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Gasbrand

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03.04.2003
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Gasbrand

Sergej Karamasovs Magen rebellierte, doch er hatte nicht vor, sich davon in seinem Tun abhalten zu lassen. In einer Stunde ging die Sonne unter, bis dahin mußte er fertig sein, oder er würde seine Familie nie wiedersehen.
Der Arzt hatte ihm alles genau erklärt, bevor die Granate eingeschlagen war und alle getötet hatte. Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet er, der Todgeweihte, als einziger die Explosion überlebt hatte. – Er hatte eigentlich alles überlebt, was man im Krieg überleben konnte. Als hätte das Schicksal seine schützende Hand über ihn gehalten, hatten ihn die Kugeln der feindlichen Maschinengewehre ebenso verfehlt wie die Raupenketten der deutschen Panzer. Er war der letzte seiner Einheit und hatte zuviel gesehen, um jemals wieder ruhig schlafen zu können. Aber er lebte.
Und nun sollte ein rostiges Stück Metall, das er sich in die Fußsohle getreten hatte, sein Ende sein? Offenbar war es so. Es hatte keine halbe Stunde gedauert, bis er vor Schmerzen nicht mehr hatte laufen können, und kurz darauf waren auch schon die ersten sichtbaren Veränderungen eingetreten.
Das war am frühen Morgen gewesen. Jetzt war es Abend, und der Unterschenkel hatte eine grünlich-graue Farbe angenommen. Zugleich wurde er immer dicker, und wenn Sergej mit dem Finger auf die Haut drückte, knisterte es wie ein Kaminfeuer. Weh tat es nicht mehr. Zumindest nicht, wenn er das Bein ruhig hielt. Dafür schlugen Hitzewellen durch den ganzen Körper, wechselten sich ab mit entsetzlicher Kälte. Das Fieber kannte nur eine Richtung: aufwärts.
Der Doktor hatte oberhalb des Knies amputieren wollen, obwohl das Knie noch völlig intakt war. Sergej fragte sich, ob das Schicksal wieder seine Hand im Spiel gehabt hatte, als es die Granate schickte. Er würde sein Knie behalten. Aber dafür würde es sehr schwer werden.
Es dauerte etwa so lange, wie auch Tageslicht durch das Loch in der Decke fiel. Es tat weh, aber seltsamerweise war es … erträglich. Er hatte ausreichend Morphium im Schrank gefunden. Sich das eigene Bein mit einem winzigen Skalpell abzutrennen und die Wundränder anschließend zu vernähen, war nichts, an das sich Sergej gerne erinnern würde. Doch dafür würde er Anuschka wiedersehen, und vielleicht auch noch ein Kind mit ihr haben.
Nachdem er den Verband befestigt hatte, lehnte er sich zurück und versuchte, sich in sein Heimatdorf zu träumen.
Zwei Stunden später schreckte er auf. Er hörte wieder Kanonenlärm, doch nur kurz. Er fragte sich, wer ihn zuerst finden würde, seine Genossen oder die Deutschen.
Und er fragte sich auch, was er tun würde, wenn ihn keiner fand.
Das Knie begann zu schmerzen, und als Sergej sich überwand, den Verband anzufassen, knisterte es.
Er vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte salzige Tränen der Verzweiflung. Er flehte Gott an, ihm Kraft zu geben und fühlte zugleich ein schlechtes Gewissen. Als treuer Parteianhänger hatte er Gott über so viele Jahre hinweg verleugnet, wie konnte er von ihm jetzt Hilfe erwarten?
Doch er wollte leben, und so suchte er als erstes nach einem noch funktionierenden Licht; hüpfte dabei auf dem gesunden Bein durch das Trümmerfeld des Lazaretts und fand schließlich eine mit Öl betriebene Laterne.
Viel, viel Morphium. Dennoch wurde der zweite Versuch, sich von dem sich unaufhaltsam ausbreitenden Fluch zu trennen, zu einer unerträglichen Tortur. Diesmal setzte Sergej den Schnitt tief im Gesunden an, und er verlor das Bewußtsein, noch ehe er das Weiß des Oberschenkelknochens zu Gesicht bekam.
Als er wieder erwachte, war das Öl in der Laterne verbraucht. Der Mond schien Sergej ins Gesicht, und es war kalt.
Das Gesäß fühlte sich taub an und knisterte.
Sergej wurde mit einem Male ganz ruhig. Er fühlte sich, als sei er in einen Eisblock eingefroren worden, und er versuchte sich auszumalen, wie lange das Sterben wohl dauern würde.
Er nahm seine Pistole aus dem Halfter und starrte sie lange an.

