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Die letzte Festung

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25.04.2005
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Die letzte Festung

Die letzte Festung

Von Torsten Scheib​


„Schnell! Hier rüber! Ich hab eine Überlebende gefunden!“ McKinseys Stimme überschlug sich, als er nach den anderen rief. Laut hallten die Worte von den Wänden und der Decke des Supermarktes wieder.
Die Strahlen ihrer Taschenlampen warfen unheimliche Schatten, als sich Sniper und Lewis ihren Weg vorbei an den leeren Theken und Gefrierschränken bahnten. Ein widerlicher Geruch lag in der Luft; als würde irgendwo in der Nähe ein Tier verwesen.
„Da! Seht!“ McKinsey flüsterte jetzt. Aufgeregt deutete er auf den kleinen Schatten am Ende der Gefriertruhe. Langsam beugte sich Lewis vor und richtete die Taschenlampe auf die Gestalt.
„Ein Mädchen!“ Rasch wechselte er Blicke mit Sniper und McKinsey. „Ihr wisst, was zu tun ist.“
Sie wussten es. Gleichzeitig zogen die beiden Männer ihre Holzpflöcke, die an den Seiten ihrer Gürtel befestigt waren. So lautlos wie möglich beugte sich Lewis vor und packte die Kleine an den Beinen. Mit einem leisen, schabenden Geräusch zog er sie zu sich und richtete die Taschenlampe auf den Kopf des Mädchens.
Ihr Gesicht verbarg sich hinter einer dicken Schmutzschicht. Die braunen Haare waren verfilzt. Im halboffenen Mund erkannte Lewis gelbliche Zähne; dass Resultat von mehreren Monaten ohne Zahnpflege. Wäre das Mädchen ein Blutsauger, dann hätte ihre Haut längst schmoren müssen vom Strahl der Lampe. Doch Lewis musste sichergehen. Zu viele von ihnen hatten schon ins Gras beißen müssen, bloß weil man keine Vorsicht hatte walten lassen.
Sein Herz fing an, schneller zu schlagen. Mit zitternden Fingern hob er die Oberlippe an –
Nichts. Keine übergroßen Schneidezähne. Alles war normal.
Erleichtert seufzend, ließ Lewis die Schultern senken und drehte sich um. „Alles okay. Die Kleine ist ein Mensch.“
Die Erleichterung pflanzte sich bei Sniper und McKinsey fort, die ihre Pflöcke senken ließen.
Vorsichtig packte sich Lewis die Kleine und legte sie an seine Schulter. Deutlich spürte er ihre regelmäßigen Atemzüge und den scharfen Moschusduft, der von dem Mädchen ausging.
„Nein, die Kleine ist kein Blutsauger“, versicherte Lewis den anderen ein weiteres Mal. „Nur tierisch müde – und ganz schön dreckig. Sobald wir zurück sind, schmeiße ich die Lady erst mal in eine heiße Badewanne!“
Gerade, als sie sich zum Gehen wandten wollten, rauschte Snipers Funkgerät. Es war Reverend Lucius – und er klang ziemlich aufgeregt. „Ich glaube, dass es besser wäre, wenn ihr aus dem Supermarkt wieder rauskommt. In den Straßen herrscht Bewegung. Sie sind auf-gewacht.“
Sniper warf einen Blick auf die grün leuchtenden Zeiger seiner Armbanduhr. „Aber es ist doch erst kurz nach Fünf! Die Dämmerung setzt doch erst nach sechs ein …“
„Das ist keine Illusion! Im Namen Gottes, beeilt euch jetzt!“
„Wir sind unterwegs. Ach ja, wir haben eine Überlebende gefunden.“
Der Reverend antwortete nicht. Sniper wandte sich an die anderen. „Also los – sehen wir zu, dass wir zu den Wagen kommen!“

Statt Holzpflöcken hielten sie jetzt schwere doppelläufige Gewehre; abgesehen von Lewis, der eine Pistole mit seiner freien Hand umklammert hielt. Ihre Nerven waren jetzt zum Zerreißen gespannt. Vorsichtig und mit den Waffen im Anschlag blickten sie sich nach allen Seiten um, ehe sie die verlassene Straße entlang und zu den Wagen hinüber gingen, die direkt auf dem Bürgersteig parkten.
Langsam marschierten sie los.
Hinter McKinsey ertönte ein Geräusch – ein Rascheln. Mit der Waffe im Anschlag drehte er sich auf der Stelle um.
Nichts. Nur ein paar lose Zeitungsblätter, die der Wind forttrug.
Im Augenwinkel bemerkte Sniper eine Bewegung; einen Schatten, auf dem Hausdach. Lewis registrierte ihn ebenfalls. Mit einem Nicken deutete er zu den Wagen. „Beeilen wir uns.“
Gerade, als sie die Wagen erreicht hatten, tauchte der Reverend hinter einer Straßenecke auf; außer sich vor Atem. „Ich glaube, ich hab sie abgehängt. Diese höllischen Kreaturen bewegen sich mit einer unvorstellbaren Schnelligkeit – „
Ein schwarzer Schatten sprang den Geistlichen an und riss ihn zu Boden. Schreiend und dabei alle Gliedmaßen einsetzend, versuchte sich der Reverend von dem Vampir zu befreien. Hart drückten sich die Krallen des Untoten in den Hals seines Opfers und pressten Lucius’ Kopf brutal zu Boden. Gierig öffnete der Vampir sein Maul, aus dem dickflüssiger Speichel fiel wie Regentropfen. Entsetzt verfolgte der Reverend, wie die rasiermesserscharfen Zähne seinem Hals immer näher kamen …
„Hau ab, Drecksack!“ Mit ganzer Kraft schmetterte Sniper den Lauf seines Gewehrs gegen den Schädel des Untoten, der zur Seite fiel. Sniper zögerte keine Sekunde und jagte dem Blut-sauger eine Ladung Blei in den Schädel. Zusammen mit den Resten seines Kopfes blieb der Vampir reglos liegen.
