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25.04.2005
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von Torsten Scheib​

Trotz der späten Stunde, trotz seines Widerwillens, seiner bleischweren Beine und Lider, fuhr Liam Grossman nicht direkt nach Hause, sondern legte einen kleinen Zwischenstopp bei E-Z 24 ein. Dem einzigen Supermarkt, der auf seinem Nachhauseweg lag und gleichzeitig Tag und Nacht geöffnet hatte. Zwar hätte er morgen mehr Zeit gehabt. Aber der Samstag sollte nicht im Zeichen von groß angelegten Einkäufen inklusive frustrierendem Schlangestehen bestehen, sondern eine lebensfrohe Mischung aus Ausschlafen, Relaxen und romantischem Candlelight-Dinner sein.
Fast lautlos steuerte Liam seinen schwarzen BMW über den verwaisten Parkplatz. Vorbei an einsamen Einkaufswägen, die man einfach in der Landschaft stehengelassen hatte. Hohe Lampen sorgten für vereinzelte Lichtquellen auf der menschenleeren Betonlandschaft.
Direkt vor der hell erleuchteten Front stoppte Liam. Das Licht aus dem Inneren des Supermarktes strahlte nach draußen und sorgte für fast schon tagähnliche Verhältnisse in der Fahrerkabine.
Mit Daumen und Zeigefinger fuhr Liam sich über die Augen, ehe er sein Handy aus der Innentasche seines schwarzen Sakkos zog. Das Display des Handys überzog sein Gesicht mit einer hellblauen Patina. Geübt drückte er mehrere Tasten und legte das Mobiltelefon an sein Ohr.
Seine Freundin war nicht zu Hause. Oder schien zu schlafen. Wahrscheinlich letzteres, wenn er die Uhrzeit bedachte. Mittlerweile war es kurz nach Eins, was hieß, dass er fast sechzehn Stunden im Büro verbracht hatte.
Gott, bin ich fertig.
Der Anrufbeantworter meldete sich. In seiner knappen, telegraphen-ähnlichen Art hinterließ er Mel eine Nachricht, ehe er das Handy wieder zuklappte und schließlich aus dem Wagen stieg.
Sein Blick fiel auf den Krankenwagen, der direkt neben ihm geparkt hatte. Vor den geöffneten Hintertüren genehmigte sich ein Mann in blauer Uniform eine Zigarette und starrte den Boden an. Als er Liam bemerkte, sah er auf und nickte ihm zu.
„So spät noch zu tun?“
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Kann man nix machen.“
Liam hob eine Hand und ging weiter. „Trotzdem `n schönen Abend noch!“
„Ihnen auch! Und ein schönes Wochenende!“
„Gleichfalls!“
Die Glastüren erwachten mit einem moderaten Swusch! und glitten vor Liam auseinander. Das Geräusch wirkte in der relativen nächtlichen Stille übermäßig laut.
Das Innere des Supermarktes wurde von blendend hellem Licht überflutet, das in Liams müden Augen schmerzte. Aus verborgenen Lautsprechern erklang die typische Synthesizermusik. Liam erkannte sogar das Lied: The Girl from Ipanema. Furchtbarer Song.
Die langen Kassenreihen waren bis auf eine Ausnahme unbesetzt. Eine junge Frau saß dort und las in irgendeiner Zeitschrift, während sie geräuschvoll ihren Kaugummi bearbeitete. Sie beachtete Liam nicht einmal.
Eine Legion aus unterschiedlichen Automaten erstreckte sich an der vorderen Westseite des Ladens. Chips, Doritos, Sandwiches, Softdrinks – dass alles interessierte Liam nicht. Nur der Kaffeeautomat war für ihn von Interesse.
Es klickte und knackte, als die beiden Vierteldollarmünzen im Innern der Maschine verschwanden. Liam drückte den Knopf für `Kaffee, schwarz` und verfolgte reglos, wie die Maschine zuerst einen Pappbecher, dann schließlich die braune Brühe ausspuckte.
Zu seiner Überraschung war der Kaffee einigermaßen genießbar. Und, was noch wichtiger war: Er brachte einen Teil seiner Lebensgeister zurück. Entspannt lehnte er sich gegen den Automaten, genoss seinen Kaffee und lauschte dem Sound der Synthesizer, die inzwischen irgendeinen alten Rocksong verunstalteten.
Kurze Zeit später war es jedoch mit der angenehmen Stille vorbei. Liam blickte von seinem Pappbecher auf, als das Schaben und Quietschen an seine Ohren drang; garniert durch vereinzeltes Stöhnen und sogar dem einen oder anderen Schrei. Der Kassiererin erging es gleich: Sie legte die Zeitschrift beiseite, stand auf und starrte zu den Regalreihen hinüber, die sich vor ihr erstreckten.
Zwei Männer in roten Uniformen erschienen. Liam identifizierte sie als den Rest des Krankenwagenteams. In ihrer Mitte schoben sie eine Krankenbahre, auf der ein dritter Mann lag. Sein langes, graumeliertes Haar wirkte ebenso ungepflegt wie die verschmutzte Kleidung und der verfilzte Vollbart. Verzweifelt versuchte er, sich aus den straff gespannten Riemen zu befreien, die seinen Körper festhielten. Ohne Erfolg.
Wortlos schoben die beiden Notärzte die Bahre an der Kassiererin vorbei. Die Augen des Alten trafen Liam. Sie wirkten stechend und ungewöhnlich klar.
„Gehen Sie da bloß nicht rein!“
Liam spürte eine Gänsehaut auf seinem Rücken.
Schweigend sah Liam den beiden Männern zu, wie sie ihren Patienten in den Wagen einluden und schließlich wieder davonfuhren.
Kopfschüttelnd nahm Liam seinen letzten Schluck Kaffee, zerknüllte den Becher und warf ihn in den Mülleimer, der neben dem Automaten stand.
Die Kassiererin hatte sich wieder ihrer Lektüre zugewandt, als er an die Kasse trat.
„Was war denn da los?“
Die Frau blickte auf. Liam schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war hübsch. Ihr dunkles Haar und die milchkaffeefarbene Haut ließen auf einen südamerikanischen Hintergrund schließen.
„Keine Ahnung“, antwortete sie. „Der Typ ist ausgeflippt. Einfach so.“ Nachdenklich sah sie zu Liam auf und zuckte mit den Schultern. „Komisch. Ich hab den Typ nicht mal reinkommen sehen. Als er Terror gemacht hat, wollte ich eigentlich schon die Bullen rufen. Aber dann hab ich die Ambulanz angerufen. Der Typ war ja nicht gefährlich. Der hatte nur einen an der Waffel. Schräge Sache, dass.“
Es gibt aber auch gefährliche Typen, die einen an der Waffel haben, dachte Liam, schwieg aber.
Sein Blick wanderte zu den mächtigen Regalwänden hinüber. Gefüllt mit allem, was der geneigte Konsument so zum Leben brauchte.
„Ziemlich schräg sogar“, murmelte er.
„Sind Sie ganz alleine hier?“
Die Kassiererin musterte ihn zweifelnd. „Soll dass `ne Anmache sein?“
Verwirrt blinzelte Liam die Frau an. „Was? Wie? Ich … Nein, ich war nur neugierig.“ Er konnte spüren, wie er rot wurde.
„Da oben – „, die Kassiererin wies auf eine Kabine, die an der Westwand direkt über den Regalen lag, “ – ist der Chef der Nachtschicht, der allerdings kurz nach Hause zu seiner schwangeren Frau gefahren ist. Natürlich, bevor diese ganze Scheiße passiert ist. Und irgendwo da drüben – „ sie zeigte auf die Regale, “ – moppt Enrique den Boden. Zufrieden?“
„Denke schon.“
Mit schnellen Schritten wandte Liam sich von der Kasse ab und betrat schließlich den Supermarkt. Je schneller er wieder unterwegs war, desto besser.

