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Aus Frau Kappelhubers Zettelkasten

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30.12.2003
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Aus Frau Kappelhubers Zettelkasten

Der Zettelkasten der freien Journalistin Felicia Kappelhuber stand wegen der Untersuchungen zu ihrem Tod 18 Monate lang in der Asservatenkammer der Kriminalpolizei von B*.

Er gehörte offensichtlich einer Ästhetin: Aus schwarzlackiertem Holz, im Quartformat, die Karten aus Recycling-Karton sind mit schwarzer Tinte beschrieben, manche wie Collagen gestaltet. Es ist auch zu sehen, dass der Zettelkasten das maßgebliche Arbeitsinstrument der Autorin war: Anstatt ihre handschriftlichen Notizen in den Computer zu übertragen, hatte Frau Kappelhuber ihre wichtigsten elektronischen Fragmente ausgedruckt, die Blätter aufgeklebt und in den Kasten einsortiert. Bemerkenswert ist ferner die kunstvolle Verwendung von knittrigem Einwickelpapier hier und da. Frau Kappelhuber muss besonders malerische fettfleckige Exemplare aufbewahrt haben, um Schlüsselfakten darauf zu notieren.

Zwar hatte sich die Journalistin vertraglich verpflichtet, ein Buchmanuskript über den Vergewaltigungsfall Jonas X. zu liefern – und das nicht später als drei Arbeitstage nach Prozessende – jedoch starb sie, noch ehe das Urteil verkündet worden war. Der Verlag versuchte zwar, mit Hinweis auf den Vertrag an den Zettelkasten heranzukommen, dieser wurde aber nicht ausgehändigt. Anderthalb Jahre später lohnt es sich nicht mehr, aus dem Inhalt des Kastens noch ein Buch zu machen. Die meisten Leute wüssten mit dem Namen des Wahrsagers Jonas X., der nach Verlust seiner Jungfräulichkeit auch die Gabe der Weissagung verloren und auf Schadenersatz geklagt hatte, nichts mehr anzufangen.

Vor den Registern: Ein Entwurf zum Klappentext des Buches. Interessant daran ist nur das Autorenfoto. Felicia Kappelhuber war eine stämmige Dame in den Vierzigern, recht gut aussehend, wenn man einen konsequent auf Naturtextilien und geschrubbtem Gesicht aufgebauten Look mag. Auf dem Foto lächelt sie nicht, sondern begegnet dem zunächst eher lächerlichen Untersuchungsgegenstand mit Ernst.

Register 1 enthält Angaben zur Person Jonas X.

Karte 1A – Computerausdruck. "Nachdem ich glücklich seinen bürgerlichen Namen herausgefunden hatte, machte ich mich auf den Weg, den Lebenslauf des Prophetik-Gründers ein wenig zu beleuchten. Jonas X., mit bürgerlichem Namen Jochen Eder, der sein Alter mit 98 angibt und aussieht wie Ende zwanzig, ist in Wirklichkeit 37 Jahre alt. Er hat den für Außenseiter beinahe üblichen Hintergrund – strenggläubiges Elternhaus, dann ausgerissen; Schulabbrecher, Lehre als Raumausstatter abgebrochen, Schulabschluss nachgeholt, Studium der Psychologie abgebrochen, diverse Jobs, meistens als Model irgendwelcher Art. Danach gibt es eine Lücke von mehreren Jahren, über welchen Zeitraum ich nichts finden konnte – nichts außer Vermutungen."

Karte 1B - Ein Studioportrait des Propheten aus der Zeit kurz nach Gründung des Kultes. Handschriftliche Anmerkung: "Seine Schönheit ist nicht Geschmacksfrage, sie ist absolut. Sie ist überirdisch, sie ist transzendent und zugleich sehr handfest, sinnlich. Ich sehe schon, an dieser Formulierung werde ich lange feilen müssen... Tatsächlich sieht er aus wie ein präraffaelitischer Engel mit Sexappeal, wie von Rozetti gemalt. Nur, dass dieser Engel hier seine Keuschheit, sein Zölibat als wichtigsten Rohstoff zum Geldmachen einsetzt.

Mir fällt es schwer, ihn anzuschauen, ob auf dem Foto oder in Person. Seine ästhetische Vollkommenheit bringt mein Ich zum Schmelzen. Sie macht, dass ich meinen Widerstand und jedwedes kritische Denken aufgebe und mich für seine Sache einsetze, so abseitig und betrügerisch sie auch sein möge."

Karten 1C bis 1H – Fotokopien der Titel einiger Videokassetten. "Die Schöne und das Ungeheuer", "Heiß auf Hawaii", und einige mehr in dieser Art. Alle mit Joaquino in einer Haupt- oder Nebenrolle.