„Das war knapp“, bemerkte Sniper lächelnd, während er den Reverend in die Höhe zog. „Alles okay bei ihnen?“
„Es geht mir gut, mein Sohn. Haben Sie vielen Dank. Und jetzt – „
Der Reverend verstummte. Sein Blick glitt zur Seite. Sniper folgte ihm – und binnen eines Augenblickes schien sich sein Blut in Eiswasser verwandelt zu haben.
Die ganze Straße wimmelte vor ihnen! Auf den Dächern, an den Hauswänden, auf dem kalten Asphalt – wie eine Insektenschar kamen sie schnell näher. Sniper schätzte die Entfernung auf höchstens hundert Meter.
„Startet die Wagen! Startet die Wagen!“ Einen schnellen Sprint zusammen mit dem Reverend zurücklegend, eilte Sniper zu den Wagen zurück. Rasch schmiss er sich in den Fahrersitz und drehte den Schlüssel. Röhrend erwachte der Motor des Jeeps aus seinem Schlaf..
„Beeilen Sie sich!“ drängte der Reverend, der neben Sniper Platz genommen hatte. „Wir dürfen die anderen nicht verlieren!“
„Schon klar.“ Mit quietschenden Reifen beschrieb der Jeep einen Kreis, ehe er losfuhr und mit Vollgas zu den anderen aufschloss.
Hinter ihnen ergoss sich eine schwarze Flut auf die Straße.

„Scheiße!“ Lewis griff sofort nach seiner Pistole, als er den Knall auf dem Dach seines Wagens hörte. Ohne zu zögern, feuerte er drei Kugeln ab, die kreisrunde Löcher im Dach des Toyotas hinterließen. Mit einem lauten Kreischen sprang der Vampir in Sicherheit.
„Das war knapp.“ Lewis warf einen raschen Blick in den Rückspiegel, ehe er sich wieder der Straße zuwandte. Hinter sich konnte er McKinseys Hummer und Snipers Jeep erkennen. Auf der Rückbank lag dass Mädchen, noch immer tief und fest schlafend. Er drückte aufs Gaspedal.
Hoffentlich hält der Anhänger.
Mit vor Aufregung weit aufgerissenen Augen hielt McKinsey das Lenkrad des Hummers fest umklammert. Der schwere Militärwagen war bis zur Decke mit Vorräten vollgepackt: Nahrung, Kleidung, Medizin – alles, was sie zum Überleben benötigten. Ramsey würde sich freuen.
Mit einem lauten Knall explodierte das Fenster auf der Beifahrerseite. Ein Backstein landete auf dem Sitz, ehe er federnd zu Boden fiel. Einen kurzen, spitzen Schrei ausstoßend, verlor McKinsey die Kontrolle über seinen Wagen. Schlingernd drehte sich der Hummer zur Seite und erfasste eine Parkuhr und einen Mülleimer, die zu Altmetall verarbeitet wurden. Als wäre er ein übergroßes Insekt, klebte plötzlich ein Vampir auf der Frontscheibe und versperrte die Sicht. Rot-leuchtende Augen starrten McKinsey drohend an.
Hart trat McKinsey auf die Bremse – mit dem erwünschten Erfolg: Der Vampir verlor seinen Halt und fiel zu Boden. McKinsey zögerte keine Sekunde und gab Vollgas. Einen letzten Schrei von sich gebend, verwandelten die schweren Reifen des Hummers den Vampir in einen blutigen Klumpen. Das Knirschen seiner untoten Knochen erinnerte an den Chitinpanzer eines Insektes, das unter der Sohle seines Angreifers begraben wurde.
„Himmel, das war knapp“, entfuhr es Sniper, der direkt hinter den anderen fuhr. Noch immer waren die Vampire hinter ihnen – und Gott weiß, wo noch. Er griff nach seinem Funkgerät.
„Lewis, wie weit ist es noch?“
„Bei der nächsten Kreuzung links, dann haben wir die Stadtgrenze erreicht.“
Wenn uns keine größere Überraschung erwartet, dachte Sniper und schmiss das Funkgerät auf den Rücksitz. Neben ihm sprach der Reverend mit geschlossenen Augen ein leises Gebet.
Die Überraschung kam in Form einer massiven Wand aus alten Autos, die sich meterhoch über die Straße erhoben. Wütend stoppte Lewis den Toyota. „Haltet euch bereit“, sprach er in sein Funkgerät.
Schnell drückte er einen Knopf an der Tür und das Fenster glitt nach unten. Aus dem Handschuhfach holte er zwei Flaschen, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt waren. Am Ende der Flaschen steckten Korken, in denen ein Stück Stoff befestig worden war – Molotowcoctails.
Aus der Brusttasche seines Hemdes zog Lewis ein Sturmfeuerzeug und steckte den Stoff an beiden Flaschen an. Mit den beiden Brandbomben in seinen Händen, quetschte er sich aus dem Wagenfenster. Hinter ihm taten McKinsey und Sniper das gleiche, allerdings mit gezückten Waffen.