****​

Bewaffnet mit einem Einkaufskorb aus Plastik, der jetzt an seinem Unterarm hing, betrat Liam den eigentlichen Teil des Ladens. Schweigend, begleitet von seiner langsam wiederkehrenden Müdigkeit und dem Gedudel aus den Lautsprechern, schritt er an den prall gefüllten Regalen entlang, begutachtete die Auslagen in der Obsttheke, blickte neugierig zu den Pappaufstellern, die wunderbare neue Produkte zu wunderbar niedrigen Preisen bewarben.
Mir doch egal. Bin froh, wenn ich hier wieder draußen bin.
Und es lief gut. Schnell vor allem. Er fand, was er brauchte, ohne groß danach zu suchen.
Vor der lang gestreckten Fleischtheke, die leise vor sich hinbrummte, machte er einen Check.
Eigentlich hatte er alles. Bis auf …
Rechts von ihm wischte ein Angestellter den Boden. Der feuchte Mob quietschte, als er den hellgrauen PVC-Boden mit einer feuchten Schicht überzog.
Das muss Enrique sein, dachte Liam und setzte sich in Bewegung.
Als er ihn bemerkte, unterbrach Enrique seine Arbeit und blickte auf.
„Si?“
„Ich suche Gewürze. Italienische Gewürze. Oregon. Balsamico.“
„Si.“
„Wo finde ich die?“
„Si.“
Na toll, dachte Liam und verdrehte die Augen.
„Wo? Ich – finden? Gewürze? Italienische Gewürze?“
„Si.“
Enrique sah Liam mit einem entnervten Ausdruck an, als ob er derjenige wäre, der gegen schier unüberwindbare Kommunikationsprobleme anzukämpfen hatte.
„Da drüben“, sagte er schließlich und deutete hinter sich. Ein starker mexikanischer Akzent schwang in seiner Stimme mit. „Übernächstes Regal.“
„Haben Sie vielen Dank“, bedankte Liam sich und setzte sich in Bewegung. Hinter sich konnte er Enrique etwas murmeln hören. Zwar verstand er kein Wort, aber es hörte sich dennoch nicht gerade freundlich an.
Obwohl er schon mit etwas völlig anderem gerechnet hatte – Damenhygiene oder Spielsachen zum Beispiel – betrat Liam kurz darauf die Gewürzabteilung. Flaschen, Spender, Beutel, Packungen, Pakete – eine Armada aus den unterschiedlichsten Gewürzen, Soßen, Dressings und Mischungen wartete darauf, von ihrem Schicksal erlöst und von diesem Ort befreit zu werden.
Liam entschied sich für zwei Flaschen mit Soja- und einer Fertigmischung mit Worchestersauce, ehe er zu den eigentlichen Gewürzen trat und die unzähligen Packungen und Spender begutachtete. Ganz der Hobbykoch eben.
Nur beiläufig bekam er das Schaben mit. Es klang wie etwas Schweres, dass langsam über den Boden geschoben wurde. Wie ein Karton etwa, oder ein Fass.
Die Plastikverpackung des gemischten Salats raschelte, als er die Gewürzmischung in den Korb warf, sich nach links wandte –
Und abrupt stehen blieb, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.
Stirnrunzelnd starrte er die Wand aus Regalen an, das jetzt direkt vor dem Gang stand. Genau dort, wo er noch Augenblicke zuvor direkt auf die Kassen blicken konnte.
Das gibt es doch gar nicht.
Erneut ertönte das schwere, schabende Geräusch. Er drehte sich um – und starrte auf eine weitere Regalwand, die jetzt die Sicht auf die Fleischtheke versperrte.
Langsam; übervorsichtig, als würde er barfuss über rasiermesserscharfe Glassplitter laufen, machte Liam den ersten Schritt auf das Regal zu.
Sein Herz fing an, schneller zu schlagen.
Noch einen Schritt …
Sein Hinterkopf prickelte.
Und noch einen …
Plopp!
Stöhnend zuckte Liam zusammen, als der Knall hinter ihm erklang. Obwohl er Angst davor hatte, drehte er sich um – und atmete erleichtert aus, als er die Flasche erblickte, die nach vorne gekippt war und jetzt ihren schwarzen Inhalt auf den Boden ergoss. Es hörte sich an, als würde jemand pinkeln.
Als eine Dose mit Kokosmilch vor seine Füße fiel, sprang Liam zurück, als habe er gerade einen elektrischen Stoß erhalten. Seine weit aufgerissenen Augen wanderten aufgeregt hin und her, während er sich mit dem Rücken der Regalwand näherte.