 

Hallo Relysium!

Habe deine kurze Geschichte gleich zwei Mal gelesen.

Ich weiss nicht, ob mir deine Geschichte gefallen hat.
Stilistisch wieder sauber, aber es fehlen einige Prachtsätze, wie sie in manchen Geschichten von dir zu Hauf zu finden sind.

Inhaltlich... das mit dem Knistern (Also die Haut fühlt sich so wie Aluminiumpapier, kann ich es mir so vorstellen? Aber wie kommt es dazu?) hat schon Horrorpotential, aber mE wird es zu schnell abgehackt. Du gehst zu wenig darauf ein, sodass der Leser nicht gezwungen ist, es sich bildlich vorzustellen. Dito das mit der Eigenamputation.
Dass das Gesäss sich taub anfühlt und knistert fand ich wiederum geil. So als Steigerung.

Also meine Erachtens zu kurz gehalten, diese Story.

Aber die Idee hat verdammtes Horrorpotential.

So, jetzt geh ich auch schlafen :)

mfg,

Van

Achja: 'der zweiter Versuch' - zweite, Tippfehler

 

Tippfehler korrigiert, danke.

Diese Geschichte ist absichtlich so kurz und knapp gehalten. Ich muß von dem epischen Stil wieder ein wenig weg.

r

 

Hi r.

Ein Zwischendurchkommentar.
Stilistisch gefällt mir dieser Text wesentlich besser als andere, die ich von dir kenne.
> mehr Klarheit, angenehmere Lesbarkeit, nicht so überladen.

Ich habe gespannt mitgelesen, obwohl die Geschichte selbst ein alter Hut ist, den es schon in mehrfachen Varianten gibt.

Pe

 

Tja, was soll ich sagen?
Ich finde diese Story absolut cool! Sie hat die richtige Länge, die richtigen Formulierunge und den rechten Schluss!
Das ist natürlich vollkommen subjektiv.

Da ich ein Fan des Horror-Leitsatzes :"Traue deinem Leser einiges zu!", finde ich die Ausführungen des Fluches(?) nur konsequent. Soviel gesagt wie notwendig und so knapp wie möglich.

Kurze Story - kurze Kritik:
Auf den Punkt gebracht und absolut kühl!
(Ein Anwärter auf die Geschichte 2004?)

Viele Grüße von hier!

 

Ah, endlich einer, der micht versteht :D

Den anderen natürlich auch Dank für ihre Kommentare.

r

 

Eigentlich hatte ich mehr von dem legendären Relysium erwartet, aber das soll nicht heissen, dass die Geschichte schlecht ist.
Gute Worte, schöne Szenen und auch die Kulturellen einschnitte gefallen mir. Was mir fehlt sind Sätze, die Bilder im Kopf entstehen lassen. Es ist ein wenig oberflächlich, mein ich. Wenn es um Kriegsschauplätze geht, dann stelle ich mir so was, wie Schützengräben oder haufenweise Tote vor. Das fehlt mir hier. Der Schluss ist aber ziemlich gut. Auch hier hätte es trotzdem ein wenig mehr Beschreibung haben können. Das mit dem Mond und der Knarre ist ne gute Idee.

Im Grossen und Ganzen würde ich sagen, eine schöne Kurzgeschichte, ohne viel Blabla, leider aber ohne viel "Würze".