Einen weiten Bogen beschreibend, flog der erste Molotowcoctail durch die Luft; dicht gefolgt vom nächsten. Augenblicke später wuchsen zwei Feuerbälle in die Luft. Gleichzeitig entstand in der Mauer ein Loch. Scheppernd fielen mehrere Autowracks zu Boden.
Lewis zwängte sich wieder in den Wagen zurück und gab Vollgas; ebenso wie McKinsey und Sniper. Mit Vollgas schossen die Wagen durch das Loch – und hinaus aus der Stadt.
„Verflucht“, entfuhr es Lewis. Mit einer wie Espenlaub zitternden Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Die Kleine schlief immer noch.


„ … und es werden mit jeder Nacht mehr. Allmählich geht uns hier die Munition aus. Ich weiß nicht, was wir noch tun können …verdammt, es geht schon wieder los! Und diesmal ist es noch nicht mal dunkel! Verstehen Sie jetzt, Lucas? Diese Blutsauger mutieren! Bald wird kein Sonnenstrahl der Welt ihnen etwas mehr antun können. Dann sind unsere Tage gezählt …wie dem auch sei, ich muss jetzt raus und helfen. Auch wenn es nicht gerade besonders optimistisch klingt, aber vielleicht ist dies unser letztes Gespräch.“
„Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Francois.“ Verzweiflung lag in Lucas’ Augen, als er sprach. „Alles Gute. Möge Gott Ihnen beistehen.“
„Welcher Gott? Wenn es wirklich einen Gott gäbe, hätte er all dies nicht zugelassen“, antwortete Francois per Funk. Im Hintergrund konnte Lucas deutlich Schüsse hören; vermischt mit verzweifelten Schreien. Ein paar deftige französische Flüche vielleicht. „Nein, der einzige der mir beisteht, bin ich selbst. Au revoir, mein Freund.“
„Bonne Chance“, erwiderte Lucas leise. Kurz darauf erstarb die Verbindung. Ins Leere blickend, warf Lucas das Mikrofon des Empfängers polternd auf den Holztisch und ließ vor seinem geistigen Auge alle Ereignisse der letzten acht Monate Revue passieren. Das plötzliche und unerwartete Auftauchen der Blutsauger – zuerst in Teilen Russlands und China, ehe sie auch Europa und schließlich den Rest der Welt heimsuchten wie eine biblische Plage; sogar die USA! - , die Flucht zusammen mit ein paar glücklichen Überlebenden hierher in dieses baufällige ehemalige Schloss irgendwo im schottischen Hochland; ihre Suche nach weiteren Überlebenden, die regelmäßigen Angriffe …
… und jetzt auch noch die Bestätigung, dass die Blutsauger anfingen, resistent gegen Tageslicht zu werden. Zwar hatte er Behauptungen wie diese bereits von anderen Überlebenden per Funk gehört, sie jedoch immer als Resultat eines überforderten und kraftlosen Verstandes abgetan; Vermutungen von Männern, die allmählich selbst ihre geistige Klarheit verloren – so wie er selbst?
Sein Kopf drehte sich. Frustriert warf Lucas dass Mikro auf den Tisch und lehnte sich in dem alten Holzstuhl zurück. Fuhr sich über die vom Schlafmangel rotgeränderten Augen.
Ein Klopfen.
Er drehte sich um. Es war Jaqueline. Zusammen mit ein paar anderen Überlebenden hatte er die junge Frau vor etwa zwei Monaten in London gefunden – infiziert. Obwohl die anderen ihr keine besonders große Überlebenschance gaben, war es Lucas dennoch gelungen, den Virus, der aus normalen Menschen blutdurstige Vampire machte, zu vernichten und aus Jaquelines Körper zu vertreiben.
Seitdem wich dass Mädchen Lucas kaum von der Seite. Offenbar hatte sich die Kleine bis über beide Ohren in Lucas verknallt. Und auch er selbst fing langsam an, mehr als nur gewöhnliche Sympathien für sie zu empfinden; auch wenn er fast zwölf Jahre älter war. Und hatte Liebe überhaupt etwas mit dem Alter zu tun? Außerdem war Jaqueline clever, couragiert und mutig. Genau die Sorte von Mensch, die Lucas händeringend benötigte.
Mit einer Kaffeetasse in der Hand lehnte sie lächelnd am Türrahmen. „Ich dachte mir, dass du vielleicht nichts gegen eine starke Mischung einzuwenden hättest …“
„Kannst du Gedanken lesen?“ Seufzend richtete sich Lucas auf. Seine Nackenwirbel knackten dabei.
Noch immer lächelnd kam Jacqueline hinüber und gab ihm den Kaffee. Dankend nahm Lucas die Tasse entgegen und nahm einen tiefen Schluck.
„Schon was von Sniper und den anderen gehört?“ fragte Jaqueline, nachdem Lucas die Tasse abgestellt hatte.
„Nichts. Seit zwei Tagen ist der Kontakt unterbrochen. Ich kann nur hoffen …“
„Möge Gott ihnen beistehen“, murmelte Jaqueline betroffen, während sie zu Boden blickte. Sofort fiel Lucas dass Gespräch mit Francois ein und er bekam eine Gänsehaut. Vielleicht haben die Vampire in diesem Moment bereits dass Gefängnis erstürmt, in dem sich die Gruppe verschanzt hat –
Er versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Was nicht schwer war: Ein Blick auf Jaquelines langes, pechschwarzes Haar genügte. Ein kurzer Wink mit ihren hellblauen Augen und er konnte einen leichten Anflug von Hoffnung spüren, und noch mehr – nicht jetzt, befahl er sich. Später. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Sofern es so etwas noch gibt. Vielleicht sollte ich sie gleich hier und jetzt wie ein Tier …
„Hast du mit den Franzosen gesprochen?“ unterbrach Jaqueline seine aufsteigende Lust.
