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Drachenjäger
Drachenjäger
Unten im Flachland zieht der große Fluss eine weitläufige Schleife. Ich folge ihm, obwohl ich dabei das sumpfige Land durchqueren muss, das zwischen den beiden Armen liegt. Meine Füße in den stabilen Wanderschuhen schmerzen und der Rucksack drückt auf meine Schultern. Allmählich werde ich zu alt für diese Wanderung. Nur noch dieses Mal, habe ich Kilian gesagt, nur noch dieses eine Mal, und dann werde ich zu Hause bleiben, bei ihm und unserem Sohn. Ich hoffe natürlich, dass ich das nicht muss.
Gegen Abend erreiche ich die alte Trauerweide, die schon hier steht, seit ich mit meinen Wanderungen begonnen habe. Wie immer am achten Tag meiner Reise lasse ich mich zwischen ihren Wurzeln nieder und packe mein karges Nachtmahl aus. Brot und Käse, dazu Wasser aus meiner Feldflasche. Beim Auspacken fällt mir der kleine Lederbeutel in die Hände und ich drehe ihn zwischen den Fingern hin und her, hebe ihn zu meinem Gesicht und rieche daran. Der würzige Geruch von getrockneten Nelken steigt mir in die Nase und der Siegelring fühlt sich hart an durch das abgewetzte Leder.
Aber es ist wohl an der Zeit, dass ich eine Erklärung abgebe, wer ich bin, und wohin ich reise. Dazu muss ich eine Geschichte erzählen, die Geschichte eines Mädchens und eines Helden.
Das Mädchen hieß Lia, und war die Tochter eines der reichsten Bauern in dem kleinen Dorf, in dem sie lebte. In einem kalten Winter, als der große Fluss beinahe vollständig zugefroren war, lief sie noch vor der Dämmerung des anbrechenden Tages mit einem Eimer zum Fluss hinunter. Sie hoffte, sich noch vor dem Morgenmahl waschen zu können, bevor ihre kleinen Geschwister wach waren und der große Wohnraum des Hauses mit Lärm und Leuten erfüllt war. Das Mädchen war gerade vierzehn Jahre alt geworden und langsam begann ihre Figur, weiblichere Formen anzunehmen. Deswegen schämte sie sich zunehmend, sich vor ihren Geschwistern und vor allem vor ihrem Vater zu entkleiden.
Es war ein sehr unangenehmer Wintermorgen, der Wind heulte um die Häuser und fegte Schnee in wilden Wehen vor sich her, nahm Lia die Sicht und wehte Kälte in ihre dicke Pelzjacke. Als der Fremde aus den wilden Böen auf sie zu trat, bemerkte sie ihn erst im letzten Augenblick.
Erschrocken fuhr sie zurück, als sich die Gestalt aus dem Schneetreiben schälte, ein großer Mann war es, unförmig in seiner Pelzjacke, die Kapuze zum Schutz vor dem Wind und dem Schnee tief ins Gesicht gezogen. An seiner Seite war ein langes Schwert zu erkennen. Vor Schreck hatte Lia den Wassereimer fallen lassen, jetzt griff sie etwas verlegen danach, als der Fremde zu sprechen begann.
„Sagt, holde Maid, liegt Euer Dorf weit von hier? Ich bin ein müder und hungriger Wanderer, der gerne für eine Unterkunft und ein vernünftiges Essen zahlen wird!“ Lia presste den Eimer fest an sich und suchte, die Züge des Mannes unter seiner Kapuze zu erkennen.
„Ich... meines Vaters Hof liegt nur etwa fünfzig Schritte von hier, ich bin sicher... ich meine, es würde uns freuen, Euch als Gast begrüßen zu dürfen!“ Etwas trotzig fügte sie hinzu: „Aber erst muss ich Wasser holen!“
Der Fremde trat so rasch auf sie zu, dass sie abermals erschrocken zurück fuhr.