Breitbeinig, wie ein Westernheld in einem alten Film, der auf der Jagd nach seinen Verfolgern war, blieb er nur wenige Zentimeter von der Wand entfernt stehen und blickte sich um.
Zu beiden Seiten standen weitere Regale.
Ein kurzes, schrilles Lachen entfuhr ihm. Der Plastikkorb baumelte noch immer an seinem Unterarm, während er sich durch sein Haar fuhr. Mit einem Male war die Müdigkeit wie weggeblasen und etwas anderem gewichen: Furcht.
„Was ist hier nur los?“ murmelte er kopfschüttelnd; begleitet von irgendeiner Burt-Bacharach-Melodie, deren Titel ihm entfallen war. Ein dünner Schweißfilm hatte sich mittlerweile auf seiner Oberlippe gebildet. Ihm fiel Enrique ein.
Er rief seinen Namen.
Keine Antwort.
Er spitzte die Ohren. Lauschte.
„Enrique?“
Jemand lachte. Es schien nicht allzu weit entfernt zu sein.
„Hallo?“
Das Lachen wurde durch ein Säuseln ersetzt.
„Verdammte Scheiße“, fluchte Liam und ließ den Korb zu Boden fallen. Der Inhalt verteilte sich geräuschvoll auf dem Fußboden. Er fragte sich, aus welcher Richtung die Stimmen gekommen waren. Links? Nein – Rechts! Oder doch …?
Er sprang über die Kartons, Flaschen und Pakete, die am Boden lagen und wandte sich nach links. Mit großen Schritten eilte er an den Regalreihen vorbei.
„Hihihihihi …“
Die Sohlen seiner Schuhe quietschten, als er stoppte. Liam fand sich jetzt an einer Kreuzung wieder. Vier Abzweigungen – vier Möglichkeiten.
Er wirbelte umher.
„Hihihihihi …“
An der linken Seite bemerkte er ein Schemen. Schnell rannte er den Gang entlang, bis er vor einer weiteren gewaltigen Regawand stoppte. Sie war prall gefüllt mit Plüsch- und Stofftieren in allen möglichen Farben und Formen.
„Hallo!“ rief er aus voller Kehle. „Haaalloooo!“
Die einzige Antwort, die er bekam, waren die monotonen Synthiemelodien vom Band. Verzweifelt warf Liam den Kopf in den Nacken. Über sich konnte er weiße Deckenpaneele erkennen, schlanke, gestreckte Neonlampen – und eine Überwachungskamera.
Hoffnung keimte in seinem Inneren auf. Wie ein Gestrandeter, der über sich den Abgasstreifen eines Flugzeugs bemerkt hat, hob er beide Arme und winkte; dabei lauthals schreiend. Würde es etwas bringen? Würde ihn jemand sehen? Oder überhaupt bemerken?
Wahrscheinlich nicht.
Seufzend ließ Liam die Schultern senken und wandte sich von dem elektrischen Auge ab.
Ein Schatten fiel über ihn. Hinter ihm … schien sich etwas zu bewegen …
Er drehte sich um.
Und schrie, als die unzähligen Plüschtiger, Stoffhasen und Teddybären auf ihn fielen wie eine Lawine. Durch den Schrecken verlor er das Gleichgewicht und landete hart mit dem Rücken auf dem Boden. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, während er von den Schmusetieren begraben wurde.
Kraftlos schabte er mit den Füßen über den Boden. Ohne Erfolg. Seine Beine fühlten sich bleischwer an. Nur seine Beine? Nein, sein ganzer Körper – von den Haarspitzen bis zu den Zehen, als würde ihn eine geheimnisvolle Kraft in die Tiefe ziehen.
Aber was war daran eigentlich so schlimm? Vielleicht war dies alles nur ein schlechter Traum. Vielleicht lag er in Wahrheit schon in seinem Bett und träumte diese ganze komische Scheiße nur – warum sich also dagegen wehren?
Dies musste einfach ein Alptraum sein!
Er schloss die Augen und drückte seine Wange gegen den kalten PVC-Boden. Müdigkeit und Schlaf griffen nach ihm. Allmählich driftete er davon …
… und war schlagartig wieder hellwach, als jemand nach seiner Hand griff und ihn von dem Stofftierberg wegzog.
Er schlug die Augen auf.
„Hallo“, begrüßte ihn der Mann mit bemüht gelassener Stimme.