Lucas nickte. „Es sieht nicht gut aus. Francois ist es gelungen, einen Nosferatu gefangen zu nehmen – er ist früher mal so was wie ein Doktor gewesen. Er hat den Vampir von oben bis unten untersucht; hat Experimente mit ihm gemacht, hat ihn aufgeschnitten … Offenbar stimmt das Gerücht, dass ich von anderen Überlebenden rund um den Erdball gehört habe: Die Vampire werden resistent gegen Tageslicht.“
Entsetzt blickte Jaqueline ihn an.
„Aber das ist noch nicht alles“, fuhr Lucas fort. „Francois hat das Gehirn untersucht. Dabei stellte er fest, dass sich am Vorderlappen eine seltsame Ausbuchtung befand, fast wie ein Tumor. Offenbar das telepathische Zentrum dieser Kreaturen.“
„Die Vampire können also telepathisch untereinander kommunizieren“, bemerkte Jaqueline mit flüsternder Stimme. „Genau dass, was du immer vermutet hast.“
„Eigentlich war es logisch“, erwiderte Lucas schulterzuckend. Er griff wieder nach der Tasse und nahm einen weiteren Schluck. „Ich meine – die Art und Weise, wie sich organisierten; fast wie eine Armee … dass hatte mit Instinkt nicht das Geringste zu tun. Telepathie war die einzig plausible Erklärung dafür, auch wenn es phantastisch anmutet. Allerdings –„
„Allerdings?“
„Es sind nicht unbedingt ihre telepathischen Fähigkeiten, die mir Sorgen machen. Es ist … was ist, wenn die Vampire sich weiterentwickeln würden? So ähnlich wie sich der Mensch binnen Millionen von Jahren von der vierbeinigen Echse zu dem Geschöpf entwickelt hat, dass er heute ist?“
„Du meinst Evolution?“
„Auf ihre ganz eigene Art und Weise, ja. Auf Vampirart, könnte man sagen. Was, wenn sie eines Tages ihre Wunden selbstständig heilen könnten? Oder durch die Lüfte fliegen? Und ich spreche hier nicht von einem Zeitraum, der sich über Jahre hinauszieht.“
Verwirrt blinzelte Jaqueline Lucas an.
„Ich meine, eine Generation – eine Menschengeneration – beträgt cirka fünfunddreißig bis vierzig Jahre. Bei den Vampiren ist es anders. Der erste wird gebissen – Generation 1. Ein paar Tage später beißt dieser den nächsten – Generation 2.“ Mit dem Zeigefinger beschrieb Lucas eine kreisende Bewegung. „Und so geht es immer weiter. Und jetzt rechne diesen Kreislauf auf fünf oder sechs Monate hoch …“
Jaqueline schüttelte nur den Kopf.
„Gar nicht gut, ich weiß. Ich habe dieses kleine Rechenexempel selbst mal durchgespielt. Jenseits von Gut und Böse hab ich dann aufgehört, bevor ich wahnsinnig werden konnte.“
„Und es gibt nicht viel, was wir dagegen tun können“, bemerkte Jaqueline niedergeschlagen.
„Vielleicht. Wir müssen die Vampire studieren; müssen sie besser kennen lernen. Genauso wie es Francois gemacht hat, ehe …“
„Ehe?“ wiederholte Jaqueline neugierig.
„Das Gefängnis, in dem sich seine Leute verschanzt haben, wurde gerade von Vampiren angegriffen, als ich vorhin mit ihm gesprochen habe. Er klang nicht gerade hoffnungsvoll.“
Schockiert schlug sich Jaqueline beide Hände vor den Mund. „Es ist so schrecklich …“
„Ja, dass ist es.“ Ehe er sich dagegen wehren konnte, spürte Lucas Jaquelines Körper an seiner Brust; die Hände fest gegen seinen Rücken gepresst. Leise weinte das Mädchen stumme Tränen. Er konnte den Duft ihres Haares riechen; die Mischung aus Schweiß und anderem …
Sie blickte zu ihm auf. Sah ihm tief in die Augen. Langsam näherten sich ihre Lippen den seinen. Er wehrte sich nicht dagegen. Leidenschaftlich erwiderte er den Kuss, öffnete langsam seine Lippen und ließ die Zunge langsam in ihren Mund gleiten.
Ohne voneinander zu lassen, torkelten die beiden über die leere Galerie, ehe sie in Lucas` Zimmer aufs Bett fielen und sich ganz der Leidenschaft hingaben.


Es war ein wunderbares Gefühl, Jaquelines warmen, gleichmäßig atmenden Körper neben sich zu spüren. Die warme Haut. Die schwarzen Haare, die seinen Rücken kitzelten. Den warmen Atem, der seinen Nacken wärmte und mit einer Gänsehaut überzog. Vorsichtig zog Lucas seine Hand aus der Decke und warf einen Blick auf seine Armbanduhr – kurz nach Sieben. Die Pflicht rief.
So lautlos wie möglich stieg Lucas aus dem Bett; immer ein Auge auf die tief schlafende Jaqueline gerichtet. Die Federn quietschten unter seinem Gewicht und bekamen als Antwort ein leises Stöhnen, als sich Jaqueline zur Seite drehte.