„Das ist keine Arbeit für ein so hübsches Mädchen. Lasst mich das erledigen!“ Und mit diesen Worten hatte er ihr den Wassereimer aus der Hand genommen und war zum Fluss hinunter geeilt. Noch bevor Lia mit der kleinen Handaxt zur Stelle war, um die dicke Eisschicht über dem Wasser aufzuschlagen, hatte er bereits mit dem Hacken seines schweren Reiterstiefels das Eis eingetreten und den Eimer gefüllt. Schweigend stieg er neben dem Mädchen den Hang zum Haus hinauf, den Henkel des Eimers umklammernd, als wäre er eine Art Rettungsleine.
Als Lia die Haustür aufstieß, schlug ihr eine Wolke von warmer, muffiger Luft entgegen, die Gerüche von vielen Menschen, von der nassen Wolle der Schafe, die im hinteren Teil des Wohnraumes zusammengedrängt standen, dazu der Duft nach frischer Gemüsebrühe. Das Lachen ihrer kleinen Geschwister und das Geklapper, das die Mutter am Herd verursachte, begrüßten sie zu Hause. Noch bevor Lia ein Wort sagen konnte, tauchte ihr Vater im Gang auf. Er hatte schon immer ein gutes Gefühl für den richtigen Zeitpunkt gehabt. Misstrauisch betrachtete er den Fremden, der den Gang beinahe vollständig ausfüllte und sich ein wenig ducken musste, um nicht mit dem Kopf an die Decke zu stoßen.
„Wen bringst du uns hier mit, Lia?“ Obwohl er die Frage an seine Tochter richtete, ließ er seinen Blick nicht von dem Fremden. Dieser trat vor und strich sich die Kapuze vom Kopf. Langes blondes Haar fiel ihm über die Schultern und Lia, die nach oben schielte, blickte in ein kantiges Gesicht mit einem dunklen Schatten um das Kinn. Über der linken Braue des Mannes zeigte sich eine weiße Narbe, die in gerade Linie bis zu seiner Schläfe verlief. Er wirkte müde und abgespannt und beeindruckte Lia ungemein.
„Verzeiht mein Eindringen, ohne Euch um Erlaubnis gefragt zu haben, werter Herr, aber ich bin sehr müde und hungrig und Eure reizende Tochter meinte, Ihr hättet nichts dagegen, mir gegen ein entsprechendes Entgeld Speise und Bett zu bieten!“ Der Fremde verzog sein Gesicht zu einem freundlichen Lächeln und streckte Lias Vater eine riesige Hand zum Gruß hin. Mit einem letzten etwas zweifelnden Blick nickte der Vater und winkte den Mann in die Stube. Lia folgte neugierig, den Wassereimer, den der Fremde bei der Tür abgestellt hatte, ganz vergessend.
In dem engen Wohnraum wirkte der Mann sehr deplaziert. Obwohl Lias Vater nicht gerade klein war, überragte der Fremde ihn doch um mehr als einen Kopf. Seine Kleidung erwies sich, als er einmal seine Pelzjacke abgelegt hatte, als schäbig, mehrfach geflickt und ziemlich dreckig. Allerdings trug er ein Kettenhemd über seiner Lederjacke, und das faszinierte Lia.
Lias Vater nötigte den Mann auf die Eckbank und Lias Mutter, der es offensichtlich etwas unwohl zumute war, im Anbetracht des großen Fremden, stellte ihm nach kurzem Zögern eine Schale mit Suppe vor. Der Unbekannte stürzte die Suppe in einem einzigen Zug hinunter und sah sich dann mit hungrigen Augen nach mehr um. Lias Mutter füllte die Schale wieder und gab dem Mann dieses Mal noch einen großen Kanten Brot dazu, und während er, jetzt langsamer, aß, sprach er zum ersten Mal wieder, seit er die Stube betreten hatte.