****​

„Kommen Sie! Wir müssen hier weg! Schnell“
Liam fühlte sich wie in Trance. Als würde er durch einen Nebel laufen, der seine Schritte dämpfte und seine Gefühle und Emotionen narkotisierte. Gemeinsam mit dem Unbekannten rannte er an unzähligen Regalen und Schränken vorbei, passierte Legionen von Dosen, Paketen, Küchenzubehör und anderem Krimskrams, ehe die beiden scheinbar ihr Ziel erreicht hatten.
Surrend riss der Namenlose den schwarzen Vorhang einer Umkleidekabine beiseite und zwängte Liam hinein. Obwohl die Kabine schon für eine Person fast zu eng war, gesellte sich Liams Retter dennoch hinzu und sank an der linken Wand zu Boden.
Glücklich lächelnd wischte sich der Mann den Schweiß von der Stirn. „Glück gehabt“, sagte er schließlich. „Beim letzten Mal hab ich bestimmt eine Woche gebraucht, diese Stelle wieder zu finden.“
Liam musterte den Fremden eingehender. Sein beigefarbenes Velourssakko war eigentlich längst ein Fall für die Altkleidersammlung. Vom Rest seiner Kleidung ganz zu schweigen. Sein weißes Hemd war verdreckt, seine Jeans ebenso. Das verschwitzte dunkelbraune Haar klebte auf seinem Kopf. Sein Vollbart war verfilzt. Eine jüngere Ausgabe von dem Alten, durchfuhr es Liam, ehe ihn die Erkenntnis traf wie ein Blitzschlag: Was, wenn ich so diesen Ort verlassen werde? Alt und ausgezehrt? Oder schlimmer noch – wenn ich hier drin verrecken werde?
„Ist `ne ziemlich verrückte Sache, was?“ bemerkte Liams Gegenüber und zeigte ein bemerkenswert optimistisches Lächeln. Er streckte Liam die Hand entgegen. „Ich heiße übrigens Brian.“
„Brian“, wiederholte Liam den Namen seines Retters und schüttelte die Hand des Mannes. Er hörte sich an wie jemand, der gerade die eigene Sprache zum zweiten Mal erlernt hatte.
„Ja“, erwiderte Brian, kratzte sich an der Stirn und ging mit seinen Augen auf Wanderschaft. Schweigend schüttelte er den Kopf.
Irgendwie wusste Liam nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. „Danke, dass Sie mich ge- … dass Sie mir vorhin geholfen haben.“
Brian machte eine abwertende Geste, ehe er seinen angewinkelten Arm ans Knie drückte und den Kopf in die Hand legte.
Liam wartete auf eine Erklärung; eine Erläuterung, irgendwas, doch es blieb aus.
„Wissen Sie, was hier los ist?“ fragte er schließlich leise. Als würde ihm jemand zuhören.
Über ihnen lief noch immer die gleiche monotone Synthesizermucke.
Brian zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, dass dies einfach … eine von diesen Situationen ist.“
„Was meinen Sie damit?“
„Eine von diesen Situationen halt. Die man nicht erklären kann, die es aber gibt.“
„Nein. Nein!“ Liam konnte sich mit dieser Antwort einfach nicht zufrieden geben. Es musste für diesen ganzen Wahnsinn eine logische Erklärung geben! „Das glaube ich nicht! Hinter all diesem … Chaos muss doch eine Logik stecken! Etwas oder jemand, der hier ein perfides Spiel mit uns treibt! Irgendein wahnsinniger Millionär vielleicht, der uns jetzt gerade lächelnd und hinter einem Monitor sitzend dabei zusieht, wie wir hier allmählich verrückt werden!“ Er beugte sich vor. „Kennen Sie Der Mann mit dem goldenen Colt? Den alten James-Bond-Film mit Roger Moore und Christopher Lee? Dieser Bösewicht – Scaramanga, hieß er, glaub’ ich – hatte so was auch. So eine Art bizarres Labyrinth voller Fallen und böser Überraschungen. So ähnlich ist es hier doch auch! Finden Sie nicht auch?“
Der Mann mit dem goldenen Colt, sagen Sie?“
Liam nickte aufgeregt. „Ganz genau!“
„War dass nicht dieser Film mit dem kleinen Typen? Schnickschnack?“
„Das war er!“
„Sorry, aber genau den hab ich bisher noch nicht gesehen. Ansonsten kenne ich Sie nämlich alle.“
Seufzend legte Liam den Kopf in den Nacken. Vom Platz in seiner Kabine konnte er direkt über sich ein einsames Kameraauge erkennen. Leck mich.
„Dann sind Sie also nicht meiner Meinung.“
„Eigentlich nicht“, entgegnete Brian. „Für mich ist dies kein perfides Spiel oder Versteckte Kamera. Dieser ganze Scheißdreck hat keinen Sinn und damit Basta.“
„Aber damit können Sie sich doch nicht zufrieden geben!“ beharrte Liam an seiner Meinung.
Brian schenkte ihm einen stählernen Blick mit zusammengekniffenen Augen. „Dann erklären Sie mir mal die Kräfte, die von einem Ort wie Stonehenge ausgehen. Oder wieso man in einem kleinen französischen Kaff von seinen Leiden geheilt werden kann.“