Nackt und neben dem Bett stehend, blickte Lucas zu dem Mädchen hinab. Und wie geht es jetzt weiter? fragte er sich. Haben wir jetzt eine Beziehung oder war die letzte Nacht nur ein kleines Hingeben unserer eigenen Lust? Wie wird sie mich jetzt sehen?
Er kannte die Antworten auf seine Fragen nicht. Und auch, wenn er sie in diesem Moment gerne gewusst hätte, so war ihm doch klar, dass es Wichtigeres gab. Schließlich war er für dass Überleben von mehr als hundertzwanzig Menschen verantwortlich, die alle in der Burgruine Zuflucht vor den Vampiren gesucht hatten. Hätte mir jemand dass vor einem Jahr erzählt, ich hätte ihn wahrscheinlich ausgelacht. Ein Lächeln huschte über die Lippen des ehemaligen Bauarbeiters. In der Tat, die Welt hatte sich in einen ziemlich verrückten Ort verwandelt.
Rasch streifte er sich seine Kleidung über: Ein paar Stiefel, verwaschene Jeans, ein weißes Shirt und darüber einen alterschwachen grauen Pulli und eine mit Rissen durchzogene, schwarze Bikerjacke. Wie ein Schatten huschte er nach draußen, während Jaqueline noch immer durch eine traumlose Dunkelheit wanderte.
Draußen, auf dem langgezogenen hölzernen Flur, herrschte bereits emsiges Treiben. Männer, Frauen und Kinder huschten mit schnellen Schritten an ihm vorbei. Manche von ihnen trugen Kartons mit Nahrungsmitteln oder Waffen. Jeder von ihnen schenkte Lucas ein kurzes Lächeln.
Zwei Schritte, und er stand am Rande der Galerie und konnte nach unten blicken. Etwa zehn Meter unter ihm aßen knapp zwei Dutzend Gestalten ein karges Frühstück, das aus selbstgebackenem Brot und Haferschleim bestand. Nicht gerade ein Frühstück für Champions, aber angesichts der Lage, in der sie sich befanden besser als gar nichts.
„Da bist du ja.“
Lucas drehte sich um. Es war Christian. Wie immer trug er seinen geliebten langen Schal keck um den Hals geschwungen. Lucas kannte ihn seit seiner Kindheit. Gemeinsam waren sie hierher geflohen, als die Vampire angefangen hatten, England zu erobern; zusammen mit den ersten Überlebenden. In Rekordzeit hatten sie aus dieser alten Ruine eine einigermaßen gut befestigte Anlage gemacht. Tagsüber waren sie durch die Dörfer und Städte gewandert; auf der Suche nach Waffen, Nahrung und weiteren Überlebenden, während der Rest die alten Mauern mit Stacheldraht aufrüstete oder im Hof mit Maschinengewehren übte, die sie in einem verlassenen Militärlager entdeckt hatten. Mittlerweile verfügte die Festung außerdem über zwei halbwegs funktionierende Generatoren und einen funktionierenden Brunnen. Außerhalb der Festung, die auf einem fast zweihundert Meter hohen, gesondert in der Ebene stehenden Felsen erbaut war, hatten sie außerdem angefangen, Weizen anzubauen. In einem primitiven, hauptsächlich aus Resten der nahezu zerstörten Zivilisation errichtetem Gewächs-haus waren die ersten Versuche, Gemüse zu züchten, erfolgreich angelaufen. Irgendwann, da war sich Lucas sicher, würde die Welt wieder in ihren gewohnten Gang zurückfinden; auch wenn er sich über den Zeitpunkt nicht bewusst war. Vielleicht schon in ein paar Jahren oder erst nach Jahrzehnten … noch eine Frage, auf die er keine Antwort geben konnte. Aber wer konnte das schon?
„Du siehst müde aus“, bemerkte er, nachdem er in Christians blutunterlaufene Augen geblickt hatte.
„Das bin ich auch“, erwiderte Chris nickend. „Ich war die ganze Nacht auf den Beinen gewesen. Draußen, auf den Schießscharten … am Funkgerät … es war eine lange Nacht.“
Ermutigend klopfte Lucas ihm gegen den Arm. „Dann leg dich Schlafen. Solange halte ich die Stellung.“
„Aber vorher solltest du dass Neueste erfahren.“ Verschwörerisch blickte sich Chris nach allen Seiten um. Das letzte, was sie gebrauchen konnten, war eine Panik. Und schlechte Nachrichten hatten schon immer die Eigenschaft gehabt, sich wie ein Feuer zu verbreiten.