„Ich muss Euch danken, ihr guten Leute. Ihr müsst wissen, ich war beinahe am Verhungern da draußen. Mein Name ist Ture, ich gehöre zur Armee des Fürsten Conrad und ich habe im Schneesturm vor fünf Tagen meine Einheit verloren. Wir waren auf dem Weg nach Salzfurt, als uns der Wind und der Schnee überraschten. Tagelang bin ich herumgeirrt, meine Vorräte hatte ich schon am zweiten Tag aufgebraucht. Nun war ich also dort draußen im Schnee, ohne Essen und in einer Gegend, die ich nicht kenne, und ich dachte schon, ich müsste sterben, als ich plötzlich Eure schöne Tochter sah. Wie ein Engel erschien sie mir, um mich zu erretten!“
Er warf einen Blick zu Lia und zwinkerte ihr mit einem Auge zu, woraufhin sie heftig errötete und verlegen den Blick senkte. Noch nie hatte jemand sie als schön bezeichnet.
„Salzfurt liegt gut drei Wochenritte von hier!“ hob ihr Vater an und warf einen befremdeten Blick zu Lias Mutter, den der Krieger gar nicht zu bemerken schien.
„Und es sieht nicht so aus, als würde der Wind nachlassen in der nächsten Zeit. Ihr müsst Euch wohl einige Tage, Wochen vielleicht auch, mit unserer Gesellschaft begnügen. Auch wenn wir nur einfache Bauern sind!“ Das Letzte sagte er nur, um aus dem Besuch mehr Geld heraus zu pressen, das wusste Lia genau. Aber irgendwie erschien ihr das dieses Mal nicht recht und sie runzelte strafend die Stirn, was ihr Vater allerdings völlig missachtete.
„Oh, ich bin Euch dankbar für jede Unterkunft, und wenn ich im Stall schlafen müsste. Und ich werde Euch gut entlohnen, seht!“ Bei diesen Worten zog er einen Beutel hervor, den er auf dem Tisch ausschüttete. Lauter kleine Goldklumpen rollten vor den großen Augen der Familie auf den Tisch. Ture lachte.
„Ja, der Fürst Conrad zahlt nicht schlecht, wenn es auf Drachenhatz geht!“
„Drachenhatz?“ Lia horchte auf. Wieder lachte der hünenhafte Fremde.
„Ja, Drachenhatz, meine Kleine, in Salzfurt scheint es wieder Drachen zu geben, die der Winter aus den Bergen heruntergetrieben hat. Die Leute fangen schon wieder mit dem Unsinn an, ihnen Jungfrauen zu opfern. Ha, als ob sich ein alter Drache mit einer Jungfrau begnügen würde! Meiner Meinung nach sollte man die Jungfrauen lieber anderen Leuten überlassen!“
Hierbei zwinkerte er Lia wieder zu und sie spürte, wie es ihr ganz heiß wurde. Lias Vater bedachte Ture mit einem missbilligenden Blick. Der jedoch sprach unbeirrt weiter.
„Auf jeden Fall sind wir Männer von Fürst Conrad aufgebrochen, um uns um die Drachen zu kümmern. Auf halbem Wege nach Salzfurt sollten wir die Drachenjägerin Jana vom Wiesengrund treffen, die uns behilflich sein wollte, aber wir müssen sie irgendwo verpasst haben!“
„Drachenjägerin?“ Lia traute ihren Ohren nicht.
„Es gibt Frauen, die Drachen jagen?“
„Aber sicher gibt es die, und ich sage dir: Es sind die besten. Und Jana vom Wiesengrund ist die Beste der Besten. Wenn du möchtest, kann ich dir so einiges über sie erzählen!“ Lia nickte eifrig, doch ihre Mutter nahm sie beiseite.
„Lia, komm jetzt mit mir, Schafe füttern!“ Nur widerwillig ließ sich das Mädchen mitziehen.
Im hinteren Teil des Raumes, der durch einen niedrigen Zaun aus geflochtenen Weidenruten abgetrennt war, drückte Lias Mutter ihr einen Korb mit Futter in die Hand und zog sie dann weiter zwischen die dicht gedrängt stehenden Schafe hinein.