Liam öffnete den Mund. Wollte etwas sagen. Doch ihm fiel nichts ein.
„Sehen Sie. Und hier verhält es sich genau so. Dieser Ort besitzt eine Kraft, die man nicht erklären kann, die aber definitiv vorhanden ist. Sie und ich sind die besten Beispiele dafür. Hier bekommt man zwar keinen Draht zu den Göttern oder wird von seinem Furunkel befreit, aber die Richtung ist im Grunde dieselbe.“
„Ich verstehe, was Sie meinen“, entgegnete Liam nickend. „Aber abfinden will ich mich trotzdem damit nicht.“
„Das kann man auch nicht“, stimmte Brian ihm zu. „Aber etwas dagegen tun kann man ebenso wenig. Am Besten, man findet einen Mittelweg.“
„Und wie soll der Ihrer Meinung nach aussehen?“
Liams Retter zuckte mit den Schultern. Verzog den Mund. „Man arrangiert sich mit den Kräften, die hier am Werk sind – irgendwie. Und überlebt. Und vielleicht schafft man es sogar, hier lebend wieder raus zu kommen. Irgendwann.“
Oder auch nicht, ergänzte Liam in Gedanken. Wenn er doch nur einen Weg finden würde, mit Mel sprechen zu können, und ihr –
Seine Augen weiteten sich. Ihm fiel der kleine Gegenstand ein, der noch immer in der Tasche seiner Jacke steckte. Ungeduldig fischte er das Handy hervor und wählte die Nummer seiner Freundin an.
Wortlos sah Brian ihm dabei zu.
Anstelle eines Freizeichens erhielt Liam nur statisches Rauschen und Knacken. „Verdammt!“ presste er hervor. Feine Speicheltropfen flogen aus seinem Mund.
Er versuchte es mit einer anderen Nummer. 911. Die Notrufnummer.
Das Ergebnis war das gleiche.
Frustriert warf er das Telefon zur Seite und lehnte sich zurück. Dieser winzige, letzte Strohalm, der ihm noch geblieben war, war nun auch zerbrochen. Liam konnte spüren, wie sich seine Augen mit beißenden Tränen der Hoffnungslosigkeit füllten.
„Das hätte ich Ihnen auch gleich sagen können“, bemerkte Brian. Als Liam zu ihm hinübersah, wedelte er mit einem zweiten Handy zwischen den verschmutzten Händen.
Liams Reaktion war verheerend. Eine Sicherung brannte ihm durch. Schreiend stürzte er sich auf den Mann und legte seine Finger an dessen Hals. Während er röchelnd und würgend versuchte, sich von dem eisernen Griff zu befreien, streifte Brians Blick die Augen des anderen. Sie funkelten vor Wahnsinn.
„Hören … sie … auf“, brachte er krächzend hervor. „Damit … ist … doch niemandem … geholfen!“
„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?“ schrie Liam aus voller Kehle.
„Hören Sie … auf!“ entfuhr es Brian.
„Spielt es denn eine Rolle, wenn ich Sie hier umbringen würde? Wer würde mich denn schon dafür verantwortlich machen können?“
„Wahrscheinlich niemand“, entgegnete Brian, dem langsam schwindlig wurde. Liams Gesicht verschwamm allmählich vor seinen Augen. „Aber Ihr … Ihr Gewissen würde Sie … verrückt machen! Ein Leben lang!“
Liam schien ihn gar nicht gehört zu haben. Stattdessen drückte er fester zu.
Und fester … und fester …
Der Ausdruck in Brians Gesicht; die Erkenntnis, direkt an der Schwelle eines ziemlich qualvollen Todes zu stehen, gefiel Liam. Sehr sogar. Ohne es zu registrieren, verzogen sich seine ausgetrockneten Lippen zu einem Lächeln, das dem halb ohnmächtigen Brian durch Mark und Bein ging.
So sieht also das Ende aus …
Er schloss die Augen. Bereite sich auf das ewig währende, undurchdringliche Mysterium vor, dass jetzt nur noch wenige Sekunden entfernt auf ihn –
Es kam nicht. Die Hände lösten sich von seinem Hals. Er konnte wieder atmen.
Brian schlug die Augen auf. Holte tief Luft. Seine Kehle brannte, als würde er flüssiges Feuer inhalieren. Hustend sank er nach vorne.
„Es tut mir leid“, bemerkte Liam Augenblicke später, nachdem sich Brian von seinem Anfall erholt hatte. Auf dessen Hals konnte er überdeutlich die roten Abdrücke seiner Hände erkennen. Um ein Haar wäre ich zum Mörder geworden!
Mit der grausamen Erkenntnis flossen schließlich auch die Tränen. Zitternd fuhr er sich übers Gesicht und wandte sich ab.
„Sie sollten etwas schlafen“, schlug Brian vor. „Das sollten wir beide.“
Ohne ihm nachzublicken, konnte Liam hören, wie Brian aus der Kabine kroch, den Vorhang hinter sich zuzog und schließlich in der zweiten Kabine seine provisorische Schlafstätte bezog.
Ich werde hier kein Auge zumachen können, dachte Liam kopfschüttelnd. Nicht mit dieser furchtbaren Musik, und diesen Kameras und …
Trotzdem schloss er die Augen.
Keine halbe Minute später fiel er in einen tiefen Schlaf.

