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Schachtelsätze

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Schachtelsätze

Hier könnt ihr die mit allen Gliedern wild um sich schlagenden Satzungetüme, die ihr zwischen den Seiten eurer Bücher hervorgezogen habt, an den virtuellen Pranger stellen.
Ich fange mal mit einem Monstersatz aus Friedrich Dürrenmatts Kurzgeschichte "Der Tunnel" an (es ist gleichzeitig auch der erste Satz der Story):

"Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war vielleicht seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte (Ormond Brasil 10) und über seine Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel."

 

Oh Mann, wieso ist der Kerl so berühmt! Ich verstehe kein Wort. Hier hätte man diesen Satz in der Luft zerrissen. brrrr! Heißt es wirklich "welches er sah"?

 

Jesus, nicht gerade sehr leserfreundlich. Bei solchen Sätzen legen 90 % der Leser (also die, die "freiwillig" lesen) das Buch aus den Händen und verpassen womöglich die interessanteren Dinge. Schade eigentlich. Ich versuche, Verschachtelungen im Rahmen des Verständlichen zu halten.

@tamara

Ja, heißt welches, denn es bezieht sich auf das Schreckliche - zumindest verstehe ich das so.

 

Ja, der Satz ist wirklich extrem, zumal er auch noch den Anfang der Geschichte darstellt. Besser kann man keinen Leser abschrecken. Aber etablierte Autoren können sich sowas leisten...

 

Hmm. Also ich mag den Satz. Natürlich muss man ihn zweimal lesen, aber dennoch, er hat was. Liegt vielleicht daran, dass Dürrenmatt sein Handwerk beherrscht - viele Autoren, die ebenfalls solche Satzmonster in die Schlacht werfen, tun das leider nicht.
Gute Schachtelsätze sind was Feines. Und dementsprechend selten.

 

Wendigo schrieb:
Hmm. Also ich mag den Satz. Natürlich muss man ihn zweimal lesen, aber dennoch, er hat was. Liegt vielleicht daran, dass Dürrenmatt sein Handwerk beherrscht - viele Autoren, die ebenfalls solche Satzmonster in die Schlacht werfen, tun das leider nicht.
Gute Schachtelsätze sind was Feines. Und dementsprechend selten.

Ich habe auch nichts gegen Schachtelsätze, wenn sie gut aufgebaut sind und einen auf den Inhalt der Geschichte bezogenen Zweck erfüllen, der Dürrenmatt-Satz ist mir persönlich aber schon zu extrem. Sicher, man kann ihn verstehen, Lesefreundlichkeit sieht aber anders aus...

 

Ich hab gehört, Thomas Mann soll darin Meister sein und widmet Sätzen eine ganze Buchseite - kleingedruckt! Ich hab ihn leider noch nie gelesen, nur Klaus Mann (sein Bruder, wenn ich mich nicht irre), der weitaus bequemer schreibt -> Mephisto.
Auch ich mag Schachtelsätze durchaus als Delikatesse empfinden, wenn auch schwerverdauliche. Je größer der paraphrasische Anteil, also der Anteil der nebengeordneten Teilsätzen (Teilsatzkaskaden), bei das Lesen ein gar halsbrecherisches Tempo entwickelt, desto wahrscheinlicher ist dies.

FLoH.

 

Ein Beispiel aus "Korrekturen" von Jonathan Franzen :
"Inzwischen war aus dem eine Seite füllenden Expose ein 124 Seiten starkes Drehbuch mit dem Titel "Akademische Wünsche" geworden, und Julia Vrais, die schokoladenbraunhaarige Frau, der jene kühle ausdruckslose Persönliche-Assisstentinnen-Stimme gehörte, lief ihm gerade davon, und alles, was er zu sehen oder was er zu denken vermochte, während er die Treppen hinunterstürmte, um sie aufzuhalten - wobei er die Füße seitwärts setzte, damit er immer drei oder vier Stufen auf einmal nehmen konnte, und bei jeder Landung die Treppenhausspindel packte, um mit einem Ruck seine Flugrichtung umzukehren -, war ein unseliges Stichwort in seiner nahezu fotografisch genauen geistigen Konkordanz der besagten 124 Seiten."

Na ja, vielleicht ist ja auf seinem Computer die Taste mit dem Punkt kaputt und man bekommt jedesmal einen Stromschlag, wenn man draufdrückt.