„Lia, Mädchen, hör mir zu. Nimm dich in Acht vor diesem Mann. Er ist Soldat, und das heißt nichts Gutes. Man weiß ja, was Leute von seiner Sorte mit Frauen so anstellen. Und von einem Fürsten Conrad habe ich auch noch nie etwas gehört. Vermutlich ein Räuberfürst, soviel Gold, wie der da hat! Und Drachen! So ein Unsinn! Lass dich bloß nicht von ihm bezirzen!“ Lia sah die Mutter verwirrt und ein klein wenig beleidigt an.
„Ich kann schon ganz gut auf mich selber aufpassen. Außerdem werde ich mich doch mit Kilian verloben, im Frühjahr, da werde ich schon keine Dummheiten machen!“ Die Mutter seufzte.
„Ach, Kind, die Welt ist doch viel grausamer, als du weißt, ich möchte doch nicht, dass dir etwas passiert!“ Aber Lia hörte nicht weiter zu, sondern schüttete das Futter in die Krippe und lief dann wieder zur Eckbank zurück, wo sich Frederik und Cora, ihre kleinen Geschwister bereits eingefunden hatten, um dem Fremden bei seinen Geschichten zu lauschen.
Die Winterstürme wurden nur noch schlimmer, und Ture blieb auf dem Hof, bis der Frühling kam. Er zahlte gut, und so duldete Lias Vater ihn gerne. Zudem machte der starke Mann sich nützlich. Er schlug Holz und zog voll beladene Schlittenfuhren, er reparierte zerbrochenes Werkzeug und er kümmerte sich um die Kinder, wenn die Eltern zu viel zu tun hatten. Ganz allmählich entwickelte er sich zu einer Art Familienmitglied. Lia hing an seinen Lippen, wenn er von Drachen und Drachenjägern erzählte, von seinen Taten am Hofe des Fürsten und besonders von der edlen und schönen Jana vom Wiesengrund, der Drachenjägerin und Heldin. Und ganz allmählich keimte in Lia der Wunsch, dass sie das auch tun wollte: Drachen jagen. Auch sie wollte eine edle und schöne Reckin sein, und mit den Soldaten über die Lande reiten. Und da Vater und Mutter nichts davon wissen wollten, wandte sie sich schließlich vertrauensvoll an Ture.
„Du willst eine Drachenritterin sein?“ Ture betrachtete sie von oben bis unten.
„Nun, da gehören viele Jahre harten Unterrichts dazu. Wenn du es wirklich willst, könnte ich dir ein paar Grundlagen beibringen!“ Lia nickte eifrig, und abends, nach erledigtem Tagewerk, oder wann immer sie sich sonst davonstehlen konnte, lief sie mit Ture in die Scheune und übte dort, das riesige Schwert zu schwingen, das er ihr in ihre schmalen Hände legte. Auch Laufen und Springen gehörte mit zu den Übungen, und wie man einen Gegner auch ohne Waffen bezwingen konnte. Und Lia übte und übte, bis ihr jeder Knochen im Leibe weh tat. Aber sie merkte, wie sich ihre Muskeln stählten und sie geschmeidiger wurde und sich eleganter bewegte. Ture jedenfalls zeigte sich von ihren Fortschritten angetan.
„Gut, gut, kleine Prinzessin!“, pflegte er zu sagen.
„Wenn du im Sommer immer noch so entschlossen bist, eine Kämpferin zu werden, so wandere zur Sonnenwende den großen Fluss hinab, bis zu dem kleinen Drachenschrein, dort kommt Jana vom Wiesengrund immer vorbei, um sich ihren Segen für das Jahr zu holen, und dann kannst du in ihre Dienste treten!“ Und Lia sah mit großen Augen zu ihm auf und betete für sich, dass es bald Sommer werden würde.
