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Die Zelle

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27.04.2004
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Die Zelle

Totes Leben des Geistes, in Ketten gelegt, festgeschraubt und gewürgt; ausgesaugt von der aggressiven Stille, von dem schneidenden Rauschen der Lüftung nicht unterbrochen, eher bekräftigt; ein reißendes Keimvakuum, tote Leere, nichts; geistloser Schimmer von Licht, virtuelle Photonen – eine Röhre kaputt, sie flimmert –; strukturlose Zellenwand, stahlharte Glätte, der Geist schneidet sich daran, immer wieder; der Versuch zu atmen, unaufhörlich endloser Kampf gegen die Strangulierung des Vakuums.

Den Körper zu einer unbenutzten Hülle geronnen, nur die hochsensible Muskelpauke schlug im Zweitakt, ein verlässlicher Motor, nicht abzuwürgen. ER löste sich aus seiner Erstarrung und holte langsam und tief Luft. Kühl spürte ER es durch seine für eine halbe Minute brach liegen gelassene Luftröhre rauschen und sein Fleisch erfassen, dieses mehrmals gereinigte und gefilterte künstliche Nervengift. Langgezogen tonlos seufzend stieß ER wieder seinen Atem von sich. ER setzte sich auf die Liege und starrte die Falten an, die durch sein Gewicht in die makellos geglättete Decke Furchen zogen. Wie stark sein Leben zerfurcht worden war. Unausweichlich, unwissentlich war ER hinein gestürzt in die Furche, die eine, so tief, dass ER sein Leben hatte einbüßen müssen, vom Schicksal zum Tode verurteilt.

Erinnerung. Was ist schon Erinnerung, wenn man nichts hat, das einem hilft sich zu erinnern. All die schönen Stunden des Lebens in verschwommener Ferne, eingehüllt im Nebel des Vakuums.
Gequälter Geist, wie konnte man ihm das nur antun. Wie tot ER war, nicht mehr in dieser Welt, in dieser – der Welt! Herausgelöst und abgestoßen. Immense Infektionsgefahr! Unverantwortlich! Zu heikel! Unbekanntes rührt man besser nicht an. Die Ärzte ratlos. Ihre Gesichter voll abstoßendem Interesse.

Gezwungen zur Solidarität. Niemand würde sterben. Niemand infiziert. Die Seuche würde besiegt sein, bevor sie überhaupt ausbrechen konnte. Hervorragend. Die Welt würde heil sein, wenn ER sein Leben aushauchte. Erleichterung. Frieden.

Ruhig und sanft ließ ER seine Hand über das Tischchen gleiten. Seine Faust schloss sich, darin das Fieberthermometer. Mit einem ziependem Knirschen zerbarst es. Zeitlupenhaftes Hinabschweben der Splitter, glasige Federn. Ein Klirren auf dem Kachelboden, liebliches Geräusch im Gehörgang. Teekanne, Bierglas, Weinflasche... Jedes ein Klirren, anders, eigen. Ein berstendes Leben. Die Kanne. Wie traurig SIE damals war. Hatte noch den Versuch unternommen sie zu kleben, bis SIE unter Tränen, resigniert die Überreste des Erbstücks in den Müll gefeuert hatte. ER lächelte. Seine Hand klebte an der kalten Kachel. ER löste sie ab und blickte in die tiefrote, glänzende Blutlache. Diese Farbe! Voll feurigem, wirbelnden Lebens, doch schnell abkühlend, gerinnend. Eine Träne tauchte ein und webte einen milchigen zerlaufenden Schimmer ins Zentrum.
ER benetzte die Zeigefingerkuppe seiner unverletzten Hand mit Speichel und verwischte den Rand des sich langsam erhärtenden Blutes. ER hob den Finger zu den Lippen und küsste den süßlichen warmen Geschmack. Starr und taub sah ER zu, wie der Fleck sich verkrustete, die Farbe verschwand und einem toten, bleichen Braun wich.

Ein pneumatisches Zischen verkündete die Schleusenöffnung. Eintreten einer Plastikschale mit Menschenkern. Durch den Filter gedämpfte Atemgeräusche – schnaufend verzerrter Luftaustausch. Künstliches Maschinenwesen. Seelenlos – Nein! – gemütslos.
Stechender Rausch, fressender Nebel aus der Sprühflasche. Totes Blut sauber entfernt! Surrendes Einrasten der Schleusentür.

Freiheit. Was ist Freiheit, wenn man hier lebt, auf Erden, gemeinsam allein. Begriff und Bedeutung klaffen auseinander. Achtlos das Wort daher gesagt. ER war frei!
Wie ein nichtklingender Gong schlug es in die Leere seines Kopfes, als seine Stirn die eisige Kachel küsste. ER versuchte Mörtel aus den Fugen zu kratzen, der Glätte ein Teil Macht zu entreißen – unmöglich. Traurig sah ER die Knicke in seinen Fingernägeln, weiße Streifen im Glanz, Unterbrechung der Routine, für immer.
In der chemischen Lache Desinfektionsmittel spiegelte sich sein müdes Gesicht. Da, wo sein Blut gewesen war. Seine Spuren verwischt, eliminiert. Ja, sein Blut hatte ER nie in die Welt gesetzt. Desinfizierter Sex. Sie hatten noch keine Kinder gewollt – noch nicht...

Staubtrocken sein Auge, verzweifelt nach Farbe suchend, Tränke für den Geist. Bleiche blutleere Knochenhand auf weißem Laken. ER ließ sie herab hängen, sodass die Venen auf seinem Handrücken anschwellten und blau hervor traten. Kalt und krank, weiche Kanälchen für den alten nahrungslosen Lebenssaft. Feierabendverkehr.
Hatte ER gelebt? Zeit, derer ER glaubte noch genug zu haben um sein Leben nach seinen Träumen zu leben, war dahin geschmolzen, wie Eiswürfel im Backofen.