****​

Lauter Krach weckte ihn wieder. Ein Scheppern. Dosen oder andere Behälter, die zu Boden fielen. Das hässliche Geräusch von zersplitterndem Glas. Dann – Schritte. Das Keuchen eines Mannes.
Liam wischte sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich schwerfällig auf. Sein Rücken schmerzte. Seine Beine waren schwer. Er fühlte sich, als habe er gerade ein besonders intensives Training genossen.
Er riss den Vorhang zurück – und wich entsetzt zurück, als er das blutige Bündel erblickte, das direkt auf ihn zugetaumelt kam.
Brian.
Er war blutverschmiert. Eine rote Spur zog sich hinter ihm her. Als ob sie die Lanzen eines römischen Gladiatoren wären, ragten zwei längliche Gegenstände aus Brians rechtem Oberschenkel und seiner Brust. Liam erkannte, dass es Metallstangen waren. Vielleicht waren sie Teil eines Regals oder gehörten zur Ausstattung eines Zeltes oder –
Mit einem dumpfen Knall schlug Brian auf dem mit dunkelrotem Stoff bezogenen Boden aus, der sich vor den Kabinen erstreckte. Sofort breitete sich eine dunkle Lache unter dessen Körper aus, die von dem Stoff begierig in Empfang genommen und aufgesogen wurde.
Neben Brian ging Liam in die Knie. Die Hände bereits ausgestreckt, um die Stangen wieder zu entfernen, verharrte er. Was, wenn er dadurch alles noch schlimmer machen würde?
Er verlor die Balance und landete hart auf seinem Hintern, als eine blutverschmierte Hand die seine umschloss.
„Hauen … Sie … hier … ab!“ ermahnte Brian ihn zur Flucht. Erst jetzt bemerkte Liam die hässlichen Wunden in seinem Gesicht. Tiefe Risse, aus denen in regelmäßigen Zügen dickflüssiges Blut quoll. Die Haut an den Seiten war aufgetürmt oder hing in Streifen lose hinab wie die Seiten eines aufgeschlagenen Buches. Die Oberlippe war aufgeplatzt und blutete ebenfalls stark. Das rechte Auge war hinter einem Wall aus geschwollenem Fleisch verschwunden.
„Aber ich – „, setzte Liam an, doch wieder war es Brian, der die Initiative ergriff.
Er schluckte. Zu seiner Überraschung konnte Liam noch immer die Würgemale an Brians Hals erkennen; trotz der blauen Flecke und dem vielen Blut.
„Ich weiß, ich weiß“, keuchte Brian. Liam konnte es förmlich spüren, wie das Leben langsam aber stetig und unvermeidbar aus dem Körper des Mannes strömte wie Gas aus einer lecken Leitung.
„Aber jetzt ist nicht die Zeit für Entschuldigungen.“ Jedes Wort, das Brian hervorbrachte, schien einem inneren Kampf gleichzukommen. Er schluckte hart. „Ich wollte … wollte etwas zu Essen auftreiben, als mich dieses … dieses Ding gefunden hat, und – „
„Welches Ding?“
Schmerzverzerrt schüttelte Brian den Kopf. „Ich weiß nicht, was es ist. Aber es ist … gefährlich. Und es hat mich gefunden. Bestimmt ist es jetzt … auf dem … dem Weg … hierher …“
Just, als Liam fragen wollte, was genau Brian damit meinte, bekam er auch schon die Antwort präsentiert – in Form eines ohrenbetäubenden Krachens und schweren Donnerns, das den Boden erzittern ließ. Sofort musste Liam an irgendeinen längst ausgestorbenen Titan aus prähistorischer Vorzeit denken …
„Es ist vielleicht ganz gut, dass es so gekommen ist“, murmelte Brian mit immer schwächer werdender Stimme. „Aber Sie …! Geben Sie nicht auf! Bitte!“
„Nein!“ keuchte Liam mit bebenden Lippen. „Nein!“
Das Ding kam immer näher.
Brians Körper erschlaffte in dem Augenblick, als Liam etwas sagen wollte. Sein linker Augapfel verdrehte sich, bis nur noch das Weiße zu erkennen war; durchzogen von feinen roten Äderchen.
Obwohl es ihm unendlich schwer fiel, die Trauer für den Mann, den er eigentlich so gut wie gar nicht gekannt hatte, zu verdängen, richtete sich Liam auf und starrte nach vorne; versuchte, etwas zu erkennen in dem Gang, der direkt vor ihm lag.
Nichts. Nur die Geräusche.
Er drehte sich auf der Stelle um und rannte los, ohne zurückzublicken.
Vorbei an unzähligen Regalen. Weiter durch das ausweglose Labyrinth der Konsumgüter.
Das Ding war ihm immer noch dicht auf den Fersen.
Vor ihm tauchte eine Art freies Feld auf. Eine Schaufläche, auf der Kinderspielzeug ausgebreitet worden war: Eine kleine Rutsche, ein Schaukelpferd, ein winziger Tisch samt Stühlen.
Auf der Rutsche lag der tote Körper eines Mannes. Das Gewicht einer Frau drückte das Pferd nach unten, während auf den Stühlen gleich eine ganze Familie hockte: Vater, Mutter, Kind. Fliegen surrten um ihre bleichen, aufgedunsenen Körper.
Liam bemerkte es nur am Rande.
Eben so wenig, wie er dem gewaltigen Tunnel Beachtung schenkte, der aus unzähligen Fernsehern entstanden war oder dem mumifizierten Körper, der hinter dem Glas eines Tiefkühlschranks klebte.
Weiter.
Weiter.
Weiter!

Liam versuchte die Schmerzen zu ignorieren, die sich in seinem Körper auszubreiten begannen. Seine Beine fingen immer stärker zu pochen an. Sein Magen verkrampfte sich. In seiner Seite stach es, als ob jemand mit einem Hammer dagegen schlagen würde. Die Lungenflügel in seiner Brust schienen jeden Augenblick platzen zu wollen; ebenso sein Herz.
Schließlich ging es nicht mehr.
Ausgezehrt; als wäre er ein Schwamm, den man bis auf den letzten Tropfen ausgewrungen hatte, stoppte Liam, das Gesicht verzerrt, die Augen fest geschlossen. Es schien keine Stelle an seinem Körper zu geben, die nicht auf irgendeine Art schmerzte.
„Oh mein Gott!“ stöhnte er auf; dabei beide Hände gegen das Regal vor sich gedrückt. In seinen Ohren konnte er das hämmernde Rauschen seines eigenen Pulses hören.
Als ihm auffiel, dass keine Musik zu hören war, schlug er die Augen auf und blickte nach oben.
Sein Nacken fing zu prickeln an. Jemand – etwas – beobachtete ihn.
Langsam drehte er sich um.
Und erstarrte.
Etwas kam. Groß. Gewaltig. Der Boden, die anderen Regalwände, einfach alles zitterte und vibrierte jetzt. Vereinzelt fielen Dosen und Flaschen zu Boden. Die Geräusche klangen so laut wie abgefeuerte Gewehrschüsse.
Fasziniert und gleichzeitig entsetzt, versuchte Liam etwas zu erkennen. Alles, was er jedoch erblicken konnte, war ein … gewaltiger Schatten, der immer näher kam und alles mit pechschwarzer Finsternis überzog.
Und dieser Schatten schien lebendig zu sein.
Überdeutlich konnte Liam ein Keuchen hören; ein lautes, intensives und gleichmäßiges Atmen, das immer lauter wurde.
Unsichtbare Finger schienen nach ihm zu greifen. Eine fremde Kraft nahm Besitz von ihm. Deutlich konnte er spüren, wie eine Quelle aus ungeheurer, unbeschreiblicher Energie ihn langsam, aber bestimmt zu dem titanischen Schatten zog wie ein Magnet ein Stück Metall.
Nur noch wenige Schritte war der lebende, atmende Schatten jetzt entfernt …
Schreiend entriss sich Liam den Kräften, die tentakelgleich nach seinem Verstand griffen.
Er rannte weiter …