Die Wintertage wurden schließlich wieder länger, der Schnee begann zu schmelzen und bald sangen die ersten Vögel in den Zweigen. Allerdings gab es keine Anzeichen, dass Ture zu gehen beabsichtigte. Und Lia, glücklich über jede Stunde Ausbildung, hatte nicht vor, ihn zu ermuntern. Als sich das erste Gras zeigte, und die Schafherden auf die oberen Weiden getrieben wurden, nahm sie die Schäferhunde und lief mit ihnen um die Wette bis zu den Wiesen hin, um dann in den klaren Bergteichen zu schwimmen und zu tauchen. Jeden Abend schloss sie dann die Gatter an den Bergpfaden und rannte wieder hinab, dem heimatlichen Herd und Ture entgegen.
Als die Schneeglöckchen bereits verblüht waren und die Bäume in den ersten Blättern ergrünten, verkündete Ture, der einen Brief zu seinem Fürsten gesandt hatte und lange auf die Antwort gewartet hatte, dass der Fürst ihm geschrieben hätte, die Drachen aus den Bergen seien weiter nach Norden gezogen und würden nun in der Gegend nur eine Woche südlich von dem Dorf wildern. Er, Ture, solle bleiben und sehen, ob sie auch dieses Dorf bedrohen würden. Im Herbst dann würde Fürst Conrad den Recken mit seinen Truppen abholen kommen. Da sich der Drachenjäger im Dorf beliebt gemacht hatte, er half beim Herden hüten und Felder bestellen, bei Reparaturen und beim Hausbau, begrüßten es die Bewohner, dass er ihnen erhalten blieb.
Allerdings zog er aus dem Haus von Lias Vater aus und bewohnte nun eine kleine Hütte am Dorfrand, in der früher ein alter Medicus gelebt hatte. Und Lia, in ihrem eingebildeten Mädchenkopf, glaubte, dass er auch wegen ihr bliebe. Sie beschloss, eine noch bessere Schülerin zu werden und ging Abend um Abend, wenn die Herden sicher in ihren Pferchen standen, zu der Hütte, um noch mehr über den Kampf und die Drachen zu lernen. Ihrem Vater, der den Schwertübungen bereits im Winter nur Missbilligung entgegen gebracht hatte, erzählte sie, dass sie länger bei den Herden bliebe um die trächtigen Mutterschafe zu betreuen. Da sie allein bei den Herden war, war dies eine taugliche Ausrede, um ihre Übungen zu verheimlichen.
Als die Bäume dunkleres Laub ansetzten und die Blumen in voller Blüte standen war denn auch die Zeit für Lias Verlobung mit Kilian, dem Sohn des Dorfpriesters gekommen. Tag um Tag summte das Wohnhaus vor Aktivität, und alle Dorfbewohner arbeiteten zusammen, denn man freute sich ungemein, wieder ein großes Fest feiern zu können. Lia glühte vor Stolz, auch wenn es ihr ab und zu etwas mulmig wurde und ihr Körper vor Aufregung kribbelte. Ob Kilian etwas dagegen hatte, dass sie Drachenjägerin wurde?
Noch immer ging sie oft abends zu Tures Hütte, doch häufiger noch kam es vor, dass sie nur im wilden Lauf zu den Weiden hinauf hetzte, bis ihr die Luft ausging, und sie sich ausgepumpt und mit stechender Seite zu Boden fallen ließ. Etwas rumorte in ihr, und sie konnte nicht sagen, was. Immer öfter wurde ihr schwindelig oder ihre Knie zitterten. Nur durch Laufen schien dieses Gefühl besser zu werden.
An einem sehr milden Tag, eine Woche vor der Verlobung, führte sie ihr Weg gegen Abend zu der Hütte von Ture. Die Luft war schwer vom Blumenduft, beinahe war es ihr unangenehm. Dann, als sie nur noch wenige Schritte von der Hütte entfernt war, überlegte sie es sich anders. Irgend etwas in ihr wollte nur noch davonlaufen.
