, auf Einflüsse von außen zu warten, die ihnen sagen, wer sie sind. Solche Menschen hängen sich an große Gruppen anderer Menschen, um ihre Identität durch das Zusammengehörigkeits-Gefühl zu den anderen zu definieren. Solche Menschen verlieben sich nicht, sie warten darauf, geliebt zu werden, um dann zurück zu lieben. Sie definieren sich durch ihren Partner. Menschen konstruieren Gruppen, um sich in ihnen behaupten zu können, weil sie ohne diese Rangordnung ihren Platz in der Welt nicht finden. So gibt ihnen die Schnelligkeit des Autos, die Höhe des Gehalts, das Label auf der Kleidung oder das gute Aussehen der Freundin Auskunft über ihren eigenen Wert. Aber Einflüsse von außen, entfernen uns nur von uns selbst. Das eigene ich muss aus uns selbst heraus neu geboren werden. Die meisten Menschen denken, sie seien als Menschen geboren worden, um sich unter den Menschen zu behaupten. Einige glauben, sie seien als Mensch geboren worden, um wieder Kind zu werden. Ich glaube, wir sind geboren, um Mensch zu werden. Wir alle suchen nach uns selbst, nur unterschiedlich stark, und viele wählen den äußeren Einfluss als roten Faden, um der inneren Konfrontation aus dem Weg zu gehen, denn den Blick in den Spiegel der eigenen Seele vertragen nur wenige.
Um aufrichtig zu mir selbst zu sein reicht es nicht aus, an dieser Stelle nur den besagten Traum in Worte zu fassen. Vielmehr muss ich mich bemühen, mir den Kontext wieder ins Gedächtnis zu rufen, der sich letztlich auch im Traum in verschlüsselter Form wiederfindet. Objektiv gesehen war die Zeitspanne, die ich hier aufgreife sicherlich nicht von langer Dauer, subjektiv hatte ich jedoch den Eindruck, als gehen die Uhren rückwärts. Das ist eigentlich recht ungewöhnlich, denn Zeiträume, in denen wenig passiert, kommen einem normalerweise während man sie erlebt sehr lange vor, im Nachhinein jedoch als sehr kurz, während Zeiträume in denen man viel erlebt an einem vorbei zu fliegen scheinen, aber dafür viel Stoff für Erinnerungen bieten, an die man sich lange erinnert. In meinem Fall kommt mir beides lange vor. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke kommt sie mir so lange vor. Jedoch erscheint mir das Erlebte unaussprechlich, und gerade deshalb möchte ich großen Wert darauf legen, es in Worte zu fassen. Ich weiß, dass ich damals morgens aufwachte, und mich fragte, was ich tun konnte, um den Tag so schnell wie möglich hinter mich zu bekommen. Meistens hieß die Antwort: schlafen! Das war für mich die einzige Möglichkeit, Zeit zu überbrücken, ohne dabei mir selbst und meiner Umwelt ausgesetzt zu sein. Ich koppelte mich ab, nahm nicht mehr wahr. Der Schlaf ist, so sagt man, der Bruder des Todes. Es gab keinen Tag, an dem ich mich nicht mit dem Tod auseinandersetzte, ich glaube auch heute gibt es solche Tage nicht. Der Tod war mir der einzige Ausweg, und dennoch dachte ich nicht an Selbstmord. Der Tod war keine Alternative, er war Trost. Nie hätte ich mir selbst das Leben genommen, denn ich spürte die Verantwortung gegenüber meiner Familie, gegenüber dem Leben und gegenüber mir selbst, dem Menschen der noch geboren werden musste. Ich dachte nur darüber nach, und das half bereits. Wenn ich mich nun frage, was einen Menschen dazu bringen kann, über Selbstmord nachzudenken, dann fallen mir tausend schlimme Dinge ein, die einem Menschen widerfahren sein können, um ihn soweit zu bringen. Aber nichts davon trifft auf mich zu. Es war nichts passiert, und vielleicht war es gerade das, was mich verzweifeln ließ, denn ich wollte etwas ändern und bewirken. Ab einem gewissen Punkt im Leben hatte ich verstanden und akzeptiert, dass die Welt mir nichts geben konnte, dass ich an ihr keine Bereicherung fand. Mit Welt meine ich, die Menschen, die auf ihr Leben. In gewisser Weise war ich stolz darauf, nicht dazu zu gehören, mich nicht zu dem dummen Publikum irgendwelcher TV-Shows zu rechnen, vom Leben mehr zu erwarten als eine genossene Jugend und gefeierte Parties, und ich sah mich ein wenig über dem Trubel des Erdenlebens stehen, sah ein wenig verächtlich auf Altersgenossen, die mir in meinen Augen um Jahre zurück waren. Und umso klarer mir diese Abgeschiedenheit wurde, umso mehr wünschte ich sie mir herbei, umso mehr provozierte ich sie, und sah in ihr mein erklärtes Ziel. Umso stolzer war ich deshalb auf diese Abgeschiedenheit, weil man in meinen Augen nur die Dinge verneinen kann, die man ebenso gut bejahen könnte. Eine Sache abzulehnen, die man selbst wenn man wollte nicht bekommen würde, ist Heuchelei, und ich dachte, dass ich durchaus in der Lage sei, mich anzupassen, dass meine Isolation freiwillig sei, und ich wenn ich es wollte, jederzeit aus ihr zurückkehren könnte, um von der Welt mit offenen Armen empfangen zu werden. Ich hatte mich also abgesondert, und es ging mir nicht schlecht dabei. Es gab nur eine Sache, die ich nicht tun wollte: Aus der Erkenntnis, das die Welt mir nichts geben konnte, den Umkehrschluss ziehen, dass auch ich der Welt nichts geben könne. Ich dachte, dass gerade die Menschen, die sich außerhalb einer Formation bewegen, Einfluss auf diese nehmen können. Ein japanisches Sprichwort lautet: Beim Go-Spiel sieht der Zuschauer mehr als der Spieler. Ich bildete mir ein, ich hätte nun die nötige Distanz, die Dinge zu beurteilen, und könne dazu beitragen die Dinge besser zu machen. Aber ich hatte mich geirrt. Ich spielte nicht den Weltverbesserer, und mir fallen keine konkreten Beispiele ein, die mein Scheitern zeigen. Ich bemerkte, wie sehr ich mich tatsächlich in der Isolation befand. Nicht nur die Welt konnte mir nichts geben, auch ich konnte der Welt nichts geben, die Währungen waren zu verschieden, ein Handel nicht möglich. Ich hatte den Eindruck, als sei die Welt ein vergifteter Brunnen, und als sei jedes Glas klares Wasser, dass ich in den Brunnen gieße dazu verdammt, auch Gift zu werden, und jeder Tropfen aus dem Brunnen, würde mein Glas Wasser in Gift verwandeln. Es war nicht so, dass ich das Gefühl hatte, das man mich nicht mochte. Ich bin nur eben so etwas wie ein Déja Vu für meine Umgebung. Man vergisst, dass ich da war, sobald ich den Raum verlasse. Sicherlich hätten die meisten Menschen Gutes über mich gesagt, wenn man sie nach mir gefragt hätte, aber ich wäre ihnen nicht eingefallen, wenn man sie nach guten Menschen gefragt hätte. Ich komme mir auch nicht ausgenutzt vor, aber ich frage mich oft, warum viele Menschen so gleichgültig gegen meine Gefühle sind. Natürlich maße ich mir nicht an, die Welt als vergiftetet Brunnen zu bezeichnen, das Beispiel soll nur verdeutlichen, dass ich einen Kompromiss zwischen der Welt und mir nicht erkennen konnte, und einen neuen Brunnen konnte ich alleine ja schlecht ausheben. Ich bereute meine Abgeschiedenheit nicht, aber sie schmerzte mich dennoch. Ich erkannte meinen Irrtum, dass die Isolation freiwilliger Natur sei, und ich sah hinter meinem Platz in der Welt keine eigene Entscheidung mehr, sondern eine Willkür, die ich nicht verstand, nenne man sie Schicksal, oder sonstwie.
So zogen sich die Tage, und ausgerechnet der Schlaf, der mich dem ganzen entkommen ließ, weckte mich wieder auf, als ich eines Tages diesen Traum hatte: Ich stehe in einem Hof, jedenfalls kommt es mir wie einer vor. Vor mir eine Wand, mit einem vergitterten Fenster darin, dass mich aber nicht an ein Gefängnis erinnert. Ich stehe ganz still, sehe mich im Traum jedoch nicht selbst, und beobachte die Wand und das Fenster, als plötzlich ein kleiner Junge hinter dem Fenster, also im Innern des Hauses auftaucht, sich ans Fenster stellt, und durch die Gitterstäbe schaut, die er mit seinen Händen umfasst. In diesem Moment kommt rechts neben mir ein Mann, er bleibt auf gleicher Höhe wie ich stehen, hebt den Arm in dem er eine Pistole hält, und schießt dem Jungen am Fenster durch den Hals. Der Mann verschwindet wieder aus meinem Blickfeld, und der Junge geht ebenfalls vom Fenster weg. Beide konnte ich nicht erkennen. Plötzlich befinde ich mich im Innern des Hauses, offensichtlich bin ich dem Jungen gefolgt, und nun erkenne ich, dass es sich um meinen Bruder handelt. Er telefoniert, und ohne etwas gehört zu haben weiß ich sofort, dass meine Mutter am anderen Ende der Leitung ist. Natürlich kann mein Bruder nicht sprechen, er wurde ja angeschossen, und so hält er mir den Hörer hin. Ich nehme den Hörer in die Hand und rede mit meiner Mutter, die nicht wissen darf, was meinem Bruder passiert ist, denn ich will sie nicht beunruhigen, und neben mir steht mein Bruder und erstickt. Ich würde ihn gern in den Arm nehmen, ihm irgendwie helfen, egal wie, aber ich kann nichts tun, ohne dass es meine Mutter merkt. Ich verzweifle, und würde am liebsten in Tränen ausbrechen, aber auch das geht nicht, denn meine Mutter darf mich nicht weinen hören, mein Bruder mich nicht weinen sehen. Ebenso wenig, wie ich verhindern konnte, dass man auf meinen Bruder schießt, kann ich nun dazu beitragen, einem der beiden mir am nächsten stehenden Menschen Leid abzunehmen. Ich hielt es bis dahin für ein Gerücht, dass man aus Albträumen schweißgebadet aufwacht, aber ich hatte unrecht. Ich glaube danach wollte ich nicht nur nie wieder träumen, ich wollte nie wieder schlafen.