****​

Das ist kein schlechtes Lied, dachte Carl Bunker, während er seinen Einkaufswagen langsam aber bestimmt gen Salattheke steuerte. Leise pfiff er die Melodie von The Girl from Ipanema mit. Klappernd und leicht schlingernd brachte er den noch leeren Wagen zum Stehen und beugte sich über die Auslage. Prüfend fing er mit seiner Suche nach dem richtigen Salatkopf an; wägte sie in seiner Hand, begutachtete den Zustand …
Noch immer pfeifend, verpackte er den Salat in einem durchsichtigen Folienbeutel und legte ihn in den Einkaufwagen.
„Und weiter“, murmelte er, umfasste den Handgriff des Einkaufswagens, richtete sich wieder auf …
… und stieß einen kurzen Schrei von sich, als er die Gestalt direkt vor sich sah.
Er erinnerte Carl an einen Gestrandeten. Eine reale Version des legendären Robinson Crusoe. Die zerfetzten Reste seiner Hose flatterten um seine zerschlissenen Lederschuhe. Sein Hemd war voller Flecke und tiefer Risse. Der dunkle Bart war schmutzig und verfilzt. Ebenso sein langes Haar. Dunkle Ringe lagen unter den Augen des Fremden.
Schweigend musterten sich die beiden Männer für einen Augenblick.
Nur ein Penner. Der ist harmlos.
Carl setzte seinen Einkaufswagen in Bewegung; versuchte, ihn an dem Penner vorbei zu manövrieren. Doch dies lies der andere nicht zu. Mit einer Kraft, die Carl ihm niemals zugetraut hätte, griff der Andere nach dem Wagen und riss ihn zur Seite. Krachend landete der Einkaufswagen in einem Gewürzregal, das unter dem Einschlag zusammenbrach.
Fassungslos blickte Carl seinem Wagen nach.
Plötzlich spürte er zwei Hände an seinen Schultern, die ihn vehement nach unten zogen.
„Tun Sie es nicht!“ schrie der Penner, der in einem anderen Leben auf den Namen Liam gehört hatte, aus voller Kehle. „Tun Sie es nicht! Gehen Sie da bloß nicht rein!“
Carl versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, doch der andere war stärker.
„Lassen Sie mich!“
„Nein! Nein!“ Hart schlug der Andere gegen Carls Brust. Hilflos schlingerte Carl nach hinten und landete hart in einem Bücherregal. Unzählige Taschenbücher und Paperbacks regneten auf ihn hinab.
Aufgescheucht von dem Krach, verließ die einzige Kassiererin an diesem Abend ihren Platz und rannte zu der Quelle des Lärms.
Nicht schon wieder, durchfuhr es sie, als sie die beiden Männer erblickte.
Sie wusste, was zu tun war.
Schnell rannte sie zu einem der nächsten Servicetelefone, das einsam und verlassen an der Seite einer Regalwand hing.
Nach dem dritten Freizeichen nahm der zuständige Supermarktleiter ab.
„Was gibt es?“ fragte er mit harter Stimme.
„Mister Richardson, es … es ist schon wieder passiert.“
„Was meinen Sie?“
Hinter der Verkäuferin ertönte ein Röhren, das eher zu einem wilden Tier gepasst hätte, als zu einem menschlichen Wesen.
„Dass!“ presste sie hervor.
„Schon gut“, entgegnete Richardson. „Tun Sie nichts. Ich bin gleich bei Ihnen.“
Ehe die Verkäuferin etwas erwidern konnte, hatte ihr Boss bereits aufgelegt und wählte bereits eine ganz bestimmte Nummer die zu einem ganz bestimmten Teil der lokalen Polizei gehörte.
„Kommen Sie schnell“, erklärte er dem Mann am anderen Ende der Leitung. „Wir haben wieder einen … Notfall.“
„Diese Notfälle häufen sich in letzter Zeit“, entgegnete der Andere mit resignierter Stimme.
„Ich kann nichts dafür“, verteidigte sich Richardson.
„Natürlich nicht. Aber …“
„Aber?“
„Nichts. Vergessen Sie’s einfach. Die Mannschaft ist unterwegs.“
Erleichtert aufseufzend, legte Richardson auf.
Wann wird dieser Alptraum ein Ende nehmen? fragte er sich, als er sein Büro verließ.

 

Hi Torsten,

erstmal Herzlich Willkommen!

Die Anspielung von Lukas, von wegen King und so, kann ich nachvollziehen, finde das aber nicht schlimm. Ich meine ... es gibt schlimmeres, als mit Stephen King verglichen zu werden, oder? ;-)

Die Geschichte beginnt recht vielversprechend, dein Schreibstil ist schön flüssig, die Dialoge sitzen auch und du baust ein solides Grundgerüst für eine gute Horror-Story auf. Man merkt, daß du recht routiniert bist und dies sicher nicht deine erste Geschichte ist, right?