Karte 1J – Standfoto aus einem Videofilm, sehr körnig und schlecht zu erkennen: Ein großer Mann steht, nur mit Fliege und Frackweste bekleidet, vor einem Tisch und besteigt eine Frau, die wie ein Hummer auf einer riesigen Silberplatte angerichtet ist. Handschriftlich: "Ha, ha – Joaquino!", sowie ein Pfeil, der auf den gerade noch erkennbaren rechten Fuß des Mannes weist.

Karte 1K – fotokopierter Lexikonartikel: "Makrophallus, Syn. Makropenis, wörtlich "Großer Phallus", wird bei einer Größe von über 20 cm so bezeichnet.

Karte 1L – Kundenkarte des Friseurs H. "Herr Jonas X.: Diana HairColours, Ethereal Blonde No. 342, 40 min. – Cilics Saure Dauerwelle, klassisch, medium." In der Handschrift Frau K.s eine Anmerkung: "Es ist nicht zu fassen, wie wenig an dem Propheten authentisch ist: weder seine blonden Cherubimlocken noch sein Name noch seine Lebensdaten sind echt..."

Die weiteren Karten enthalten Angaben und Dokumente zur Person Jochen Eder, allesamt unspektakulär.

Register 2 enthält Angaben zu den drei Angeklagten.

Karte 2A – Fragment eines Zeitungsartikels: "Die Angeklagten wurden als Sylvia A. (26), Alexandra B. (41) und Patricia C. (32) anonymisiert. Sie selbst schafften es jedoch, ihre Identität an die Presse zu bringen: Wer schon einmal den Prospekt einer der führenden Sexartikel-Versandhäuser in den Händen hatte, kennt zwei der Damen von ihrer schönsten Seite. Die dritte, Alexandra B., eine ehemalige Bodybuilding-Meisterin der Figurenklasse, arbeitet als Schauspielerin. Sie hat eine beeindruckende Liste von Rollen vorzuweisen, in Filmen, die es zum Teil nicht einmal in den Videoverleih geschafft haben."

Karten 2B – 2R – Fotos der Angeklagten: Hauptsächlich stammen sie aus Prospekten, von einem Schönheitswettbewerb, und ähnlichen Quellen. Die Damen tragen auf keinem Bild mehr als knappe Bikinis oder Reizwäsche, manchmal weniger.

Karte 2S – Notizzettel: "Immer zeigen sie den seltsamen, abstoßenden Gesichtsausdruck von Frauen, die versuchen, für ein Foto erregt zu wirken, dabei aber nur debil erscheinen. Immer sind sie nackter als nackt und schmusen mit einem Etwas aus Latex oder Silikon. Haben sie eigentlich eine eigene Sexualität? Oder kann man die verkaufen, und sie haben die ihre nicht mehr? Ob ich sie bekleidet überhaupt wiedererkennen werde? Macht es ihnen nichts aus, einer Welt gegenüberzutreten, die weiß, dass sie keine Schamhaare, dafür aber ein Piercing haben? Wie bin ich – alte Jungfer, die ich nun mal bin – auf die Idee gekommen, über diesen Fall schreiben zu können?"

Weitere Karten enthalten Lebensdaten und Unterlagen zu den Angeklagten. Darunter ist nichts, das nicht zum Übrigen passen würde.

Register 3 enthält Unterlagen zu Jonas X.' geschäftlicher Unternehmung.

Karte 3A – Ausdruck einer E-Mail: "Liebe Felicia, du kannst dieses Prophetik-Buch bei mir abholen, wenn ich es nicht wegwerfen soll. Ich gebe zu, dass eine Bestätigung oder Widerlegung der Thesen über meine Kräfte geht, da nicht eine der Aussagen auch nur den Rand der Wissenschaft berührt. Dieser – entschuldige! - Müll hat mit Naturwissenschaft nichts zu tun, er ist nur so geschrieben, dass er danach klingt. Irgend eine Logik oder ein System ist nicht auszumachen. Jeder Gymnasiast mit Grundkurs Physik würde es nach der dritten Seite zuklappen. Tut mir leid, wenn es nicht das ist, was du hören wolltest. Gruß, Gerd." Die Signatur weist den Verfasser als Lehrbeauftragten für Physik an der Fachhochschule in B* aus.