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Die Verzweiflung schickt
uns Gott nicht, um uns zu töten, sondern
um neues Leben in uns zu wecken.

Hermann Hesse


Ein letzter Versuch

Mir war nun zwar bewusst geworden, dass es Dinge gab, die ich, so schmerzlich sie auch waren, nicht ändern konnte, doch half mir das nicht allzu viel. Im Gegenteil: Es machte die Sache noch schlimmer für mich. Ich konnte und wollte es nicht akzeptieren. Meine Vernunft rebellierte dagegen, so etwas wie Schicksal zu akzeptieren, denn ich wollte die Kontrolle und somit die Verantwortung über mein Leben nicht aus der Hand geben. Das ich das gar nicht zu tun brauchte, begriff ich damals noch nicht. Was mich so sehr deprimierte war ja nicht die Verantwortung über mein eigenes Leben, sondern die Tatsache, dass es mir nicht möglich war, anderen Menschen ihre Last abzunehmen, dass ich der Welt nichts geben konnte. An meiner seelischen Verfassung hatte sich nicht viel geändert, ich hatte jedoch den Mut gefunden, mich mir selbst zu stellen. Da man sich keinen wirklichen Rat für den Weg zu sich selbst bei anderen Menschen holen kann, und da ich auch nicht gewusst hätte, was ich fragen soll, wendete ich mich an die besten Ratgeber, die es gibt: Bücher. Wer tief genug in sie hinein sieht, wird die Dinge wiedererkennen, die er selbst in sich trägt. Auch sie enthalten keine Anweisung oder Wegbeschreibung, in den meisten Fällen enthalten auch gute Bücher nicht mehr als eine gute Geschichte, eine gute Idee. In manchen Fällen jedoch können sie einem mehr Hoffnung geben, als irgendwer sonst. Mein Leben lang hatte ich mich alleine gefühlt. Freunde kamen und gingen, man traf und trennte sich, aber einsam fühlte ich mich meist dann, wenn ich von Freunden umgeben war, denn insgeheim wusste ich, dass wir in anderen Welten lebten, dass das Leben anderes für uns bereit hielt. So wartete ich ohne es eigentlich zu wissen darauf, einen wie mich zu finden. Zu sehen, dass ich kein Zufall bin, meine Gedanken keine Einbildung. Und wie es immer ist, findet man was man sucht, wenn man nicht mal mehr daran denkt, und zu dem Zeitpunkt, da man es am besten brauchen kann. Murphys Law funktioniert eben auch anders herum. Ich fand meine eigene, innere Welt und Verzweiflung in einem Buch so präzise beschrieben, dass ich schon so oft im Bücherregal hatte stehen sehen. Beim lesen des Titels „Der Steppenwolf“ dachte ich mir jedes Mal , dass der darin beschriebene Charakter dem meinem vielleicht ein wenig ähnle. Vielleicht habe ich mit dem Kauf solange gewartet, weil ich angst davor hatte, dass ich mich irre. Aber ich irrte nicht. In dem Buch fand ich mich selbst, meine Gedanken standen hier schwarz auf weiß auf eine Weise formuliert, wie ich sie selbst nie in Worte fassen könnte. Ich glaubte beim Lesen darin zu versinken, und sah: Auch ich war ein Steppenwolf. Ich wusste, dass Menschen wie ich nicht nur jetzt und heute, sondern schon immer und in alle Zeit einen Kampf zu bestehen haben, und zu wissen, dass bereits vor mir einer diesen Weg gegangen war, bestätigt mich in meinem Dasein.
Aber bevor aus diesen gesammelten Eindrücken eine wirkliche Erkenntnis in mir reifen konnte, sollte ich noch von einer anderen Seite beeinflusst werden. Anstatt mich dem Schlaf hinzugeben, widmete ich von fort an den größten Teil meiner Zeit der Literatur. Ich durchstöberte Büchereien und Buchhandlungen, versuchte mich daran, große Gedanken nachzudenken, erkannte mein Interesse an der japanischen Philosophie der Samurai, Bushido, und holte langsam auf meine eigene Weise die Bildung nach, die während meiner Schulzeit nie zu mir durchdringen konnte. Denn auch Wissen, oder was man Bildung nennt (noch lieber: Allgemeinbildung – was man zu wissen hat!), muss aus einem selbst heraus erfragt werden. Man muss von selbst erkennen, wohin die Neigungen und Wünsche einen treiben, so erkennt man selbst wo man Lücken zu füllen, wo man Nachholbedarf hat. Menschen sind nicht konform. Die Schule hat den Zweck, Neigungen zu unterdrücken, in ihre Schranken zu weisen, gemäß dem Lehrplan, der Ordnung. Für Freidenker ist kein Platz, denn nicht die Antwort ist richtig, die aus einer Erkenntnis reift, sondern die, die bereits all die Jahre zuvor gegeben wurde. Nicht die Meinung zählt, die hinter die Kulissen blickt, sondern die, die alles beim Alten belässt, die sagt: alles ist gut wie es ist. Und viele starke Charaktere werden in der Schule gebrochen, da sie zu notorischen Versagern abgestempelt werden, und man ihnen bereits im Kindesalter eintrichtert, dass der, der in der Schule versagt, sein Leben lang ein Versager bleiben wird. Wenn ich zurückdenke an meine Klassenkameraden frühester Kindheit, an die Nachbarskinder und Spielkameraden. Wenn ich ihnen heute begegne und sie mich nicht erkennen, und ich ihnen in die Augen sehe: Sie haben es geschluckt. Sie sind Schafe die mit der Herde rennen. Nicht nur die Schule hat sie zu dem gemacht, auch ihre Umgebung. Schwere Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, dass man sie immer wieder treffen muss. Der Weg zu sich selbst, da muss man sich jeden Tag neu entscheiden, den Fuß aufs neue ein Stück vor zu setzen, entgegen dem Strom. Die Liebe. Zu seinem Partner muss man sich immer aufs neue bekennen, die Liebe jeden Tag erneuern und an ihr arbeiten. Das ist auch kein einmaliges Versprechen, bis dass der Tod uns scheidet. Und was das angeht: Wer soll da die Kraft finden, durchzuhalten, wenn ihm bereits als Folge des ersten, kleinen Schrittes mit ewiger Verbannung gedroht wird? Sie werden den Weg der meisten gehen, ohne den anderen auch nur gekostet zu haben. Aber ich merke, ich schweife ab. Bevor ich all die Eindrücke, die ich zu dieser Zeit sammelte, verarbeiten konnte, lernte ich Aline kennen.