Sie wandte sich auf der Stelle um und lief einen kleinen, schmalen Pfad hinauf, der zu der Sommerspitze führte, dem alten, erloschenen Vulkan mit dem See im Krater. Immer schneller lief sie, sprang über Steine und Äste, tauchte unter den Gattern des Weideviehs hindurch und zwängte sich durch Hecken. Ihr Training war gut gewesen, sie schaffte den Lauf zum Krater, ohne inne zu halten. Oben angekommen streifte sie Hemd und Hose ab – auf den Weiden trug sie oft Männerkleidung, um beim Laufen nicht behindert zu sein – und tauchte kopfüber in das klare kalte Wasser. Mit tiefen Zügen durchmaß sie den See, hin und zurück, immer wieder, bis sie sich erschöpft ans kiesige Ufer treiben ließ und dort liegen blieb. Und da sie bis zu ihrer Erschöpfung gelaufen und geschwommen war, schlief sie dort ein.
Sehr viel später erwachte sie, als sich ein großer Schatten über sie beugte. Sie schrak hoch und erkannte in der Dunkelheit der inzwischen hereingebrochenen Nacht Ture, der neben ihr stand. Ihr wurde bewusst, dass sie vollständig nackt war, und hastig raffte sie ihre Kleider zusammen, die in der Nähe lagen, streifte das Hemd über und richtete sich auf, um ihren Lehrmeister anzusehen.
„Deine Eltern haben sich Sorgen gemacht“, sagte er ruhig, wobei er sie mit einem merkwürdigen Blick ansah. „Warum bist du weggelaufen?“ Lia sah zu ihm auf und schluckte, als sie die Antwort auf diese Frage erkannte. Auf einmal war alles klar, warum ihr so komisch zumute war und ihre Läufe durch die Berge. Unendlich erleichtert atmete sie durch. Sie brauchte es nur sagen, und alles würde gut werden. Einmal holte sie tief Luft, dann stieß sie hervor: „Ture, ich liebe dich, ich will dich heiraten!“ Jetzt war alles in Ordnung. Er musste sie auch lieben, sonst wäre er nicht hier geblieben. Das musste einfach so sein.
Er sah sie einige Augenblicke lang an, in seinen Augen flackerte etwas, das Lia für Liebe hielt, dann trat er auf sie zu, um sie an sich zu ziehen und sie sanft auf die Lippen zu küssen, gleich darauf schob er sie jedoch von sich. „Lia, Mädchen, ich bin viel zu alt für dich. Und du wirst dich bald verloben!“ Sie sah zu ihm auf, verwirrt, immer noch erfüllt von dem Gefühl des Kusses.
„Ich werde mich eben nicht verloben, ich werde mit dir kommen und Drachenjägerin werden. Dann können wir immer zusammen sein!“ Hoffnung erfüllte ihr Herz. Zwei Wünsche schienen erfüllt werden zu können. Ture lächelte vor sich hin.
„Mädchen, wenn dies dein Wunsch ist, dann nimm dies!“ Er streifte einen goldenen Siegelring mit einem Drachensiegel darauf vom Finger und reichte ihn ihr.
„Ich bin eigentlich hierher gekommen, um dir zu sagen, dass ich doch schon früher abreisen muss. Aber wenn du mit mir kommen willst, dann sei zur Sonnenwende am Drachenschrein. Dort wirst du Jana treffen und die wird dich zu mir geleiten. Bis zur Sonnenwende kannst du dir ja noch überlegen, ob du mich alten Mann begleiten willst. Und nun komm nach Hause!“ Lia, den Ring fest in ihrer Hand eingeschlossen, folgte dem Drachenjäger den Bergpfad hinab, das Herz ganz leicht vor Glück.
Der Frühling ging, und Ture verließ das Dorf. Lias Verlobung mit Kilian fand wie geplant statt, aber bei sich wusste sie, dass sie im Sommer zu Ture gehen würde, und dann würde sie nichts mehr trennen, Drachenjäger und Drachenjägerin.