 

Als hocharrogante Moderatorin zitiere ich mich selbstredend selbst und blicke derweil müde lächelnd auf meine ach so berühmten "Kollegen" hinab. Folgendes Satzgebilde schuf ich als Antwort unter eine Satire von silverfly "Die spinnen, die Belgier"
http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?p=49338#post49338

Gerade diese superlangen insich schön verschachtelten Sätze mit allem was das Herz eines sich an diesem Text austobenden Autors an Wortwünschen und Satzbegierden hervorzubringen vermag, bringen einem das gelebte belgische Chaos auf wortreiche, fast unüberschaubare Weise nahe und laden geradezu zu einem ausgiebigem mit Regenreifen und extra Wischerblättern ausgestattetem Autourlaub ein, um auf diese Weise selbst an eigener durchnäßter Haut erfahren zu können, wie gut einem fettriefende Kartoffeln innerlich bekommen und wann der eigene Langmutpegel des im Stau Ausharrenkönnens die Extremmarke überschritten hat, während im Schneckentempo die belgische Landschaft gleich einem an die Wand geworfenen Dia stehenbleibt und sich ab und zu mehr zufällig verändert, ohne dass dadurch die Hoffnung auf ein gutschmeckendes mit allen chemischen Raffinessen ausgestattetes belgisch gebrautes Bier zu schwinden droht.
:D

 

Hallo Herr Kartoffel,

ich glaube, Dürrenmatt spielt hier auf Kleist an. Dessen Lieblingsfigur war "dergestalt, dass", eine Wendung, die auch in deinem Zitat als "derart, dass" auftaucht. Kleist ist auch ein Meister des gespannten Satzes. Er schafft es, Spannung in einem einzelnen Satz zu erzeugen. Dergestalt, dass, wenn in einem langen Satz, der verschiedene Satzglieder umfasst, um den Leser auf die Folter zu spannen, und der, wie Kleist das immer wieder vormacht, das Aufschluss gebende Satzglied ganz an den Schluss stellt, Spannung erzeugt wird.

Was man als Journalist nicht machen darf, ist eine andere Frage. Aber Literatur ist eben nicht nur eine Frage der Verständlichkeit, oder?

Grüße aus München,
Stefan

 

Na oder dies hier ist doch auch nicht übel oder? :D

Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind - vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.

Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will - da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.

Kafka, Auf der Galerie

 

Liebe Lakita,

wow, und das ist Kafka? Ich dachte immer, Kafka ist der mit der unscheinbaren Prosa. Aber der konnte anscheinend auch anders. Und zwar verdammt gut. Zuerst der gespannte Satz mit "Wenn...": Man fragt sich lange, was "dann" passiert. Und dann der zweite Absatz: Da es aber nicht so ist; eine Dame hereinfliegt... Toll, diese Art der Satzkonstruktion kannte ich noch nicht.

Danke, Lakita.

Grüße, Stefan

 

Wobei die Kafka-Beispiele keine Schachtelsätze sind, sondern linare Konstruktionen.

Im zweiten Absatz ist interessant, dass Kafka statt Punkt das Semikolon benutzt - dadurch (d.h. durch die Zeichensetzung erzwungene Betonung) erhält der Satz seine Dynamik.

Was nebenbei bemerkt viele Autoren hier auf KG.de nicht beherrschen. Da werden z. B. zwar grammatikalisch richtige Kommas gesetzt, die aber von der Lesebetonung den Satz ruinieren.

Klaus

 

leixoletti schrieb:
Hallo Herr Kartoffel,

ich glaube, Dürrenmatt spielt hier auf Kleist an. Dessen Lieblingsfigur war "dergestalt, dass", eine Wendung, die auch in deinem Zitat als "derart, dass" auftaucht. Kleist ist auch ein Meister des gespannten Satzes. Er schafft es, Spannung in einem einzelnen Satz zu erzeugen. Dergestalt, dass, wenn in einem langen Satz, der verschiedene Satzglieder umfasst, um den Leser auf die Folter zu spannen, und der, wie Kleist das immer wieder vormacht, das Aufschluss gebende Satzglied ganz an den Schluss stellt, Spannung erzeugt wird.

Was man als Journalist nicht machen darf, ist eine andere Frage. Aber Literatur ist eben nicht nur eine Frage der Verständlichkeit, oder?

Grüße aus München,
Stefan


Kleist und Spannungsaufbau hin oder her, mir gefällt Dürrenmatts Satz einfach nicht. Er liest sich nicht flüssig und erzeugt in meinem Augen eher Abneigung als Spannung. Richtig eingesetzt und gut konstruiert sind Schachtelsätze durchaus reizvoll, den "Tunnel-Satz" halte ich aber schlicht und ergreifend für mislungen.

@ lakita: DAS nenne ich mal Sätze... :eek2:

 

@kartoffel: Ob ich den Dürrenmatt-Satz mag, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist er eine Parodie? Ich denke bei diesem Stil - und dem Zug fahrenden jungen Mann - auch an Thomas Mann und den Zauberberg:

Hans Castorp - dies der Name des jungen Mannes - befand sich allein mit seiner krokodilsledernen Handtasche, einem Geschenk seines Onkels und Pflegevaters, Konsul Tienappel, um auch diesen Namen hier gleich zu nennen -, seinem Wintermantel, der an einem Haken schaukelte, und seiner Plaidrolle in einem kleinen grau gepolsterten Abteil; er saß ... (blabla, den Rest schenk ich mir)

So umständlich, das alles. So altväterlich. Ich glaube, wenn mir jemand sowas vorlesen würde - ich würde sehr ungeduldig werden.