Vielmehr: Sie lernte mich kennen, denn wir begegneten uns zu einem Zeitpunkt, da ich auf den Umgang mit anderen Menschen wenig Wert legte, geschweige denn darauf, neue Menschen kennen zu lernen. Ich signalisierte jedem, dass ich es nicht wünschte, angesprochen zu werden, durch meine Bewegungen, meine Mimik, mein gesamtes Auftreten ließ daran keinen Zweifel aufkommen. Die Enttäuschung aus meinem Versuch, den Menschen etwas zu geben, wenn schon sie mir nichts geben konnten, wollte ich mir in Zukunft ersparen. Ich hatte lange genug versucht, ein guter Mensch zu sein, hatte mich für andere aufgeopfert, Dinge schweigend in Kauf genommen und dennoch immer wieder meine Hilfe angeboten. Ich hatte gesehen, dass guten Menschen, und als solchen sah ich mich, dass Leben nicht leicht gemacht wird. Martin Heidegger hat gesagt: Wir begehren, was vor uns zurückweicht. Darin hat er recht, denn wer den Menschen signalisiert, dass er ohne sie besser dran ist, erntet ihre Bemühungen. Doch wollte ich lieber verdammt, ausgestoßen, angespuckt und gekreuzigt sein, als so zu werden wie der Rest, und bei mir klappte es ja auch, mich ließ man in Ruhe. Und als ich eines Tages in der Bibliothek in einer dunklen Ecke saß, ein Buch in der Hand, das ich nicht wirklich las, weil ich in Gedanken versunken war, fragte mich eine junge Frau, die ich nicht hatte kommen sehen, obwohl sie bereits längere Zeit am Bücherregal vor mir gestanden hatte, ob ich ihr helfen könne ein bestimmtes Buch zu finden. Meine einzige Erklärung dafür, dass sie mich das fragte war zu diesem Zeitpunkt, dass ich in meiner Versunkenheit für einen Augenblick meine ernste Miene abgelegt hatte, sonst hätte sie mich das wahrscheinlich nicht gefragt. Ich legte das Buch, das ich las beiseite, und stand auf. „Welches Buch suchen sie?“ fragte ich sie, und sie antwortete: „Es hatte die Nummer CW2510.“ Ich stellte mich vor das Regal, in dem auch sie bereits vorher nach demselben gesucht hatte, und nachdem ich mich eine Weile vergeblich darum bemüht hatte, es zu finden fragte ich sie, was für ein Buch es sei, das sie sucht. „Ein Buch über Atlantis.“ Sagte sie, und dann lächelte sie ein wenig verlegen, und auf eine Weise, die ich nicht vergessen könnte, selbst wenn ich es wollte. Sie hatte langes, pechschwarzes Haar, braune, große Augen, und wenn ich auch nur das geringste Talent dazu hätte, hätte ich sie irgendwann später, als wir uns besser kennen lernten, darum gebeten, sie zeichnen zu dürfen. Ich sah in das Bücherregal, und sogleich fiel mein Blick auf ein kleines Buch, zwischen zwei etwas dickeren Büchern, dass nicht an seinem Platz stand, dass jedoch die richtige Nummer hatte, die die junge Frau mir gesagt hatte. Ich nahm es heraus, las den Titel des Buches und gab es ihr. „Atlantis“ sagte ich, „Ich wusste gar nicht, dass es Bücher darüber gibt.“ Sie besah den Einband des Buches. „Doch, die gibt es. Nur weiß leider niemand so recht, was die Wahrheit ist, und ob es überhaupt eine gibt.“ „Na dann ist das ja so ähnlich wie mit Gott.“ Sie sah mich an, und diesmal wurde ich ein wenig verlegen. Sie lächelte mich an, schaute dann zu Boden, und lächelte mich wieder an. Ich sah ihr in die Augen – ich glaube nicht, dass ich ebenfalls lächelte. „Naja, danke, dass sie mir geholfen haben, dass Buch zu finden. Ich muss dann los.“ „Ja, keine Ursache.“ Wir sahen uns noch einen Moment an, dann ging ich an meinen Platz zurück. „Was ist das eigentlich für ein Buch, das sie da lesen?“ fragte sie mich. Sie stand noch dort, wo sie eben gestanden hatte. „Ach das...“ ich dreht das Buch um. „Es ist ein japanisches Buch. Zu Deutsch heißt es ‚Hinter den Blättern’“ Sie kam zu mir, und nahm das Buch in die Hand. „Hagakure... ist es gut?“ „Mir... also. Mir hat es sehr gut gefallen. Ich habe es schon sehr oft gelesen.“ „Wovon handelt es?“ „Es hat eigentlich keine richtige Geschichte, es ist mehr so etwas wie ein Leitfaden. Der Mann der es geschrieben hat war ein japanischer Samurai. Er hat es diktiert, als er bereits sehr alt war.“ Sie stellte ihre Tasche neben dem Tisch, an dem ich saß ab, setzte sich, und begann in dem Buch zu blättern. Sie las: „Das einzige was zählt ist der Augenblick. Das ganze Leben eines Menschen ist eine Abfolge von Augenblicken. Wenn jemand die Bedeutung der Gegenwart versteht, dann gibt es für ihn nichts anderes mehr, und keine anderen Ziele. Widme deshalb dein Leben der Gegenwart.“ Sie blätterte noch ein wenig darin herum, las aber nichts mehr daraus vor. „Wissen sie“ sagte ich, „was mich so sehr daran fasziniert ist, dass es Krieger waren die das geschaffen haben. Niemand hätte mehr von ihnen erwartet, als Krieger zu sein, aber sie wussten, dass es da mehr geben musste, dass das nicht alles war. So schufen sie sich ihren eigenen Verhaltenskodex, der in diesem Buch beschrieben wird. So wurden aus Kriegern, Kriegerpoeten.“ „Was mich so sehr an der Stadt Atlantis begeistert ist, dass sie das Zentrum der Kultur gewesen sein soll. Die Hochburg der Bildung, der Architektur, der Zivilisation. Aber wie alles andere auch, war sie dazu verdammt, unterzugehen.“ Sie lächelte mich an, als würde sie sich selbst nicht wirklich ernst nehmen, dann schlug sie laut mein Buch zu, und gab es mir zurück. „Daraus lässt sich schließen, dass in allem Guten, das man beginnt, das schlechte Ende bereits enthalten ist“ sagte ich. „Ja, aber das ist nicht, was die Menschen sehen wollen. Sie müssen sich die Welt in gut und böse aufteilen, in schlecht und recht, in moralisch und unmoralisch, und sie erkennen nicht, dass man das unmöglich trennen kann. Sie sammeln alles Gute das sie kennen, und nennen es Gott, und alles Schlechte den Teufel. Aber das ist nicht, was aus ihnen selbst heraus kommt, sondern der Zeitgeist. Gesetz und Moral sind dem stetigen Wandel unterworfen, was heute gut ist, kann bereits morgen schlecht sein, und wofür man gestern einen Orden an die Brust geheftet bekam, muss man morgen ins Gefängnis. Auch Gott ist diesem Wandel unterworfen. Die Menschen, die Gott in ihrem Geist geschaffen haben, empfanden andere Dinge als richtig, als die, die weiter an ihn geglaubt haben. Der erste Gott ist lange tot, der erste brachte den zweiten hervor, der zweite den dritten. Die Religion des einzig wahren Gottes ist nichts als eine polytheistische Evolution. Ohne eine solche Aufteilung der Welt wüssten die Menschen nicht, woran sie glauben sollen, weil sie nicht gelernt haben, auf ihre eigene Stimme zu hören. Das Böse und das Gute kann man nicht trennen, beide sind eigentlich eins. Das eine kann nicht ohne das andere existieren, sie entstehen auseinander, und enthalten sich gegenseitig. Deshalb kann man auch nicht sagen: Ich glaube an Gott, und nur an das Gute, und dabei leichtfertig vor allem Schlechten die Augen verschließen, und so tun, als wäre es gar nicht da.