„Heute Morgen haben wir Fußspuren entdeckt. Ein Teil der Gemüsefelder war zertrampelt, und auch beim Gewächshaus haben wir Abdrücke entdeckt. Außerdem haben die Posten berichtet, dass sie Schatten gesehen hatten, die sich nahe der Festung in der Dunkelheit herumgeschlichen haben.“
„Schatten?“ wiederholte Lucas. Seine Miene erhärtete sich. „Dann waren es Späher. Diese verfluchten Blutsauger spionieren also unsere Lage aus. Dann können sie nicht mehr weit sein.“
„Genau dass ist der Moment, vor dem ich mich schon immer gefürchtet habe“, murmelte Chris. Gedankenverloren blickte er auf die Bohlen unter seinen Füßen. „Dass die Festung uns keinen Schutz mehr bieten kann.“
„Wir stehen garantiert nicht hilflos da, wenn die Vampire tatsächlich vorhätten, uns anzugreifen“, sprach Lucas ihm Mut zu. Und sich selbst, wenn er ehrlich war. „Wir haben Waffen, Feuer …“
„Ich bitte dich!“ Laut hallte Chris` Stimme über die Galerie. Erschrocken blieben ein paar Kinder stehen und blickten mit großen Augen zu den beiden hinüber. Erst, nachdem sie wieder verschwunden waren, fuhr Chris fort: „Um diese Brut besiegen zu können, müssten wir alle perfekte Scharfschützen sein oder gut ausgebildete Kämpfer – aber genau dass sind wir nicht!“ Er hob beide Hände in die Höhe. „Wir haben nur dass hier! Und damit kannst du nicht langfristig gegen eine Armee von blutgierigen Toten bestehen!“
„Sag so was nicht!“ zischte Lucas wütend. „So darfst du nicht denken! So darf keiner von uns denken! Wir müssen an uns glauben, dann schaffen wir es auch!“
„Du klingst schon wie der Reverend“, bemerkte Chris sarkastisch. Sofort verfinsterte sich sein Gesicht wieder. „Wo wir gerade davon sprechen – er und die anderen sind noch immer nicht zurückgekehrt.“
„Sie liegen jetzt zwei Tage über dem Limit – dass ist noch immer kein Grund, zu Verzweifeln.“
„Für dich vielleicht nicht. Aber wenn ich an die heutige Nacht denke … drei Gruppen sind gefallen.“
Lucas` Augen weiteten sich. „Welche?“
„Definitiv Marseille“, antwortete Chris nüchtern.
Francois! schoss es Lucas durch den Kopf. Das alte Gefängnis! „Welche noch?“
„Die Jungs, die sich in den Schweizer Alpen verschanzt hatten. Und schließlich – „,Chris schluckte, ehe er weitersprach,“ – Berlin.“
Berlin …Lucas` Herz schlug schneller. Die Festung in Berlin war die wohl größte aller Festungen gewesen. Mehr als Tausend Mann hatten rings um den Bundestag eine nahezu unangreifbare Bastion errichtet; gespickt mit Waffen und Fallen. Aber offenbar immer noch nicht gut genug. „Großer Gott …!“ hauchte er.
Einen Augenblick später erklangen Schüsse. Sie kamen von draußen.

Gemeinsam mit anderen, stürmten Chris und Lucas nach draußen; auf den mit alten Kopfsteinen gepflasterten Hof. „Lasst mich durch!“ bahnte sich Lucas einen Weg durch die Menge, die sich kreisförmig um dass Objekt angesammelt hatte, dass buchstäblich vom Himmel gefallen war. Auf den ersten Blick erinnerte es an eine riesige, weiße Fledermaus. Dünne Flügel spannten sich unter den Armen; durchzogen von feinen Adern und Nerven.
Allerdings trugen Fledermäuse keine Tribals auf ihrem Bizeps.
Lucas Herz klopfte schneller, als er sich zu der Vampir-/Fledermaus-Kreuzung hinunter-beugte. Hinter ihm wurden Pistolen entsichert und Gewehre in Stellung gebracht. Sollte diese Kreatur noch leben, so würde sie ihr blaues Wunder erleben.
Glasige, schwach rote Augen blinzelten Lucas an, nachdem er dass Gesicht des Wesens umgedreht hatte. Langsam hob er die Oberlippe an. Lange Fangzähne. Definitiv ein Vampir.
Definitiv die nächste Generation Vampir.
Als er sich wieder von dem nackten Untoten abwandte, tauchte gerade Slim aus der Menge hervor. Er war früher Mal einer der besten britischen Sportschützen gewesen, und jetzt trug er Verantwortung für mehr als zwei Dutzend Menschen, die dort oben bei den Schießscharten für die Verteidigung verantwortlich waren. „Es ist wie aus dem Nichts aufgetaucht“, sagte er. „Hat mich und die Anderen angegriffen …“
„Ist jemand verletzt worden?“
„Glücklicherweise nicht. Ich konnte dass Ding mit ein paar Schüssen in die Brust runterholen.“ Mit einem Nicken deutete er auf den toten Flugvampir.
Mit der Spitze seines Stiefels hob Lucas den Körper der Kreatur an, ehe diese auf dem Rücken lag. Deutlich konnte er die tiefen Einschusslöcher erkennen, darunter auch eines direkt am Herzen. Er wandte sich wieder Slim zu. „Gute Arbeit.“
Slim nickte nur.
„Er ist nicht verbrannt.“
Mit einem Blick, der mehr sagte als tausend Gewehrschüsse auf einmal, sah Lucas zu demjenigen hinüber, der die Worte gesprochen hatte. Wie Ozon nach einem heftigen Regenschauer, lag jetzt dass blanke Entsetzen in der Luft. Lucas konnte es nur allzu deutlich spüren.
„Der Vampir ist nicht verbrannt“, wiederholte Chris noch einmal seine Worte.
Kein Wort mehr! warnte ihn Lucas mit seinem stechendem Blick.
„Kommt Leute, schaffen wir dieses tote Mistvieh fort“, wandte sich Slim an ein paar Umstehende. Gemeinsam hievten sie den toten Vampir davon, während langsam – zu langsam für Lucas` Geschmack – die Menge wieder auseinander stob. Wütend trat Lucas vor Chris. „Dafür könnte ich dir am Liebsten den Arsch aufreißen!“ zischte er. „Was hast du vor? Willst du den anderen Angst machen? Hast du Todessehnsucht? Was ist nur in dich gefahren?“
„Mich verlässt der Mut“, antwortete Chris ruhig. Niedergeschlagen; den Kopf nach unten gesenkt und die Hände in den Hosentaschen, schlich er sich davon. Dafür tauchte jemand anderes auf: Jaqueline. Traurig blickte sie zu Lucas hinüber. Auch in ihren Augen war so gut wie keine Spur von Hoffnung zu erkennen. Mitfühlend legte sie die Arme um Lucas.