Karte 3B – Rückendeckeltext von "Prophetik", von Jonas X.: "Was ist Zeit? Sie ist unser aller Gefängnis. Sie ist das Einzige, was wir nicht beherrschen können. Sie hält uns fest, fesselt uns, drängt uns in eine Richtung und am Ende tötet sie uns. – Die Bibel weiß, dass die Zeit nicht immer so unerbittlich war wie heute. Die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits war nicht immer die Einbahnstraße, als die sie dem modernen Menschen erscheint. Während die moderne Physik allmählich die wahre Natur der Zeit aufdeckt, wissen wir in unserem Inneren seit jeher alle, dass unser Gefangensein in der Zeit eine Folge der Sünde ist. Durch eine Kombination uralter mystischer Techniken und der modernen Physik – der Prophetik – können wir diese Fessel lockern, erweitern und schließlich sprengen. (...)"

3C – keine Karte, sondern eine Publikation des Prophetik-Institutes in B*. Verschiedene Ansichten der Kursräume sind hervorgehoben. Haftnotiz auf der Broschüre: "Man beachte diese Helme; sie sehen aus wie Trockenhauben mit daumendicken Elektrokabeln. Scheinen einen ziemlichen Energieverbrauch zu haben. Wer steckt da freiwillig seinen Kopf hinein? Offensichtlich eine Menge Leute... Ich hätte Angst, wie im Mikrowellenherd gekocht zu werden. Was sollen diese Helme überhaupt darstellen, Nürnberger Trichter? Oder, im Gegenteil, Ent-Lerner? Phantomatik? Nirwanotronik? Oder nur Attrappe?"

Karte 3D – Ausdruck eines Newsgroup-Beitrages: "Irgendwie bringt es das total nicht, mit euch Super-Skeptikern zu diskutieren. Ihr seid so oberschlau, aber ihr könnt ja doch nicht leugnen, dass Jonas wahrsagt. Noch niemand hat es geschafft, das zu widerlegen: Er sieht in die Zukunft und in die Vergangenheit. In meine, in eure auch. Was wollt ihr also noch?"

Karte 3E – Bruchstück aus einem Nachrichtenmagazin: "Es gibt nichts, was der selbsternannte Chronos, Beherrscher der Zeit, nicht aufgreift, um seine Lehre noch schillernder, noch farbenprächtiger auszugestalten. Theoretische Physik und Christliche Mystik waren nur der Anfang, mittlerweile ist er bei den Gnostikern und der Alchimie angelangt. Die tatsächliche Alchimie seiner Methode besteht natürlich in einer Transmutation dieses synkretistischen Konglomerates aus Wissen, Glauben, Sinn und Unsinn in Geld. In sehr viel Geld sogar. - Man wundert sich über seine Anziehungskraft aber nur solange, bis man den Meister selbst in Aktion erlebt. Er übt sich in Telekinese, in Geistheilung, in präkognitiver Erkenntnis. Beeindruckend ist seine absolute Herrschaft über sich selbst, die ihn tatsächlich wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirken lässt. Niemals zuckt er die Schultern, niemals runzelt er die Stirn oder zeigt eine spontane Regung. Er demonstriert mit gottähnlichem Gleichmut seine Beherrschung einiger unwillkürlicher Körperfunktionen (...)"


Register 4 enthält Fragmente zum Tathergang

Karte 4A – Fotokopie einer Einsendung an die größte Tageszeitung von B*. Die Redaktion sollte wohl selbst mit dem schlampigen Text zurechtkommen. Handschriftliche Anmerkung: "Wahrscheinlich hatten die drei vor, Jonas X. schon am nächsten Tag in der Presse bloßzustellen. Der Prophet ist aber auch nicht dumm. Ich stelle mir vor, wie er total aufgelöst (oder wie auch immer) um Mitternacht nach Hause kommt und seinen Anwalt aus dem Bett telefoniert. Der Artikel ist nie erschienen. Die Angeklagten mussten das gesamte Waffenarsenal von Internet und Underground-Stadtmagazinen in Bewegung setzen, um ihre Geschichte so zu verbreiten, dass Jonas X. zum Handeln gezwungen wurde."

Auszug aus dem Text: "Und da sagte Alexa, nein, er ist es, ich kenne ihn doch. Wir waren zusammen in 'Die Hochzeitstorte' und 'Kloster der lüsternen Nonnen'. Hundert Prozent, das ist Joaquino. Wir anderen waren uns nicht sicher, er sieht doch anders aus, und das Alter stimmt auch nicht und so, aber Alexa war sich total sicher. Das ist er. Jetzt macht er mit seinem Keuschheitsscheiß voll die Kohle, und das ärgert sie. Uns war's eigentlich egal. Wir sind ja auch nicht so für Enthaltsamkeit, ich meine, die wär' nicht so toll fürs Geschäft, aber Alexa, die war richtig sauer. Wenn der jetzt auf "engelrein" macht, sagte sie, dann nur, weil er ihn nach 'zig Pornodrehs nicht mehr hochkriegt. Und kein normaler Mensch könnte ihm sein Zeug da glauben. Hey, sagte sie, er verarscht die Leute, lügt denen was vor und zieht ihnen das Geld aus der Tasche, versteht ihr mich überhaupt? Das verstanden wir dann schon. (...) Dann sagte Alexa, wir können's doch beweisen. Ziehen wir ihm die Hosen runter. Warum die Hosen? Weil es nicht viele Burschen mit so einem Rohr gibt. Damit hat er nämlich die Kohle gemacht, bei den Drehs, da war er echt ein bisschen abartig gebaut. Tat immer sauweh bei dem, macht aber optisch total was her. Egal, wie oft der unterm Messer war, und was er alles hat verändern lassen, glaubt mir, das da – das ist bestimmt nicht weg."