“ „Und daher deine Faszination für Atlantis?“ fragte ich. „Nein, die kommt daher, dass ich dich ja irgendetwas fragen musste, um mit dir ins Gespräch zu kommen, und da du offensichtlich nicht mit mir sprechen wolltest, fragte ich dich nach einem Buch. Offensichtlich bist du Büchern weniger abgeneigt als Menschen.“ „Wie kannst du mir ansehen, dass ich nicht mit anderen Menschen sprechen möchte, und mich dann doch dazu bringen, es zu tun?“ „Ich glaube, du hast viel mit Büchern zu tun, und sie sind dir wichtig. Und ich glaube, du hast die Gabe, sie zu durchschauen, und ihnen das abzugewinnen, was eine Bereicherung für dich ist, und du erkennst worauf man hinauswill. Wenn du dich selbst nicht in einem Buch wiedererkennst, beginnst du wahrscheinlich schnell dich zu langweilen, und du wirst es trotzdem zu Ende lesen, weil du die Hoffnung auf einen einzigen Satz auf tausend Seiten hast, der dir aus der Seele spricht. Und so wie du dir ein Hobby daraus gemacht hast, Bücher zu studieren, habe ich mir eins daraus gemacht, Menschen zu beobachten und zu studieren, in ihnen zu lesen, und auch dann mit ihnen umzugehen, wenn sie mich eigentlich langweilen. Und deshalb habe ich gesehen, dass dein Wunsch, nicht mit den Menschen zu reden, und dich am liebsten ganz von der Außenwelt abzuschotten gar kein eigentlicher Wunsch war, sondern eigentlich eine Angst davor, in den Menschen nicht diesen einen Satz auf tausend Seiten zu finden, auf den du in deinen Büchern so geduldig warten kannst. Aber eigentlich hast auch du die Hoffnung noch nicht aufgegeben, du willst zwar nicht, dass man dir die Hand reicht, aber wenn man es doch tut, bist du dankbar dafür, und nimmst sie gerne an. Deshalb werde ich dir nun meine Hand reichen, und ich hoffe, dass du sie annimmst, denn ich glaube wir zwei sind einander sehr ähnlich, wenn auch verschieden.“ Wir gaben einander die Hand, und bereits jetzt hatte ich alles vergessen, worüber sie noch zuvor so ernst und so wahr gesprochen hatte. Denn in allem Anfang ist auch das Ende bereits enthalten. Aber hier war es so, wie sie es sagte. Ich bekam die Hand gereicht, und so sehr ich die Abgeschiedenheit von der Welt gewünscht hatte, so sehr war ich nun in der Lage, mich auf diesen einen Menschen zu fixieren, und mein Schicksal von ihrem abhängig zu machen, so wenig ich sie auch kannte. Ich verstand nach wie vor nicht, warum sie mich angesprochen hatte, aber ich konnte mir kaum etwas vorstellen was schlimmer gewesen wäre, als die Begegnung mit ihr aus meinem Leben streichen zu müssen. Ich verliebte mich nicht gleich in sie, aber mir war von Beginn an klar, dass ich mich früher oder später in sie verlieben würde. Die Zeit die folgte fand für mich wieder außerhalb jeder nachvollziehbaren Ordnung statt, da sich in der Zeit, die ich mit Aline verbrachte, alle Probleme und Gedanken von mir meilenweit entfernten, und sich mein ganzes Sein auf sie und mich fixierte, und in den Momenten, in denen ich dann wieder alleine war, kehrte das alles zurück. Bei meiner jetzigen Betrachtungsweise fällt mir auf, wie sehr Trauer, Angst und Hoffnung zusammen hängen, und wie sie einen Kreislauf bilden, der den Verstand verwirrt. Wenn Trauer die Flucht in die Vergangenheit ist, ist Hoffnung die Flucht ins Morgen. Der, der seine Hoffnung und Trauer überwindet, wird auch die Angst überwinden. In diesem Lebensabschnitt jedoch, hoffte ich noch auf alles. Wenn es mir gelänge, Aline für mich zu gewinnen, so würden sich alle Probleme in Staub auflösen, denn was bedeutet mir die Welt, wenn mir das Universum gehört. Mein Außenseiterdasein wurde nebensächlich, meine Abgeschiedenheit wurde egal, denn wir beide ergänzten uns auf eine so harmonische Weise, dass Zeit für mich nicht existierte wenn wir zusammen waren. Wir trafen uns noch oft, nach diesem Tag in der Bibliothek, und wenn ich im Nachhinein ein Wort finden müsste, dass ihr Wesen beschreibt, so würde ich „Unschuld“ wählen. Ihr Wesen wiedersprach der Welt, wie ich sie kannte. Ihr Lachen war das reinste das ich je gehört habe, darin war kein Anflug von Spott, Heuchelei, Gehässigkeit oder Schadenfreude, und oft bemerkte sie selbst gar nicht, wie ihr beim Lachen die Tränen kamen, und langsam ihre Wange herunterliefen. Sie war naiv auf eine kindliche Weise. Die Dinge, die sie nicht verstehen konnte, waren die Dinge, die ich mich zu verstehen weigerte. Sie schien wie über der Erde zu schweben. Und obwohl sie für mich das Gegenteil all dessen war, was ich an der Welt verabscheute, in die ich einfach nicht passte, bewegte sie sich in ihr so leichtfüßig wie eine Eistänzerin. Die Gepflogenheiten dieser Welt schienen ihr selbstverständlich, sie war kein Stein des Anstoßes, niemanden kenne ich, der sie nicht mochte, oder ihr böses gewollt hätte. Überall bekam sie ein Lächeln geschenkt, ein paar nette Worte mit auf den Weg gegeben. Und dennoch, auch sie machte diese Welt nicht glücklich, denn jede Eisprinzessin weiß, dass der Untergrund auf dem sie sich bewegt nicht ihr natürliches Terrain ist, auch wenn sie es so glänzend beherrscht, und dass sie eines Tages stürzen wird, wenn sie das Eis nicht rechtzeitig verlässt. Ich machte den Fehler, aus der Tatsache, dass sie nicht so war, wie der Rest der Welt, den Schluss zu ziehen, dass sie wie ich war, und andere Alternativen zog ich nicht in Betracht dabei. Meine Liebe zu ihr wuchs und wuchs, und dennoch war ich noch nicht verliebt in sie. Natürlich glaubte ich felsenfest, dass ich sie liebte, und dass tat ich auch auf eine unbestimmte Weise, nur eben nicht auf die, wie man lieben sollte. Ich liebte, und dachte, die Liebe sei nur produktiv, solange sie erwidert wird, und da ich spürte, dass es nicht so war, machte sie mich sehr unglücklich. Aber wenn man auf diese Weise liebt, wird es kein gutes Ende nehmen, weil man eigentlich nicht erkannt hat, worum es geht (man möge mir Verallgemeinerungen verzeihen, ich beziehe von fortan alles nur auf mich selbst). Der Ursprung einer falschen und richtigen Liebe, wenn man sie so nennen kann, denn eigentlich ist Liebe nie etwas falsches, ist eigentlich derselbe: Die Faszination für