Gruss, Clyan

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo relysium

ich sehe es wie Hanniball.(Jedenfalls für diese Geschichte, sonst schreibt er ja auch längere Stories) :)

"Traue deinem Leser einiges zu!"
Genau, in der Kürze liegt die Würze.

Mich hat die Geschichet begeister, da ich schon nach den ersten drei Sätzen voll drin war.
(Das, mit Verlaub, finde ich das geniale an deinen Texten)
Die Beschreibung eines Trümmerfelds und den Toten wäre nur Balast, da sich das ganze Drama
auf Sergej fokusiert. Er ist allein und es werden in ihm die Urinstinkte des Überlebens geweckt, bis zum Schluss die Resignation die Oberhand gewinnt.
Der Horror in dieser Geschichte ist wesentlich subtiler, als in Süsse Fäulnis, aber nicht minder gross.

:cool:
Lieben Gruss
dot

 

Hi Rel ...

gefällt mir, jou. Zwischendurch kam mir immer wieder Kings "Überlebenstyp" in den Sinn, dein Szenario war gewissermaßen realistischer.
Zu kurz finde ich den Text nicht. Ich hätte nichts gegen eine längere und ausführlichere Version, aber mM nach braucht es das nicht, um seine Horrowirkung zu entfalten. Der Leser denkt ja über den Text hinaus.

Ich hätte allerdings, gerade bei dir als Autoren, noch größeres Ekel- und Grauenpotential hinter der Story vermutet. Kommt davon, wenn man härtere Sachen gewohnt ist. ;-)

und weinte salzige Tränen der Verzweiflung.
Tränen sind immer salzig, oder?

Ginny

 

Tränen sind immer salzig, oder?
Im Prinzip ja, aber normalerweise merkt man das nicht.
Der Geschmackssinn des Lesers wird hier angesprochen, um zu verdeutlichen, daß die Tränen auch in den Mund fließen, weil sie so zahlreich sind.

r

 

Hi Relysium :)

Ich will mich hier mal fix dem Clyan in den meisten Punkten anschließen. Dein Stil gefällt mir gut, desswegen muss ich dazu auch nichts mehr hinzufügen.

Den Kriegsschauplatz hätte ich mir auch ein wenig detaillierter gewünscht, obgleich der wirkliche Schwerpunkt schon auf der Schilderung von Sergej´s Leiden liegen sollte ... was er ja auch tut :D

Die Sache mit dem Knistern fand ich höchstgradig furchterregend! Ist eh eine Urangst von mir, eines Tages aufzuwachen und irgendein Geschwür oderso am Körper zu haben!
In so fern fand ich diesen Aspekt sehr gelungen.

Ebenso die Sache mit dem Morphium und dem Schnitt ins gesunde Fleisch. Das der arme Kerl dann irgendwann aufwacht und sich nur noch retten könnte indem er sich fortan als Torso mit zwei Armen durchs Leben schlagen müsste fand ich sehr schockierend.

Allerdings waren das eher meine Gedanken zu so einer Situation. Dein Prota. reagierte da ja ziemlich nüchtern drauf. Ich hätte mir vielleicht etwas mehr Panik gewünscht :)

Lange Rede, kurzer Sinn. Ich habe mich gut unterhalten gefühlt und kurzzeitig gefragt, wie ich wohl in so einer Situation reagieren würde.
Mehr wolltest du auch sicherlich nicht erreichen ;)

besten Gruß
*Christian*

 

Deine Stories mit medizinischen Details sind die besten- das liegt vor allem an der Erkenntnis, dass Du weißt, wovon Du schreibst.

Erinnerte mich ein wenig an »Überlebenstyp« von King- allerdings in einer trostlosen Gogol-Variante in schwarzgrau.

Erstaunlich intensiver Text, bedenkt man, dass keinerlei Dialog am Start ist – normalerweise kein gutes Zeichen (zumindest für mich).
Was für ein Krankheitsbild istn das?
Eine Ausgeburt Deiner Fantasie oder die Symptome des Wundbrands?
Mit knisterndem Arsch in Feindesland?
Gruselig.