Als die Zeit der Sonnenwende näher rückte, erbat sie vom Vater die Erlaubnis, ihre Verwandten im nächstgelegenen Dorf besuchen zu dürfen, schnürte ihr Bündel und ihre Wanderschuhe und zog los. Niemandem sagte sie, wohin sie wirklich ging, und sie erwartete auch nicht, wiederzukehren. Sie wanderte den großen Fluss hinab, folgte seinen Schlingen Tag um Tag, kaufte sich Brot in den nahe gelegenen Dörfern und malte sich aus, wie es sein würde, Drachen zu jagen. Nach zwei Wochen unermüdlicher Wanderung erreichte sie den Drachenschrein, einen kleinen weißen Pavillon mit prächtigen Drachen aus pechschwarzem Basalt, die sich um seine Stützpfeiler wanden. Auf der kleinen Bank im Inneren setzte sie sich nieder und wartete.
Pilger kamen und gingen und sahen mit verwunderten Blicken zu dem schweigsamen Mädchen auf der Bank hin, das das Altarbild mit den roten und goldenen Drachen so intensiv betrachtete, als wünsche es, dass es die mächtigen Tiere zum Leben erwecken könne. Am Sonnenwendtag fand eine kleine Weihefeier im Schrein statt, aber es waren außer Lia nur Männer anwesend, keine Frauen. Keine Jana vom Wiesengrund. Lia jedoch harrte aus, bis die Sonnenwende um eine Woche verstrichen war, dann gingen ihr die Vorräte aus und sie musste in Richtung Heimat zurück ziehen. Sie war traurig, doch nicht allzu sehr. Er hatte ihr kein Jahr genannt, in dem sie sich einfinden sollte. Ganz bestimmt hatte er nur gemeint, dass sie noch reifer werden sollte. Und selbst wenn sie im nächsten Jahr verheiratet sein sollte, was zählte das schon gegenüber dem älteren Versprechen, dass sie ihm gegeben hatte.
Erst in ihrem zwanzigsten Lebensjahr wagte sie einen der Priester zu fragen. Er kenne keine Jana vom Wiesengrund, so sagte er, und er lachte über sie, weil sie noch an Drachen glaube. Drachen seien ein Märchen, genauso, wie es Drachenjäger wären. Die Sonnenwendfeier in diesem Schrein sei nichts anderes, als eben dies. Ein Sonnenfest, ein Fruchtbarkeitsfest. Das Symbol für den Sonnengott sei doch der Drache, ob sie das nicht gewusst habe?
Als sie von dieser Reise zurück kehrte, weinte sie viel. Ihr Mann, Kilian, fragte sie, was ihr auf dem Herzen liege, aber sie konnte es ihm nicht sagen. Er war ein guter und großzügiger Mann und ein liebender Vater für ihren Sohn, aber sie konnte ihm nicht sagen, dass sie einen anderen liebte. Dass sie ihn liebte, für das, wofür er stand und was doch eine Lüge war, ein bunter Traum. Und im nächsten Jahr zog sie wieder los.
Seht ihr, ich habe nie jemandem gesagt, warum ich diese mühevolle Wanderung jeden Sommer unternehme. Einen Monat lang bin ich unterwegs und folge dem Fluss. Es gibt mir Freiheit. Ich sitze im Drachenschrein – ich werde ihn nie anders nennen – und höre mir die Sonnenwendfeier an, und für die Zeit meiner Hinreise kann ich davon träumen, dass es ein anderes Leben für mich gibt. Natürlich weiß ich, dass es ein Traum ist. Doch dann wende ich den Siegelring in meinen rissigen Händen und bin mir nicht mehr so sicher. Man sagte mir, Ture wäre ein Betrüger gewesen, der sich ein Winterquartier für billiges Geld erschleichen wollte, und vielleicht ein Liebchen für sein Bett, doch ich weiß dass er das nicht war. Man sagt, er wäre wahnsinnig gewesen, ein Verrückter, verwirrt durch die Leiden des Krieges, doch er hatte das Gold und er hatte Ehre. Ich weiß nicht, was er wirklich getan hat, für mich jedenfalls wird er immer ein Held sein. Ein Drachenjäger.