 

Bach, als seine Frau starb, sollte zum Begräbnis Anstalten machen. Der arme Mann war aber gewohnt, alles durch seine Frau besorgen zu lassen; dergestalt, daß da ein alter Bedienter kam, und ihm für Trauerflor, den er einkaufen wollte, Geld abforderte, er unter stillen Tränen, den Kopf auf einen Tisch gestützt, antwortete: »sagts meiner Frau.« –

Heinrich von Kleist, "Anekdote"
http://gutenberg.spiegel.de/kleist/anekdote/anekdo10.htm

 

Die Beurteilung von Schachtelsätzen ist, wie die anderer Stilelemente, nur subjektiv möglich. Lesegewohnheiten (Übungseffekt) literarische Moden spielen eine Rolle: Was wir z.B. heute als übertrieben gefühlsbetont oder naiv ansehen, wurde während der Romantik ganz anders bewertet.
Deshalb stellt sich weniger die Frage `Schachtelsätze ja oder nein´ sondern `sind Schachtelsätze in meinem Text angebracht´ und `was will (kann) ich meinen Lesern zumuten.
Was können Schachtelsätze?
- Sie können einen Lesefluss auslösen, Handlungen oder Gefühle intensiv vorantreiben.
Dadurch wird u. U. eine (buchstäbliche) Atemlosigkeit erzeugt.

- Schachtelsätze können eine Informationsflut erzeugen, die z.B. die Anspannung eines Protagonisten in einer Situation wiedergibt.


Hier mal ein konstruiertes Beispiel, Gefühle betreffend:

Plötzlich war der Schmerz da, ein Stechen, ausgreifend, klebrig wie heißes Wachs den Körper umhüllend, der, geschunden, nur noch zuckte, Milliarden von Zellen zerplatzten im Säuretod, Pein lässt Nerven vibrieren, bringt Blut zum Kochen, eine einzige Botschaft - Tod.

Plötzlich war der Schmerz da. Das Stechen, ausgreifend, umhüllte klebrig wie heißes Wachs den Körper. Geschunden zuckte er nur noch. Milliarden von Zellen zerplatzten im Säuretod. Pein lässt Nerven vibrieren. Sie bringt das Blut zum Kochen. Eine einzige Botschaft - Tod.

 

Hi Woltochinon,

Deine Meinung kann ich nur unterschreiben. Da ich selbst extreme Verschachtelungen aber eher als Mittel ansehe, unbedarften Lesern wie mich ein gutes sprachliches Gedächtnis abzuverlangen, und ich diese daher oft als der Arroganz des Autors entspringend beurteile, spielt für mich nicht nur die Angebrachtheit von Schachtelsätzen eine Rolle, sondern auch die Möglichkeit, ob man sie nicht durch alternative und gleichwertige Konstrukte vermeiden könnte. Wenn ich mich nicht täusche, kann man das immer, man muss nur gewieft sein (glaub nicht, dass ich so gewieft bin).

Was können Schachtelsätze?
- Sie können einen Lesefluss auslösen, Handlungen oder Gefühle intensiv vorantreiben.
...
Plötzlich war der Schmerz da, ein Stechen, ausgreifend, klebrig wie heißes Wachs den Körper umhüllend, der, geschunden, nur noch zuckte, Milliarden von Zellen zerplatzten im Säuretod, Pein lässt Nerven vibrieren, bringt Blut zum Kochen, eine einzige Botschaft - Tod.

Das ist für mich kein Schachtelsatz in dem Sinne, sondern eine Kaskade, neben dem eigentlich verhassten Komplexsatz die light-Form des Schachtelsatzes, und diese hier ist noch einfacher als die aus Kafkas Galerie (s.o.).
Das habe ich übrigens mithilfe einer richtigen Methodik ermittelt (eigene Manufaktur allerdings). Wer an ihr interessiert ist -> PM.
Und mit Kaskaden habe ich, abgesehen von so langen wie die Galerie, eigentlich keine Probleme, ihr?

FLoH.

 

Hallo floh,

warum solltest ausgerechnet Du nicht gewieft genug sein, Schachtelsätze zu umgehen?
Trotzallem denke ich, dass solche Sätze als Stilmittel ihre Berechtigung haben: es gibt ja nur eine begrenzte Anzahl, so kann Abwechslung stattfinden, wenn man Schachtelsätze in richtiger Weise benutzt. Ihrer Erinnerungslücken lockenden `Heimtücke´ wegen sicher eher als sparsam zu gebrauchendes Gewürz, damit es nicht dazu kommt, was Du so treffend ausdrückst, dass man so ein Konstrukt „der Arroganz des Autors entspringend beurteile(n)“ muss. Die Arroganz kann auch ganz auf Seiten der Leserschaft sein, wenn sie sich brüstet zu den `Auserwählten´ zu gehören, die angeben, schachtelsatzstrotzendes Buch X tatsächlich gelesen haben („Ach wissen S´, Frau Dr. - diese einzigartige komplexe Vielschichtigkeit des Satzbaus...“). Aber - natürlich spielt da auch Übung eine Rolle.
Ein Kaskadensatz ist doch eine Variante des Schachtelsatzes? Ein nichtlinearer Schachtelsatz war ja schon als Beispiel angegeben, aber solche sind, wie Du ja auch sagst, noch nerviger.

LG,

tschüß... Woltochinon

 

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