einen Menschen. Worin die besteht, ist vollkommen unterschiedlich, dass muss jeder Mensch selbst erfahren. Aber bereits in diesem Anfangsstadium des Verliebens entscheidet sich etwas grundlegendes: ob man um seiner selbst willen liebt, oder ob die Liebe die tatsächliche Liebe zu diesem anderen Menschen ist. Ich liebte anfangs nur um meiner selbst Willen, und auch wenn sich das hier so anhört, so ist es doch nicht als so negativ zu verstehen, wie man zunächst meint. Einen anderen Menschen um seiner selbst willen lieben bedeutet, die Liebe des anderen Menschen als Antwort zu benötigen, um die eigene Liebe zu rechtfertigen (was bei mir nicht der Fall war) und um sich selbst darin zu bestätigen, von einem Menschen geliebt zu werden, dessen „Meinung“ einem so wichtig ist. (was bei mir der Fall war). Diese Liebe ist auf Hoffnung und Erwartung begründet, was nie gut ist, denn Liebe sollte selbstlos sein. Ist sie das nicht, kann man sie ebenso berechnen, wie eine wirtschaftliche Kennziffer (jedem feinfühligen Menschen wird sich bei diesem Gedanken etwas in seinem inneren zusammenziehen), indem man zum Beispiel Input und Output einander gegenüber stellt. Diese Liebe bindet uns an den anderen Menschen, und, was verheerend sein kann, an unsere Hoffnung und Erwartung, und sie erstickt einen, und fesselt. Aber wahre Liebe macht frei, weil sie selbstlos ist. Die erste Art der Liebe habe ich kennen gelernt, und ob ich mich in dem Stadium der zweiten Form befinde weiß ich nicht. Ich glaube, wenn ich sicher wüsste, dass es so wäre, würde ich es hier nicht hinschreiben. Aber man muss das zweite Stadium nicht kennen gelernt haben, um zu wissen, dass es existiert. Vielleicht, und bei näherer Betrachtungsweise bin ich mir dessen fast sicher, kann man diese beiden Arten nicht trennen, da sie auseinander hervorgehen, da Liebe sich entwickelt. Und ganz im ernst: ich glaube kein Mensch war je verliebt, ohne das geringste zu erwarten und zu hoffen. Man mag mich als Romantiker beschimpfen, wenn ich das sage (und als solchen sehe ich mich, zumindest was das poetische angeht, keineswegs), aber Liebesschmerz ist süßer Schmerz. Ist der seelische Zustand eines Menschen ein Thermometer, und befindet er sich, egal bei welcher Form des Schmerzes an einem Minuspol, so führt ihn eine Neutralisation desselben in die Mitte des Thermometers, 0°C. Bei dem Liebesschmerz führt er einen vom einen Ende des Thermometers zum gegenüberliegenden, die Erlösung verspricht Glück, und es ist immer zum Greifen nahe. Aber alles, was ich hier schreibe, wusste ich damals noch nicht, und vielleicht werde ich alle hier beschriebenen Gedanken bereits morgen verworfen und durch neue ersetzt haben. Jedem Leser müsste mittlerweile klar geworden sein, dass meine Liebe zu Aline in einer Enttäuschung enden musste. Mir selbst wurde erst sehr viel später klar, wie sehr sie dazu beitrug, neues Leben in mir zu wecken, weil sie mir meinen Weg erkennen half. Bereits öfters hatte ich versucht, es auf eine Aussprache mit ihr ankommen zu lassen, um zu erfahren, ob sie die Grenzen zwischen Liebe und Freundschaft ebenso verschwimmen sah wie ich. Da es anfangs zu keiner Aussprache kam, wusste ich es nicht mit Gewissheit, aber sie signalisierte mir immer wieder, das sie die Grenzen in aller Schärfe sah, und die Grenzen sehr wohl kannte. Die Situation zog sich für mich noch einige Tage und Wochen hin, bis ich selbst es nicht mehr aushielt. Ich hatte mir bereits vorgenommen, eine Aussprache ganz sein zu lassen, da ich die Antwort ja ohnehin zu kennen dachte. Da es in meinem Leben nun langsam anstand, mich für einen Beruf zu entscheiden, und da meine Wahl auf einen gefallen war, der ein geregeltes „Familienleben“ ohnehin unmöglich machte, wollte ich mich der Angelegenheit auf diese Weise entziehen. Ich dachte ich könnte ihrer Abweisung entgehen, indem ich daraus im Kopf eine berufliche Konsequenz machte. Ich erkannte selbst, dass das nicht der richtige Weg sein konnte, dass mein beruflicher Weg auf diese Art zu einer Flucht würde. Aber man muss sich seinen Ängsten stellen, um sie zu bewältigen, und so bat ich sie, sich an einem bestimmten Tag mit mir an dem Ort zu treffen, an dem wir uns kennen gelernt hatten. Sie kam zum verabredetem Zeitpunkt, und fand mich an demselben Tisch sitzend, an dem ich auch bei unserer ersten Begegnung gesessen hatte. Sie kam an den Tisch und setzte sich. „Ich weiß, weswegen du mit mir reden willst.“ Sagte sie. „Ich weiß, dass du es weißt.“ Sie lächelte. „Weißt du“ sagte sie, „du hast einen Sinn für Situationen. Du weißt, welche Situationen bestimmte Gefühle in Menschen wecken können. Und in diesem Moment spüre ich einen Hauch von Abschied-Nehmen. Spürst du es auch? Du scheinst erkannt zu haben, auch wenn du dir dessen nicht bewusst bist, dass alles eine gemeinsame Quelle hat, zu der die Dinge wieder zurück fließen, und deshalb hast du denselben Ort für das Ende eines Abschnitts deines Lebens ausgesucht, an dem er begonnen hat. An diesem Ort, und in diesem Moment endet nicht unsere Freundschaft, sondern nur dein Versuch, deinem Schicksal erneut zu entfliehen. Gerade in dem Moment, da du eine Abgeschiedenheit begriffen hattest, und du dich innerlich noch dagegen sträubtest sie wirklich anzuerkennen, klammertest du dich an mich, und hofftest, einen anderen Weg einschlagen zu können, als den zu dir selbst. Du hast nun selbst erkannt, dass das nicht unser Weg ist, deshalb hast du mich hierher bestellt. Ich hoffe dass du weißt, dass meine Ablehnung nicht böse gemeint ist. Es stimmt, dass wir uns in vielen Dingen ähnlich sind, aber wir sind wie zwei Parallelen in einem Universum aus Chaos, wir können einen Teil des Weges nebeneinander gehen, aber wir können uns nie treffen. Gewissermaßen sind wir gegenüberliegende Pole, du und ich, und vielleicht verstehen wir uns gerade deswegen so gut, weil wir in zwei verschiedenen Welten leben, aber jeder eigentlich die Welt des anderen in sich spürt. Manche Dinge muss man nicht gesehen haben, um zu spüren, dass es sie gibt.“ Sie sagte mir nichts, von dem ich nicht bereits vorher gewusst hatte, dass es die Wahrheit war, aber manchmal muss man die Dinge aussprechen, um sie zu verarbeiten. „Ich liebe dich“ sagte ich.