Handschriftliche Anmerkung an dieser Stelle: "So ein Unsinn! Hat sie denn nie den Fuß gesehen? Oder ist das behoben worden?"

Der Text geht weiter: "(...) Und Sylvia meinte, wenn wir mit ihm schlafen und das rumerzählen, dann kann er nicht mehr behaupten, dass er noch wahrsagen kann, denn er sagt ja immer, das geht nur nach absoluter Enthaltsamkeit über Jahre. Wir müssen's bloß beweisen, nachher, meine ich. Dann hat er ausprophezeit."

Karte 4B – Auszug aus dem Stadtmagazin "Holzauge": "Der Prophetik-Gründer hatte zungenfertige Erklärungen bereit, warum er mit seiner Anklage so lange gewartet hat, bis jedermann über diese Nouveaux-Webseite redete. Wir wollten dagegen nur wissen, was geschehen war, das Holzauge will euch nicht vorschreiben, was ihr glauben sollt oder nicht. (...) Soviel schien sicher zu sein, dass die drei Mädel Jonas X. im Auwald-Park auflauerten, als er nachts von einem Seminar in seinem Institut nach Hause fuhr. Sie zwangen ihn zum Bremsen, bedrohten ihn mit Haifischharpunen und zerrten ihn vom Fahrersitz. Das Holzauge sagt, Kinder, lasst immer die Zentralverriegelung zu! Jonas X. wurde auf eine Leiter gebunden, seine Kleidung wurde aufgeschnitten und dann begann der Horror. Das ist, wie er selbst es beschreibt, auch wenn der eine oder der andere es sich so schlimm nicht vorstellen kann.

Das Holzauge fragte: 'Was war denn so schlimm an der ganzen Sache?' Jonas X.: 'Einmal abgesehen davon, dass es die Früchte meiner lebenslangen Arbeit zerstört, war das Schlimmste einfach die Angst vor den Harpunen. Sie schossen eine davon auf einen gefällten Baum ab. Sie steckte gut im Holz...' Ängstlich, das muss man sagen, sah 'Chronos' aber nicht aus, eher wie ein schlecht programmierter Avatar, völlig gefühllos. Das Holzauge bohrte nach: 'Dann hatten Sie also schreckliche Angst und wurden vergewaltigt?' 'Ja.' 'Und das geht, wenn man Angst hat?' 'Ja.' 'Drei Mal?' 'Ja.' Holzauge, sei wachsam..."

Karte 4C – Computerausdruck: "Sie schleppten die Leiter ins Gebüsch, wo sie vorher ein Plätzchen vorbereitet hatten. Vorsatz ist Ihnen auf jeden Fall nachzuweisen. Sie hatten für Abschirmung, Licht, Kamera, alles drum und dran gesorgt. Wo blieb nun die 'Beherrschung der unwillkürlichen Körperfunktionen'? Die Tat wurde dokumentiert, die Dokumentation ist heute online und so oft gespiegelt worden, dass sie wohl nie ganz aus den ungeputzten Ecken des Internets zu verbannen sein wird."

Karte 4E – 4K – verschiedene Bildschirmausdrucke aus dem Internet: Sie stammen alle von der Domäne nouveaux-amour.org, deren Inhaber Alexandra B. ist. Die merkwürdigste Karte ist der Farbdruck eines Scans: Drei verknotete Kondome sind an ein Brettchen genagelt, welches mit an Klosettsprüche erinnernden Schmierereien bekritzelt ist. Die kommen deutlich auf den Punkt: 'Achtung, wir nähern uns den Grenzen des guten Geschmacks. Halten Sie bitte die Ausweise bereit.' 'Nimm deine Hand aus meiner Hose! Ich zähle bis tausend!!!' und mehr von dieser Sorte.