Leben. Was ist schon Leben, wenn man nichts hat um zu leben, der seelenbesetzte Körper in einem grauen Brei der Sinnlosigkeit wandelt, freudlos, unerbraucht alt...
Mit schmerzverzerrtem Gesicht krallte ER seine Fingernägel in das dünne, kranke Fleischgewebe seiner Brust. Seine Finger verkrampften. Immer stärkeres Anziehen der Muskeln, Spannung der Sehnen im Handrücken, sein Arm zitternd vor Anstrengung, zerfurchter Hals, dentaler Schraubzwingendruck, Liderpresse. Durchzug der willensgesteuerten Druckwelle durch Brust und Bauch, Einzug der an dem Rippengerüst reißenden Krampfhärte, Auszug der weichen Unbegrenztheit des Körpers. Zuckende Schenkel, gebogene Zähen. Verhärtung der Schale, Schwere, körperumgreifendes Ausnahmegespür, lauter werdender Nervenbohrer-Pfeifton, reibende Fasern, glühende Eiweißfunken, schlagender Motor, gepresster Atem – verhallend, zischendes Blut, taube Nerven, gepresstes Zentrum, tonloses Schreien, pfeifender Brülltonrausch, Versinken im Boden, alle Kraft gebündelt zur Spaltung der zerreibenden, beißenden Zellenwände, die aggressiv immer dichter zusammen rücken; doch Schwinden der Kraft, Ohnmacht, Kollabieren, Zusammenfall, Sinnesberaubtheit, Taubheit, Verstummen, Stille, Schwärze.

Knall! Die Kunststoffplatte flog beiseite und eröffnete den externen Blick durch den verkünstlichenden luftlosen Gesichtsfilter der Plexiglasscheibe.
Farbe! Ein Feuerwerk der Sinneseindrücke, überkommender Rausch des Blickgeflechts, verwobenes Abtasten, Aufsaugen des Lichthagels, verschwimmender singender Glutsturm, still rauschend umwebend – bis zum glühend erhebenden Gesichtstreffen! Einbrechende Sinnesspringflut über den erregt tanzenden und wirbelnden Geist! Ein Blick, der den ganzen Körper durchzieht und den siedenden Glücksdampf ins glühende Fleisch ergießt! Der ganze Körper ein einziges flammendes Auge! Erquickliches Leben!
Ein körperlich visuelles Konzert, jedes Mal eine Uraufführung.
Vielleicht das letzte Mal, dachte ER. SIE nickte. Sein verschwommenes Auge erfasste die weich glitzernde Tränenwässerung ihres Blickes, die ER in dem seinigen wiederspiegeln fühlte.
SIE legte ihre zarten, schlanken Finger an die Scheibe und lächelte voll Schmerz. Seine kalte bleiche Hand schob sich durch die sterilen Luftpartikel in spannender Erwartung die Wärme zu verspüren – gequält zuckte ER zusammen – statt dessen eisiger Empfang der gläsernen Barriere.
Vom anorganischen Nichts durchbrochene Berührung. Endlos, unerreichbar voneinander getrennt durch die Unendlichkeit einiger Millimeter. Asymptotische Annäherung zweier Leben.
Ebenso kalt die zweite Handberührung. Eisbedeckt ihre glühenden Stirnen. Triefende Verschwommenheit ihrer Gesichter. Auflösender, verwischender, verwirbelnder Farbenstrom. Verschmelzen der unendlichen Pracht.
Unscharfer, doch fester Blick in ihre Augen, Lebensfülle, Atem schöpfend, ein letzter vor dem wohlig beruhigenden Senken der Liderstille über dem von brennenden Tränen überschwemmten Sichtfenster.
Stoßweise Wellen zitternden Atems quollen zwischen seinen blutleeren, doch glühenden Lippen hervor, als diese einen leidenschaftlichen Kuss in das tote Eis brannten, und ER wusste, dass SIE das gleiche tat.

Wie Nadelstiche biss die Todeskälte in seine Lippen und entfaltete ihre Wurzeln unter seiner Haut. Immer tiefer drangen ihre Spitzen vor und rissen sein Fleisch in rasende Taubheit. Der verkeimte Inhalt seiner Blutkanalisation gefror zu eisverkrusteten verschwindenden Rinnsalen, die die Welle der Leere weiter verschoss. Seine gefrierenden Eingeweide zitterten verkrampft, bevor sie zu zuckenden Eisklumpen geronnen. Sein ehrgeiziger Muskelmotor lief auf Hochtouren, als er erfasst wurde und stotternd seinen Geist aufgab.

ER spürte seine Lippen an dem Plexiglas festgefroren. Fähig zu nichts, eingefroren im Nichts, spürte ER ohne Gefühl nichts als das eiskalte Nichts.

Doch langsam, ganz langsam taute ein Loch in die Taubheit. Ein warmer Wind befächelte ihn. Und ER spürte erst die weichen brennenden Lippen, dann die glühenden Hände, die sich zitternd schlossen, die geschlossenen Augen, unter deren Lidern die heiße Nässe hervor brach, den gesamten vor Trauer und Hitze bebenden niederknienden Körper, den ER vollständig umschloss...

grenzenlose ruhige volle schöne Weite Unendlichkeit Erreichen des Absoluten allem grenzenlos allem gesprengte Ketten durchbrochene Schranken lebendige Fülle
alles absolut alles
lebendiger Tod des Körpers freies Leben des Geistes
Leben
Freiheit

 

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