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Ich treibe wie eine Woge auf dem Ozean,
ich wehe so ziellos wie der Wind.

Lao Tse


Der Weg

Aline hat Recht behalten, als sie sagte, sie spüre einen Hauch von Abschied-nehmen. Wir haben uns seit diesem Tag nicht mehr so häufig getroffen wie zuvor, sind aber trotzdem gute Freunde geblieben. Viel hat sich verändert seit diesem Tag, und doch ist alles irgendwie beim Alten geblieben. Auch ich habe mich geändert, und auch wieder nicht, habe ein wenig mehr zu mir selbst gefunden, ein oder zwei Hüllen sind von mir abgefallen und Taue, die mich ans Festland ketteten, haben sich wie von Geisterhand gelöst. Es ist wahr, dass man der Vergangenheit nicht nachtrauern darf, aber man sollte sie trotzdem kennen und verarbeiten, und nicht unbewältigt hinter sich lassen. Wenn ich an meine Vergangenheit denke fällt mir auf, wie wenig ich sie wirklich beeinflusst habe. Selbst schwerwiegende Entscheidungen sind mir immer leicht gefallen, da sie nicht entschieden wurden, sondern passiert sind. Irgendwie hat mich jeder Schritt den ich getan habe, dem nächsten entgegengetragen, der eine Tag ergab den anderen, und ich ergab mich in mein Leben, in die Ansammlung aller Tage. Ich bemerkte, dass nicht ich mein Leben, sondern dass mein Leben mich geschaffen hat. Nichts was mir passiert ist würde ich als Zufall bezeichnen, aber ich würde auch nichts Berechnung nennen. Die Dinge sind einfach passiert, und es gab nichts, was ich daran hätte ändern können. Und so kann ich auch nichts an meiner Zukunft ändern, da ich sie nicht kenne. Ich kann zwar frei entscheiden, aber da ich nicht weiß, wo es mich hinführt ist eben doch alles Schicksal. Was man leicht als Resignation verstehen könnte, ist keine, denn Schicksal ist Freiheit. Alles was ich in meinem Leben getan habe und alles was mir passiert ist hat mich diesem Punkt entgegengetragen, an dem ich jetzt stehe, hat mich geformt und zu dem gemacht, der ich heute bin. Lange habe ich gespürt, dass es etwas geben muss, für das es sich zu leben lohnt, ohne wirklich zu wissen, was es ist. Für jede Enttäuschung, die ich erfahren habe, bin ich heute gewissermaßen dankbar, da sie mir gezeigt haben, dass ich meinen Weg nicht in der Welt suchen darf, sondern nur in mir selbst. Es heißt, Selbsterkenntnis sei der erste Schritt zur Besserung. Somit habe ich den ersten Schritt getan, aber noch viele weitere müssen folgen. Und daher wieder dieser Hauch von Abschied-nehmen. Wenn man etwas neues wagen will, muss man etwas altes dafür zurücklassen. Wer eine neue Welt entdecken will muss eine Heimat verlassen. Da ich zu mir selbst finden will, muss ich die Menschen verlassen, denn man kann nicht gleichzeitig in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein. Jeder Mensch hat Träume und Wünsche, die er erfüllen mag, und es ist gut, dass er die hat. Nur sollte man zu erkennen versuchen, ob einem diese Wünsche von außen eingegeben werden, oder ob sie aus einem selbst heraus kommen. Jeder Mensch hat eine Stimme in sich, die zu einem redet. Sie ist wie ein Fluss in einem Wald, an dem man entlang läuft. Mal ist man näher an seinem Ufer, mal etwas tiefer im Wald. Dieser Fluss ist diese Stimme, die uns leitet und uns führt, aber viele Menschen entfernen sich so weit von diesem Fluss, dass sie ihn nicht einmal mehr rauschen hören, und sie verirren sich im Wald. Bald darauf werden sie vergessen haben, dass es den Fluss überhaupt gibt. Viele Menschen mühen sich, den Sinn des Lebens zu finden oder zu erkennen, und auch ich habe das getan. Die Suche nach sich selbst ist ein Weg, auf dem man sich zwar immer näher kommt, aber sein Ziel nie erreicht, die Suche nach dem Sinn des Lebens jedoch ist ein Weg, auf dem man nicht einmal den ersten Schritt tun kann. Man kann sich zwar vornehmen los zu gehen, aber wohin soll man den ersten Schritt setzen? Wo suchen? Nachdem ich erkannt hatte, das ich den Sinn des Lebens unmöglich finden kann gab ich die Suche nach ihm auf, und kurze Zeit später wurde mir klar, was er sein könnte. Alles in allem lässt er sich in fünf Worten beschreiben: „The survival of the fittest. Das Überleben des Angepasstesten.“ Charles Darwin bekräftigte mit diesen Worten seine Theorie über die Entstehung der Arten. Wenn das menschliche Leben eine Gleichung ist, und man alle Unsinnigkeiten und Banalitäten wegkürzt, so bleiben diese fünf Worte stehen, die allem was wir tun einen Sinn geben. Freier Wille ist eine Illusion, der Körper schüttet Hormone aus, die unser Denken beeinflussen, die uns sagen wen wir mögen und wen nicht. Unsere Gene bestimmen wie wir aussehen, ob wir intelligent sind, die Größe oder Leistungsfähigkeit unseres Gehirns gibt Auskunft über unser Sozialverhalten, unsere Begabungen und Interessen. Unbewusst laufen in unserem Körper ununterbrochen Programme ab, die von der Umwelt ausgelöst werden. Meist erkennen wir sie nicht einmal, und trotzdem beeinflussen sie unser Handeln ungemein. Alles läuft auf die Übergabe der Gene hinaus, darauf, dass wir uns fortpflanzen, unsere Spezies am Leben erhalten. Und dabei sind wir so dumm und so ahnungslos wie ein Puzzleteil, dass nicht einmal ansatzweise erahnen kann, was für eine Rolle es für das Gesamtwerk spielt. Wenn man einen Bienenstock in ein Kühlhaus stellt, werden sich sofort alle Bienen um die Königin scharen, und einen dicken Mantel um sie bilden, um sie vor der Kälte zu schützen. Die äußeren Bienen