Handschriftliche Anmerkung: "Ich habe keinen Zweifel daran, dass diese Kondome authentisch sind. Nicht, dass ich das unterscheiden könnte, aber es sähe ihr ähnlich, die echten, schmierigen Dinger auf diese Weise zu präparieren. Und soll ich sagen, was ich glaube? Dass man Alexandra B.'s Gefrierschrank nicht untersucht hat."


Register 5 ist beschriftet mit "Der Prozessverlauf"

Trotz der optimistischen Beschriftung enthält der Abschnitt nur handschriftliche Notizen und allerlei Fundstücke, keine Unterlagen, die bestätigt werden könnten. Offensichtlich ist Frau Kappelhuber hier an die Grenzen des Systems gestoßen.

Karte 5A - Stenographie auf Einwickelpapier: Wer diese fast vergessene Kunst benutzt hat, um der Journalistin Informationen über eine nicht-öffentliche Befragung vor Gericht zuzuschanzen, ist nachträglich nicht mehr feststellbar. Das Stenogramm selbst ist so voller selbstdefinierter Abkürzungen und Symbole, dass es kaum zu entziffern ist. Das wenige scheint aber zu bestätigen, dass die Angeklagten sich, was den Inhalt von www.nouveaux-amour.org angeht, strikt an die Wahrheit gehalten haben. Frau Kappelhuber fasste zusammen:

"Jonas X. bestätigt es. Er klagt auf Schadenersatz in beträchtlicher Höhe, weil er, der Gabe der Weissagung nunmehr beraubt, seine Prophetikschule aufgeben muss. Die Verteidigung ist reichlich mit Informationen ausgestattet, welche sie nicht verwenden kann. Sie baut auf den sechs Tagen auf, die zwischen der Tat und der Anzeige des Jonas X. verstrichen sind: Hätte er denn überhaupt Anzeige erstattet, wenn nichts an die Öffentlichkeit gelangt wäre? Ist nicht sein ganzes Unternehmen auf Betrug und Täuschung aufgebaut? Stimmt es, dass er fünf Jahre lang als 'Hengst Joaquino' sein Geld verdient hat? Jonas X. leugnet jede Beziehung zu 'Joaquino'. Die körnigen Nachtaufnahmen, die die Angeklagten gemacht haben, gestatten keine eindeutige Identifizierung anhand der Videostandbilder. Man kann Jonas X. nicht zwingen, den Beweis anzutreten. Es sieht schlecht aus für die Verteidigung..."

Karte 5B – eine Todesanzeige: Betrifft eine Manuela Peterson, geboren 1975, unerwartet verstorben usw. Obwohl die Anmerkung daneben ausradiert ist, kann man sie ganz gut entziffern, wenn man die Karte schräg hält. "Ist das 'Olivia Linda', a.k.a. 'Agatha Sensorial'? Zeugin der Verteidigung oder sehe ich schon Gespenster?"

Karte 5C – ausgedrucktes Computerfragment: "Ich hatte Glück heute – ich fuhr einfach ins Prophetik-Institut und klingelte. Ein fast zwei Meter großes Wesen undefinierbaren Geschlechts mit Putzeimer und hauchender Stimme öffnete mir. Ich gab meinen Namen an und hoffte fast, Jonas X. würde mich nicht empfangen. Seit ich diese Annonce heute früh gesehen habe, fürchte ich mich ganz anders vor ihm und kann nur hoffen, dass ich mich geirrt habe. Voller Panik wurde mir bewusst, dass ich mir gar keine Strategie zurechtgelegt hatte, und in Ermangelung eines Besseren entschied ich mich, vom Standpunkt eines Prophetik-Anhängers auszugehen. Zumindest habe ich das Buch oft genug gelesen. Ich gab zu, nichts verstanden zu haben... fragte ein wenig hin und her, wie die Zukunft der Lehre, der Schule, seine eigene sein würde – so Zeug eben.

Er hat wirklich die Kunst perfektioniert, sein Gesicht, seinen Ausdruck unter Kontrolle zu halten. Ich hatte das merkwürdige Gefühl einer nichtmenschlichen Präsenz. Wie wenn eine automatische Überwachungskamera auf einen gerichtet ist. Meine Abwehr muss spürbar gewesen sein, denn nun änderte er seine Strategie. Er redete über sich selbst, über die schwierige Rückverwandlung in einen gewöhnlichen Menschen, die er momentan durchmacht. Über die Schwierigkeit, seine mit voller Macht zurückgekehrten sexuellen Bedürfnisse unterzubringen.