Auf jeden Fall ein sauberer, schneller Happen aus der dunklen Zone.

Jack

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Relysium,
schön, dass du ab und an mal was kürzeres schreibst.
Allerdings hatte ich den Eindruck, dass der Geschichte Fleisch auf den Knochen fehlt - und das grade bei dir. Gerüche, Gefühle, Gedanken, das kommt ein wenig knapp, könnte aber die Atmosphäre steigern.
Kleine Details wie kurze (!) Beschreibung der Umgebung, des Feldchirurgen, was weiß ich, oder die Verwendung passenderer Ausdrücke (z.B. statt "feindliche Maschinengewehre" den Rotarmistenausdruck "Hitlersense", statt Granate evtl. 105er etc.) könnten auch was.
Das Ende mit der Knarre fand ich nicht so doll, wäre es ohne nicht schröcklicher gewesen?
Und ja, hm, die Fotos sind ähnlich ekelhaft wie dein "Farbatlas der Rechtsmedizin". Arme Teufel.

...para

 

Hi rel,

grausige Vorstellung, sich ein Körperteil selbst amputieren zu müssen. Und dann auch noch festzustellen, es nicht rechtzeitig geschafft zu haben ...

Kenne besagte King-Geschichte leider nicht, mußte aber häufig an "Im Westen nichts Neues" denken. Schauderhaft geschildert.
Trotz der Kürze schaffst Du es mal wieder, den Leser in Deinen Prot hineingleiten zu lassen.

Hatte aber trotzdem wieder das Bedürfnis mehr zu lesen; irgendwie fesselt mich Dein Stil immer wieder (siehe "Am sonnigen Nil")

LG! Salem

 

Hallo relysium,

auch mich erinnerte die Geschichte an den Typen von Stephen King, der nach und nach seine Gliedmaßen amputiert, um nicht zu verhungern. :sick: Hat sie Dich zufällig zu dieser Geschichte inspiriert? Egal, auch wenn es so war: Deine Geschichte hat ja genügend abweichende / eigene Elemente, um eine ganz andere Geschichte zu sein.

Der Stil ist natürlich exzellent und es ist eigentlich auch alles enthalten, damit man weiß was warum passiert. Aber um mit dem Prot mitzuleiden, fehlt doch noch was. Lediglich als er aufwacht und merkt, dass sein Hintern knistert und alles zu spät ist, habe ich kurz "Oh Sch..." gedacht. Aber wirklich mitgelitten habe ich nicht - auch keinen regelrechten Horror verspürt. Dazu bleibt Dein Prot wahrscheinlich zu sehr im Dunkeln. Man weiß zu wenig von ihm und auch sein eigenes Leiden ist zu wenig beschrieben, als dass man mitfühlen könnte. Ich denke, zwei, drei Sätze würden schon reichen, um das anders werden zu lassen.

Lieben Gruß
Kerstin

 

hi relysium

Er hatte eigentlich alles überlebt, was man im Krieg überleben konnte.
das gefällt mir gut. schön formuliert.

Mußte am Morphium liegen.
das wär eine erklärung...

Obgleich nicht sonderlich religiös, schickte er herzklopfend ein Gebet zum Himmel und weinte salzige Tränen der Verzweiflung.
auch sehr gut formuliert

was soll ich sagen, kriegsgeschichten gehen mir immer besonders nah. es ist einfach, zu realistisch. (konnte mir bis heute nicht der soldat james ryan anschaun)

auf alle fälle, wenn man mein seelisches befinden außer acht lässt, ist es eine weitere tolle story, die ich heute gelesen habe. (naja, heut hat ich eben so viel zeit).

Tama

 

Danke, Tamira, für deinen (durchwegs positiven) Kommentar.

Krieg ist einer der übelsten Dinge, die einem widerfahren können.

r

 

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