werden natürlich erfrieren, aber sie tun es, weil es die einzige Möglichkeit ist, den Bienenstock am Leben zu erhalten. Das ist kein freier Wille, das ist ein Programm, ein Überlebensinstinkt der abgerufen und, wahrscheinlich automatisch, ausgeführt wird. Menschen sind da etwas komplizierter. In einem Versuch mit Kleinkindern und Schimpansen sollte herausgefunden werden, inwiefern sich das auf Nachahmung basierende Lernverhalten der Affen von dem der Menschen unterscheidet. Nachdem ein Wissenschaftler mit einem bestimmten Gegenstand eine Tätigkeit ausgeführt hatte wurde derselbe dem Kind bzw. dem Affen gegeben, um zu sehen, wie dieser damit verfährt. Es gab in dem Verhalten keinen Unterschied, bis auf einen einzigen: Der Affe ahmte nur die Verhaltensweisen nach, die für ihn von Nutzen waren. Der Mensch hingegen ahmte jede Tätigkeit nach, egal um was für einen Unsinn es sich handelte. All diese unsinnigen Verhaltensweisen müssten aus der Gleichung des menschlichen Lebens gestrichen werden, um zu unseren fünf Worten zu gelangen: The survival of the fittest. Der Sinn des Lebens wäre damit für mich erklärt, nicht jedoch mein Leben, mein Weg. Die meisten Menschen beschäftigen sich ihr Leben lang nur mit diesem banalen Restwert, sie verlängern die Formel bis ins unendliche, verfahren aber in Wahrheit auch nur nach dem Kern des Programms. Aber manche Menschen wollen mehr. Sie wissen von dieser einen Variablen, die in der Formel versteckt ist, diese eine Variable die bei jedem Menschen anders ist. Sie wissen dass sie zufrieden damit sein könnten, Krieger zu sein, dass niemand mehr von ihnen erwartet, aber sie streben nach dem Kriegerpoeten.
Und solch ein Mensch bin auch ich. Vielleicht irre ich mich, vielleicht existiert diese eine Variable gar nicht, vielleicht gibt es diesen Fluss nicht, diese innere Stimme. Aber ich glaube fest daran, und was ist ein Mensch ohne Glauben? Ich habe vorhin geschrieben, dass der, der eine neue Welt entdecken will, eine Heimat dafür verlassen muss. Das tue ich auch, um meine Formel ein wenig mehr kürzen zu können, und um diese eine, für mich so wichtige Variable leichter erkennen zu können, die so weit entfernt ist vom Trubel des Erdenlebens. Was ich eben über die Krieger und die Kriegerpoeten geschrieben habe, war ein Vergleich, der etwas verdeutlichen sollte. Aber es war auch mehr als das. Ich glaube, dass dieser Geist der sich im Japan des 17. Jahrhunderts entwickelt hat, nicht ohne Grund in der militärischen Riege des Landes entstanden ist. Meine Theorie diesbezüglich ist folgende: Während des Bürgerkrieges in Japan waren Krieger einfach nur Krieger, sie lebten für die Schlacht. Ihre Formel bestand aus den fünf oben erwähnten Worten, the survival of the fittest. Mehr gab das Leben nicht her, es ging nur um das Überleben, und alle Absurditäten wurden aus den Formeln weggekürzt, weil sie für dieses Leben ohne Belang waren. Irgendwann war der Bürgerkrieg und der Kampf um die Vorherrschaft beendet. Und genau um diese Zeit entwickelte sich dieser Geist, der aus Kriegern Kriegerpoeten machte, da sie hier erkannten, dass das Leben aus mehr bestand als aus diesen fünf Worten. Sie erkannten ihre eigene Variable, weil sie alle Unsinnigkeiten aus ihrer Gleichung gekürzt hatten, außer dem Kern, nach dem sie bisher gelebt hatten. Da diese Krieger abseits des zivilen und bürgerlichen gelebt hatten, war ihre Gleichung nicht verkompliziert, nicht unnötig in die Länge gezogen, und das half ihnen, zu sich selbst und ihrer Bestimmung zu finden...
Wenn ich hier so viel von Bestimmung und Schicksal schreibe werden mich sicherlich einige für verrückt halten. Viele Menschen glauben nicht an Schicksal, weil sie, wie sie sagen, nicht glauben dass ihre eigene Geschichte bereits irgendwo „aufgeschrieben“ steht, und jetzt nur wie ein Film abläuft. Das ist meiner Meinung nach richtig, denn eine solche Auffassung vom Schicksal würde bedeuten, dass man alle Verantwortung über das eigene Leben verliert, da man es nicht ändern kann. In einem Film habe ich einmal folgenden Satz über das Schicksal gehört: „Du bist nicht hier, um Entscheidungen zu treffen, denn du hast sie ja bereits getroffen. Du bist hier, um die Entscheidung, die du getroffen hast, zu verstehen.“ Das ist schön formuliert, und gefällt mir als Denkanstoß sehr gut, aber es reicht mir noch nicht. Ich will hier nicht erklären was Schicksal ist, das muss jeder für sich selbst herausfinden. Für mich ist es der Fluss von dem ich gesprochen habe, der durch den Wald fließt, und uns unseren Weg weist. Den Weg gehen müssen wir allein, und je näher am Fluss man entlang läuft, desto schwerer ist er zu gehen, aber er führt uns zu uns selbst. Wenn ich zurückdenke, so muss ich sagen, dass ich bereits oft versucht habe, vom Ufer des Flusses in den Wald zu fliehen, dass ich mich absichtlich verirren wollte, weil mir der Weg zu schwer geworden war. Der Weg kann oftmals schmerzhaft sein, und vielleicht wird man sich fragen, warum das Leben für die einen so eine schwere Prüfung, und für die anderen so ein Kinderspiel und ein Vergnügen ist. Aber würden Sie tauschen wollen? Wie weit ich mich auch vom Fluss entfernte, sein Rauschen drang immer zu mir durch, rief mich zurück, leitete mich und tut es immer noch. So schwer der Weg auch ist, tief in uns hören wir die Stimme zu uns sprechen, von der gemeinsamen Quelle und der Unendlichkeit, in der alle Parallelen aufeinandertreffen.