Ich gebe zu, an diesem Punkt bekam ich eine Heidenangst vor ihm. Seine Andeutung kann ja wohl nicht erstgemeint sein, schließlich weiß ich selbst ganz gut, wie ich aussehe. Nun habe allmählich auch ich den Eindruck, er sagt wahr – sieht er mir die alte Jungfrau so an, dass er versucht, mich zu kaufen? Wenn das außerhalb des Prozesses geschehen wäre... aber nein, er gehört zu den Dingen, für die ich meinen rechten Arm hergeben würde, aber die ich niemals annehmen könnte, auch wenn sie mir wie hier auf dem Silbertablett dargereicht werden. Er ist ganz sicher ein Lügner. Er ist vielleicht ein Mörder. Diese strohdummen Mädchen, was haben sie da in Gang gesetzt, und worauf habe ich mich da eingelassen?

Ich ließ meinen Block fallen und tauchte unter den Tisch, aber er trug geschnürte Schuhe, und wenn wirklich der rechte Fuß größer ist als der linke, so war davon nicht zu sehen. Ich verabschiedete mich so höflich und freundlich wie möglich."

Karte 5 D – herausgerissenes Blatt, vielleicht aus einem Tagebuch: "Das war ein scheußlicher Tag. Es wurde am Ende unerträglich; ich zog die Schublade von meinem Nachtkasten auf und dachte mir, da habe ich wenigstens etwas, das Alexandra B. nicht hat. Tut immer sauweh bei ihm, ja? Tut es weh? Ich kam zwar mit der Hand nicht herum, bei dem, was ich mir da ausgesucht hatte, aber die Schmerzgrenze konnte ich nicht erreichen. Dann dachte ich an die Todesanzeigen und schleuderte den Vibrator mit Gewalt an die Wand. Nein! Nein! Und nicht einmal in Gedanken, Jonas, Jochen, Joaquino, oder wie immer du dich sonst noch nennst. Ich musste noch einmal aufstehen und das schriftlich loswerden, auch wenn der Tag schon zwanzig Stunden lang gewesen war. Wenn du etwas kannst, Felicia, dann ist es das, im eigenen Saft zu schmoren, ohne den Verstand zu verlieren, und das geht wohl noch ein paar Tage länger – oder?"

Karte 5 E – Todesanzeige: Christian K. – wer die Videodeckblätter aufmerksam genug studiert hat, kennt den Namen, der Regisseur benutzte keinen Künstlernamen.

Karte 5 F – ein Röntgenbildhalter mit angehefteter Notiz: Er zeigt Aufnahmen beider Füße eines Erwachsenen. Sorgfältiges Nachzählen ergibt immer wieder, dass der rechte Fuß sechs Zehen hat. Notiztext: "Diese sind von Jochen Eder. Sie brachten ihm eine Befreiung vom Wehrdienst ein. Polydaktylie an sich ist gar nicht so selten, wenn auch diese radiale Form die seltenste ist. Sechs perfekt abgestufte Zehen, so dass es gar nicht aussieht, als wäre eine zuviel da. Unüblich ist es, dass so etwas nicht berichtigt wurde, noch ehe das Kind laufen gelernt hat, selten sind Erwachsene mit sechs Zehen. Ich habe gesehen, dass Joaquino sie hatte. Hat das religiöse Elternhaus etwas damit zu tun? Mein Kind mit dem Teufelsmal? Meist hat man den Fuß ein wenig aus dem Blickfeld der Kamera gehalten, aber ein- oder zweimal ist er eben auch im Bild.

Und Jonas X.? Hat er sie (noch), oder hatte er sie nie? Wie macht er das mit den Schuhen? Habe ich etwas übersehen?"

Karte 5 G – Computerausdruck: "Der Prozess zieht sich hin, zwei Zeugen fehlen bereits, alles stagniert. Ich weiß nicht, wie er das macht. Ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll. Ich gehe wohl noch zu den Verhandlungen, aber ich fühle mich unbehaglich, beobachtet und aufgespießt. Gottähnliche Gleichmut? Was will er von mir?"

Karte 5H – Fragment des Entwurfs für einen Zeitungsartikel: "Manuela Peterson starb an einer Überdosis Heroin. Untersuchungen des Substanzrestes, welcher bei ihr gefunden wurde, ergaben, dass die Droge nicht so stark verschnitten war wie üblich, sondern reiner, stärker. Sie könnte sich den goldenen Schuss gegeben haben, ohne es zu wissen.

Die Todesursache von Christian K. ist noch unklar, man vermutet eine Kaliuminjektion. Es ist nicht ganz einfach, dergleichen am Körper eines Gelegenheitsfixers und Polytoxikomanen nachzuweisen. Manche haben 'Mord' geschrieen. Danach ein feiger Rückzug. Es ist nichts Definitives mehr zu erfahren.