Was dich dann aber doch von King unterscheidet ist die Glaubwürdigkeit. Du schaffst es nicht, mir Liams Person glaubwürdig und "menschlich" rüberzubringen. Warum handelt er so wie er handelt? Mal ein Beispiel:

Plötzlich fängt er an, den armen Brian zu würgen, einfach so. Du handelst das mit einem knappen "Eine Sicherung brannte ihm durch.". Aber warum? Ich meine, bis zu diesem Zeitpunkt ist noch nichts sooo aufregendes passiert. Okay, ein paar Regale sind umgekippt, aber muss man deswegen gleich einen Mann erwürgen? Hier hättest du etwas mehr von Liams Gedankenwelt reinbringen müssen. Denkt er vielleicht, daß Brian dahinter steckt?

Dann geht mir auch alles zu schnell. Die Geschichte ist zwar lang, trotzdem handelst du die wichtigen (spannenden) Momente zu kurz ab. Die toten Leute usw. Etwas ausführlicher wäre schön gewesen.

Das hört sich jetzt nach ziemlich viel Genörgel an, ist aber nicht so. Denn bis dahin hat mir deine Geschichte recht gut gefallen. ABER: der Schluss. Du machst Anspielungen auf eine Sondereinheit der Polizei, die immer in solchen Fällen gerufen wird. Hier wieder das Thema Glaubwürdigkeit. Würde man den Supermarkt nicht einfach dichtmachen, wenn ständig Leute verschwinden? Vielleicht hat man das versucht, aber du müsstest das erwähnen und auch, warum man den Supermarkt vielleicht gar nicht schließen kann.

Hier noch ein paar Sachen:

Mit schnellen Schritten wandte Liam sich von der Kasse ab und betrat schließlich den Supermarkt.

das ist irgendwie missverständlich. Du hättest erwähnen sollen, daß die Automaten etc. eigentlich noch nicht zum Supermarkt dazugehörten.

Ohne es zu registrieren, verzogen sich seine ausgetrockneten Lippen zu einem Lächeln, das dem halb ohnmächtigen Liam durch Mark und Bein ging.

hier stimmt was nicht, du meintest sicher den halb ohnmächtigen Brian, oder? Außerdem würde ich hier nicht plötzlich die Perspektive wechseln. Unsere Hauptperson ist Liam, aus seiner Sicht solltest du auch die Geschichte erzählen.

Mit einem dumpfen Knall schlug Liam auf dem mit dunkelrotem Stoff bezogenen Boden aus, der sich vor den Kabinen erstreckte.

hier wieder: Brian, nicht Liam

Fazit: ein sehr schöner Einstand! Die Geschichte fängt toll an, verzettelt sich dann leider etwas und der Schluss erscheint mir etwas "hingeklatscht", aber ansonsten hast du mich gut unterhalten.

Gruß
Mike

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo lukas, Hallo Mike!
Erstmal vielen Dank für eure Willkommensgrüße bzw. eure Kritiken.
Zwar vergleicht bzw. erinnert euch meine Geschichte an einen gewissen Mr. King (muss man den kennen? War nur ein Scherz!), aber an seine Erzählungen habe ich beim Schreiben eigentlich nicht gedacht; mir kam immer wieder der Vergleich mit der Kultserie Twilight Zone, die mich sicherlich mehr als nur ein wenig geprägt hat. Dort passieren Dinge ebenfalls ohne logischen Grund; sie sind einfach da. Und dieses unerklärliche und - zumindest für mich - dadurch umso unheimlicher wirkende Element wollte ich in meiner Geschichte ebenfalls wiedergeben. Das der Titel Dawn of the Dead fällt war mir klar. Obwohl ich gerade versucht habe, keine eindeutigen Parallelen an Romeros Klassiker einzubauen (ist mir wohl nicht gaaanz so gut gelungen)!
Liams Ausraster kann man sich vor allem dadurch erklären, dass er einen ziemlich langen und kräftezehrenden Arbeitstag hinter sich hatte, einfach nach Hause wollte, und wahrscheinlich nicht damit gerechnet hat, in einem Supermarkt verschollen zu gehen. Tja, und als Brian ihm schließlich die Sache mit dem Handy vorenthält, ist dies - zusammen mit seiner bereits vorhandenen Verzweiflung - eben der berühmte Tropfen gewesen, der dass Fass zum Überlaufen bringt ...
Den erwähnten Schatten wollte ich gar nicht ausführlich beschreiben. Die Form des Dinges, welches Liam verfolgt, sollte beim Leser Gestalt annehmen.
Und was die besagte Sondereinheit betrifft, so ging ich davon aus, dass die Supermarktkette eine Art Schweigegeschäft mit den Behörden ausgemacht hat, so nach dem Motto: 'Ihr entsorgt die Leute, die da auftauchen, sagt aber nix. Und im Gegenzug gibt's ordentlich was auf die Hand.' Schließlich könnte sich ein Großkonzern solche unschönen Dinge wie das unerklärliche Verschwinden der eigenen Kunden wohl kaum erlauben. Oder würdet ihr noch zu Aldi oder Lidl gehen, wenn ihr wüsstet, dass es dort mitunter nicht ganz koscher zugeht?
Wie dem auch sei - nochmals vielen Dank für eure ehrlichen Kritiken.

P.S.: Dies ist in der Tat nicht meine allererste Geschichte ...:-)
Vorsicht, Schleichwerbung - Wenn ihr mehr über mich erfahren möchtet, besucht doch einfach meine kleine Website unter

http://www.beepworld.de/members51/torsten-scheib/ (Schleichwerbung aus)

 

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