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Unser Glaube an Andre verräth, worin
Wir gerne an uns selber glauben möchten.

Friedrich Nietzsche

Der erste der letzten Träume

Vor langer Zeit war Babylon der Sündenpfuhl der Welt, die Stadt, in der keine gottesfürchtige Menschen zu leben schienen. Statt Gott zu huldigen brachten die Menschen anderen Göttern Opfer dar, huldigten Götzen und versuchten sich in spiritistischen Ritualen. Als Gott sich die Welt besah und das Übel in der Stadt Babylon entdeckte sagte er sich, dass es so nicht weitergehen könne. Er rief seine Engel zu sich und sagte ihnen: „Babylon ist eine schlechte Stadt. Dort leben keine guten Menschen, alle haben nur schlechtes im Sinn, die Menschen lieben weder sich selbst noch ihre nächsten. Man erblickt nur Hass und Neid wohin man auch sieht. Ich bitte euch die Stadt mitsamt all ihrer Bewohner zu zerstören.“ Die Engel hatten den Worten gelauscht, und waren damit einverstanden, aber einer erhob das Wort und fragte: „Aber Gott, was ist wenn es in der Stadt auch nur einen einzigen guten Menschen gibt? Wäre es nicht Unrecht, diesen einen zu töten? Dieser eine Mensch müsste, wenn es ihn gibt doch wert sein, alle anderen ebenfalls zu verschonen.“ Und Gott antwortete dem Engel: „Du hast recht, doch solch einen Menschen gibt es nicht. Ich habe den Menschen in ihr Herz gesehen, und nichts Gutes darin erkannt.“ „Vielleicht gibt es ja doch einen, der nur deshalb ein verbittertes Herz hat, weil ihm in dieser Stadt nie Gutes widerfährt. Lass mich zur Erde gehen, und einen solchen Menschen suchen.“ Gott hörte sich das Reden des Engels geduldig zu Ende an und erwiderte ihm darauf: „Nun gut, geh zur Erde und tu Gutes, auf das du einen Menschen zum Guten bekehren kannst. Aber jedes mal wenn du etwas Gutes unter den Menschen tust, und die Menschen es dir nicht danken oder gar böse heimzahlen und sich nicht zum Guten wenden sondern weiter das Böse huldigen, wirst du eine deiner Federn verlieren. Du kannst jederzeit wieder in den Himmel zurückkehren, bis deine letzte Feder von dir abgefallen ist. Sollte es dir jedoch gelingen diesen Menschen zu finden werde ich die Stadt verschonen.“ So sprach Gott, und der Engel, der ihm den Vorschlag unterbreitet hatte, begab sich unverzüglich auf die Erde um den Menschen ein Vorbild zu sein, und um ihnen die Hoffnung auf das Gute zu schenken. Er begab sich mitten unter sie und tat, was er nur tun konnte. Er gab was er hatte, er sättigte die Hungrigen, erheiterte die Traurigen und ermutigte die, die ohne Hoffnung waren. Doch alles ohne Erfolg. Er konnte tun was er wollte, sobald die Menschen ihm den Rücken zuwandten widmeten sie sich wieder den Lastern vergangener Tage, ergaben sich wieder ganz in Spott und Lästerei, und so verlor der Engel Feder um Feder, bis er derer schließlich nur noch sehr wenige hatte, und die anderen Engel ihn vom Himmel aus anflehten zurückzukommen bevor es zu Spät sei, denn sie fürchteten sie würden ihn nie wieder sehen. Aber der Engel gab die Hoffnung nicht auf. Er tat weiterhin Gutes unter den Menschen, jeder Böswilligkeit entgegnete er Güte, verzieh Beleidigungen bevor sie ausgesprochen wurden, aber wieder gewann er nichts dabei, bis er schließlich seine letzte Feder eingebüßt hatte, und eine Rückkehr in den Himmel unmöglich war.
Wieder rief Gott seine Engel zu sich und fragte sie: „Wie ist es unserem Engel ergangen, der sich nach Babylon begeben hat, um einen guten Menschen zu finden? Ist er bereits zurückgekehrt? War er erfolgreich in seinem Anliegen?“ Und einer der Engel erwiderte ihm, dass er nun nicht mehr zurückkehren könne, da er alle Federn bei dem Versuch die Menschen zu retten eingebüßt habe. Gott war darüber sehr traurig, und noch trauriger machte es ihn, dass er nun die Stadt zerstören musste. Als er gerade seinen Engeln das zweite mal die Anweisung gegeben hatte, Babylon zu zerstören sprach ein anderer Engel: „Herr, bitte besieh dir die Stadt noch einmal, sieh noch einmal den Menschen in die Herzen, schau ob du einen guten Menschen in der Stadt finden kannst.“ Und Gott hörte auf seinen Engel und schaute nach Babylon, besah sich die Menschen und suchte nach einem einzigen guten Menschen. Gott fand ihn. Es war der eine Engel, der sich nach Babylon begeben hatte, die Menschen zu retten, der für sie Mensch geworden war, und sie gerettet hatte. Und wenn man mich heute fragen würde, ob ich weiß woran man einen Engel erkennen kann, dann würde ich antworten: „Nein, denn in dieser Welt haben Engel keine Flügel.“

Glück

Solang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zum glücklich sein.

Solang du nach Verlorenem klagst,
Und Ziele hast, und rastlos bist,
Weißt du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Weder Ziele mehr, noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,

Reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz – und deine Seele ruht.


Hermann Hesse

 

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