Nur eines ist klar: Jonas X. - so perfekt, wie er von der Öffentlichkeit abgeschirmt wird – Jonas X. hat auch ein perfektes Alibi. Wenn er nicht gerade telepathische Befehle gegeben hat, können ihm die Todesfälle nicht angelastet werden."

Karte 5I – Kopie eines Totenscheines: Jochen Eder ist anscheinend für kurze Zeit Mitglied der persönlichen Garde eines zweifelhaften südamerikanischen Machthabers gewesen. Handschriftliche Anmerkung: "Wenn er 1994 gestorben ist, wie hier steht – dann gibt es Filme mit Joaquino vor und nach diesem Todesfall. Wenn er gestorben ist. Wenn er gestorben ist. Der Tote, das haben wir schwarz auf weiß, also der Leichnam, der dort obduziert wurde, hatte sechs Zehen rechts, war demnach Jochen Eder. Alexandra B. hingegen will Joaquino identifiziert haben.

Und Jonas X.? Wie sind seine persönlichen Kennzeichen? Ich habe das Gefühl, ich bin in eine Falle getappt. Ich habe das gesehen, was ich sehen sollte. Jochen Eder war nur die Schale einer Zwiebel, unter der sich etwas anderes versteckt."

Karte 5K – Notizzettel: "Felicia, du bist zu hastig gewesen. Niemals nach Schlussfolgerungen grabschen, hat dir das nicht schon dein Doktorvater gesagt? Es war einigermaßen eklig, sich all diese Joaquino-Filme noch mal anzusehen, auch wenn man nur nach rechten Füßen sucht. Wenigstens tötet es bei mir die Begierde ab... Und voilà: Es gibt den rechten Fuß von J. mit sechs und mit fünf Zehen, teilweise sogar im selben Film.

Nun ist die Copyrightangabe kein Hinweis darauf, wann tatsächlich gedreht wurde. Manche Filme könnten aus Reststücken anderer Filme geschnitten worden sein. Ich kann also nicht sagen, sechs Zehen bis 1994, danach fünf. Ich kann aber zwei Theorien aufstellen:
a) Joaquino war und ist immer Jochen Eder gewesen. Alexandra B. sagt, er sei auch Jonas X. Er hat seinen Fuß operieren lassen. Wer ist dann in Südamerika gestorben? Mit sechs Zehen noch dazu?
b) Jochen Eder war Joaquino, bis er sich totschießen ließ. Weil er so ein Markenartikel war, hat der Regisseur sich einen neuen 'Hengst' gesucht. Der neue ist der, den Alexandra B. erkannt hat, er hat normale Füße, kommt aber scheinbar aus dem Nichts. Wer ist er?
Ach ja, c) Jochen Eder war Joaquino, ging nach Südamerika, kaufte einen gefälschten Totenschein, ließ sich den Fuß operieren, kam zurück und wurde Jonas X. Welchen Dreck hat Jochen Eder da am Stecken?

Nun weiß ich wenigstens, warum er gar so zögerlich damit war, Anzeige zu erstatten. Und eigentlich kann ich meine Schlussfolgerungen auf eine komprimieren: Was ich weiß, ist lebensgefährlich."

Karte 5L – das Urteil: Die Urteilsverkündung dauerte drei Stunden und der Text kann im Internet nachgesehen werden. Frau K. kommentiert die stürmischen Äußerungen aus der Bevölkerung: "Ich finde es eigentlich auch nicht gerecht. Er ist schließlich vergewaltigt worden, mit der expliziten Absicht, seinen Ruf zu ruinieren. All diese Verlegenheitsurteile mit Nötigung, Androhung von Gewalt usw. sind nicht recht angemessen. Sollte es sich auf das Urteil auswirken, dass das Opfer selbst ein Betrüger ist? Manche scheinen die drei Amazonen eher als eine Art Verbraucherschützer anzusehen. Wie unappetitlich sie sind, in ihren weißen Lacklederstiefeln, den übermalten Lippenlinien und den gewaltigen Haartürmen. Immer gleich gekleidet, immer der große Auftritt. Maximal zwei Jahre auf Bewährung. Keinen Euro für Jonas X.

Ich habe Angst, aber ich muss noch einmal ins Prophetik-Institut. Ich habe die totale Schreibblockade."

Hier scheint das Material im Zettelkasten zu Ende zu sein. Aber hinter den Registern findet sich noch ein loses, handgeschriebenes Blatt.

"Der zwei Meter große Schrecken mit dem Putzeimer war heute nicht da. Jonas X öffnete selbst und führte mich in sein Büro. Überall Zeichen der Auflösung, ich sah, wie seine Mirakelhelme mit den dicken Kabeln fortgeschafft wurden. Kistenweise Broschüren und Prospekte in Umzugskartons. 'Ich mache zu', bestätigte er mir. 'Es wird viele Jahre dauern, bis ich wieder anfangen kann.'

Sollte ich noch so tun, als glaubte ich ihm? Er sah nicht so überirdisch aus wie sonst, der nächste Friseurbesuch ist fällig, und nun, wo ich den Ansatz des glatten braunen Haares sehen konnte, schien mir viel wahrscheinlicher, dass er Joaquino sein könnte. Auch die nächste Kollageninjektion sollte er nicht zu weit aufschieben. Wir sind tatsächlich ungefähr gleichaltrig...

Diesmal war ich vorbereitet, und ich lenkte ihn langsam dazu, seine Zustimmung zu bestimmten Inhalten des Buches zu geben. Persönlichkeitsrechte waren schließlich schon genug verletzt worden; hier war die Chance, seine eigene Sicht der Dinge darzustellen.

Seine Überraschung überraschte mich. Er wusste nichts von diesem Buch. Hellsehen? "Frau – ah – " und nun tat er so, als habe er meinen Namen vergessen und hob die Visitenkarte vom Tisch. Ich kenne die Manöver, Männer machen das und betonen dann meinen Titel mit einer besonderen Verachtung. "Frau – Doktor – Kappelhuber – was für eine Art Doktor sind Sie denn?" "Philosophie", entgegnete ich so ruhig wie möglich. Wenigstens war ich jetzt geheilt. War ich wirklich verliebt gewesen, in meinem Alter auch noch? Jetzt konnte ich das Buch schreiben, in vierundzwanzig Stunden, wenn es sein musste. Genüsslich sagte ich: "Mein Fachgebiet war der Positivismus von Wittgenstein. Ich habe mich allerdings wirklich bemüht, die Theorie der Prophetik unvoreingenommen zu prüfen – Sie können mir vertrauen."

Das tat er nicht, wie sollte er auch? Er stand auf, so schnell es seine Übermenschenrolle zuließ. Er wollte mich hinauswerfen! Ohne eine Äußerung! Oh nein, mein Freund, so nicht, dachte ich verärgert. Als er mir vorausging, streckte ich den Fuß aus und streifte ihm den rechten Slipper ab.

Er fuhr herum, wütend wie eine Giftschlange. So viel Hass in einem einzigen Gesicht hatte ich noch nie gesehen. Ich entschuldigte mich wegen meiner Tollpatschigkeit. Der Fuß war sofort wieder im Schuh, schneller, als ich bis fünf zählen konnte. Er schien normal zu sein, dieser Fuß, aber ich hatte in ein Wespennest gestochen, das ist klar.

Ich fahre irgendwohin zum Schreiben. Vielleicht in die Schweiz. Sicher ist sicher..."

Eine Hand fügt ein Foto hinter das letzte Blatt im Zettelkasten ein: Die Journalistin Felicia K., am 12. August 20.. um vier Uhr früh am Bahnhof von B* erschossen. Der Bolzen der Miniaturarmbrust war winzig, die Durchschlagkraft hingegen enorm. Das Foto zeigt eine kleine Brünette mit ziemlich großen Brüsten. Das Leinenkleid der Toten ist verrutscht, ihr langer Zopf gelöst, und das Haar saugt ihr Blut vom Boden auf.

Der Mann steht auf, schließt den Karteikasten und stellt ihn auf die Kaminböcke, um die ein kräftiges Feuer flackert. Es dauert lange, bis auch der letzte Schnipsel verbrannt ist.

 

Hallo,

kurz zum "Experimentellen": Ich hatte das Ganze als HTML-Dokument begonnen, so richtig schön grafisch. Etliche MB später fand ich dann, dass diese Hypertextstruktur - man kann im virtuellen Zettelkasten überall hin klicken - eigentlich mehr stört als interessant ist. Daher hier der Entwurf, ein wenig ausgearbeitet. Bin mal gespannt, ob ihr etwas damit anfangen könnt.

Thematisch habe ich wohl den Film über Jürgen Bartsch noch nicht verdaut: Im Moment fallen mir nur ekelhafte Sachen ein.

Gruß, Alli

 

Eine Geschichte aus Fragmenten zu schreiben, ist immer eine Gratwanderung

... aber teilweise auch einfacher, weil die Herkunft der Fragmente nicht erklärt werden muss. Hätte ich all die Recherchen der Journalistin so in der Art von Dean Koontz beschreiben müssen, wäre es ein ganzer Roman geworden.

Danke für das Lob! Ich war noch nie unsicherer mit einer Geschichte als wegen dieser hier.

Gruß, Alli

 

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