Keiner sagte ein Wort.

„Ich dachte, dass du müde bist.“ Lucas Stimme klang verärgert, doch Chris ging nicht darauf ein. Gelassen lief er neben ihm durch dass nasse Gras; die Hände tief in den Taschen seiner alten Lederjacke vergraben, den Schal wie ein Pilot aus dem ersten Weltkrieg keck um den Hals geschwungen. Die rot-gelbblauen Streifen ließen Erinnerungen an ein TV-Testbild auf-kommen.
„Bin ich nicht“, erwiderte Chris gelassen. Sein Blick ging nach unten. Langsam zog er eine zerknüllte Schachtel Zigaretten hervor und zündete sich einen Sargnagel an.
„Aber vielleicht wäre es besser wenn du dich schlafen legen würdest.“ Die Schärfe in Lucas Stimme war jetzt selbst für anderen, die mitgekommen waren, überdeutlich geworden. Nervös blickten sie zu den beiden hinüber.
„Hab ich vorhin so etwas Schlimmes gesagt?“ erwiderte Chris im gleichen scharfen Ton. Sein Blick glitt in die Höhe. Mit der Kippe zwischen den Fingern, unterstrich er seine Worte mit kurzen Gesten. „Was ist falsch daran, die Wahrheit auszusprechen, hm? Und die sieht nun mal nicht gerade rosig aus, Alter. Du kannst den anderen nicht immer die Augen zukleben und ihnen beruhigend ins Ohr flüstern, dass alles gut wird. Die Leute haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Angst ist nämlich die beste Motivation!“
„Und der schnellste Weg ins Verderben!“ konterte Lucas rasch. „Du kannst ihnen nicht mit solchen Horrorgeschichten kommen!“
„Was bitteschön hab ich eigentlich vorhin gesagt, dass so schlimm gewesen sein sollte?“ Den Kopf in den Nacken gelegt und beide Arme ausgebreitet, spielte Chris den Unschuldigen. „Was war denn meine Aussage anderes gewesen als eine Tatsache? Ich hab lediglich darauf hingewiesen, dass der Vampir nicht zu Asche vergangen war – und das war ja wohl mehr als offensichtlich. Wenn du deine Augen vor der Realität gerne verschließen möchtest, bitteschön; meinen Segen hast du! Aber glaub bloß nicht, dass das auch für uns andere gilt!“ Energisch schüttelte er den Kopf. „Und falls du es noch nicht bemerkt hast – wir brauchen keine neuen Horrorstories. Wir sind längst in einer drin!“
Als wäre er ein angriffslustiger Hund, hob Lucas langsam die Oberlippe und verwandelte sein Gesicht in eine Fratze. Beide Hände ballten sich zu Fäusten, die nur zu gerne Chris` selbstsichere Miene in eine blutige Masse verwandelt hätten.
Jaqueline, die direkt neben Lucas stand, spürte die aufwallenden Aggressionen. Rasch trat sie zwischen die beiden Streithähne und bedachte sowohl Lucas als auch Chris mit finsteren Blicken. „Aufhören! Sofort! Dieser Mist führt doch zu nichts! Wir müssen einen klaren Kopf bewahren! Kapiert?“
Mit der glimmenden Zigarettenspitze deutete Chris in Lucas` Richtung. „Deine kleine Freundin hat Recht. Sehen wir uns mal dass Treibhaus an.“
Mit zugekniffenen Augen blickte Lucas ihm nach, ehe er weiterging.

Die Blutsauger hatten ganze Arbeit geleistet. Die Kornfelder waren zertrampelt und die Ähren nahezu vollständig aus dem Boden gerissen worden. Der nächste Schock traf sie, als sie zum Treibhaus hinübergingen. Stunden harter, schweißtreibender Arbeit waren binnen weniger Augenblicke zu wertlosem Schrott geworden. Mit feuchten Augen starrte Lucas auf die Ruinen; auf dass zersplitterte Glas und die eingestürzten Wände, das zerstörte Gemüse …
Sanft schmiegte sich Jaqueline gegen ihn. Tränen liefen von ihrer Wange hinab. Neben ihm murmelte Chris etwas, doch Lucas hörte nicht hin. Hoffnungslosigkeit hatte sich eng um seinen Körper geschmiegt wie die Schlange um ihr Opfer.
Nicht weit entfernt von ihnen raschelte es im Gebüsch. Gleichzeitig rissen Chris, Jaqueline, Lucas und die anderen ihre Waffen.
„Hilfe! Hilfe!“ Wild mit ihren kleinen Armen um sich wedelnd, rannte ein kleines Mädchen zu ihnen hinüber. Ihr Gesicht war schmutzig, die Haare verfilzt und die Kleidung zerfetzt und dreckig.
Eine weitere Gestalt schälte sich aus dem Dickicht. Sie trug schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd mit weißem Kragen – Lucius.
„Reverend!“ stieß Chris hervor.
Der Geistliche schenkte ihm sein widerlichstes Lächeln, ehe er eine abgesägte Schrotflinte zog und dem Mädchen direkt in den Rücken schoss. Bevor ihr Körper auf dass nasse Gras fallen konnte, hatte dass Leben den Körper des Mädchens bereits entlassen.
„Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, was für eine Nervensäge diese kleine Schlampe gewesen ist!“ Noch immer lächelnd, hob Lucius den Lauf seiner Waffe und blickte den blau-grauen Rauchwölkchen nach, die gen Himmel stiegen. „Dieser Narr McKinsey! Er hätte diesen Fehltritt einer räudigen Wölfin auf der Stelle erwürgen oder ersäufen sollen – „
Der Reverend stoppte seinen Monolog, als er die schockierten Gesichter der anderen bemerkte. Langsam ließ er das Gewehr nach unten gleiten, während seine Augenbrauen nach oben glitten. „Irritieren euch meine Worte so sehr?“ fragte er unschuldig. Er trat einen Schritt vor.
„Wisst ihr, mein ganzes Leben habe ich nur an einen Gott geglaubt; an einen Schöpfer. An eine übermächtige Wesenheit, die über uns wacht und uns weise macht.“ Amüsiert schüttelte er den Kopf. „Soll ich euch mal was Lustiges erzählen?“ Mit einem Ruck riss er sich den weißen Kragen ab, der im Gras landete. Überdeutlich konnten Lucas und die anderen die tiefe Wunde an seinem Hals erkennen. Seine Augen hatten sich in zwei glutrote Sonnen verwandelt. „Ich scheiße auf Gott! Auf ihn und seine Regeln! Wie krank muss eine Wesenheit überhaupt sein, um sich so etwas wie den Tod überhaupt ausdenken zu können! Oh Nein, ich brauche keine Bibel mehr – und ich habe auch keine Angst mehr vor den Fegefeuern der Hölle! Ich habe meine wahre Bestimmung endlich gefunden!“
Sie sind tot, brandete die bittere Wahrheit gegen Lucas` Schädel. Sie sind alle tot. McKinsey. Sniper. Lewis. Das Mädchen. Wahrscheinlich eine Überlebende, die sie irgendwo aufgegabelt haben. Dieser Bastard hat sie alle getäuscht. Ist gebissen worden und hat seine Wunde unter der Kutte verborgen!
Mahnend hob der Reverend einen Zeigefinger. „Lasst eure Waffen fallen, Freunde.“ Jetzt konnten die anderen auch die spitzen Reißzähne erkennen. „Es ist sinnlos. Wie ihr sehen könnt, macht mir die Sonne überhaupt nichts aus, und mit euren Waffen könnt ihr mich höchstens kitzeln.“
Dunkle Schatten zogen über der Gruppe vorbei. Alle wussten, was es war.
„Aber ich mache euch einen Vorschlag! Warum schlagt ihr euch nicht ebenfalls auf die andere Seite? Ihr würdet euch wundern, wie großartig und berauschend dass Leben als Vampir sein kann!“
Entschlossen und zornig zugleich, zog Malcolm, ein junger Mann Anfang zwanzig, seine Uzi. „Du willst etwas Berauschendes? Wie wäre es damit?“
Ehe er abdrücken konnte, riss Lucas die Waffe zur Seite. Wütend funkelte Malcolm ihn an.
Lucas` Augen wanderten zur Seite. Malcolm folgte dem Blick.
Und erstarrte.
Sie waren umzingelt.


Von der Festung wehte leise ein hässlicher Kanon aus Schreien und Schüssen zu ihnen hinüber. Die Vampire griffen die Burg an.
Höhnisch grinste der Reverend Lucas und die anderen an. „Ihr habt keine Chance!“
Lautlos kamen die Blutsauger näher.
„Ich denke, dass war’s.“ Kraftlos glitt die Pistole aus Lucas` Fingern. Fassungslos starrten die anderen ihn an.
Die Untoten waren jetzt nur noch wenige Meter entfernt. Der Kreis schloss sich nun immer schneller. In spätestens sechzig Sekunden ist alles vorbei, schätzte Lucas. Er war nicht wütend oder verängstigt. Vielmehr schämte er sich für sein Versagen. Er hatte ihnen das Leben versprochen – stattdessen bekamen sie den Tod oder die ewige Verdammnis als blutdurstige Vampire.
„Ich dachte, dass die Hoffnung zuletzt stirbt.“ Mit einem kecken Lächeln sah Chris zu seinem Freund hinüber. Sein Gewehr lag ebenfalls am Boden. Tief steckten seine Hände in den Taschen der Lederjacke.
Lucas musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Was bezweckte Chris damit? Wollte er ihn ein letztes Mal bloßstellen, ehe ein Vampir seine Zähne in seinen Hals rammte? „Man sollte stets wissen, wann ein Kampf gewonnen ist – oder verloren“, sagte er. Er deutete zu den Blutsaugern, die nur noch einen Armwurf entfernt waren. „Und der Gewinner steht fest.“
Langsam schüttelte Chris den Kopf. „Das glaube ich nicht“, sagte er. Unter dem Leder bewegten sich seine Hände. Lautlos zog er die Sicherung aus den beiden Handgranaten und umschloss sie fester. Fünf Sekunden … still sprach er ein letztes Gebet, schloss kurz die Augen, und –
„In Deckung!!!“
Mit ausgebreiteten Armen; den perfekten Märtyrer darstellend, rannte er schließlich los. Der Anblick erinnerte an einen Torschützen, der sich freudetrunken in die Arme seiner Kameraden fallen lässt. Knurrend stürzten sich die ersten Vampire auf ihn.
Zu spät bemerkten sie die beiden Handgranaten. In einem gewaltigen Inferno aus Hitze und Feuer wurden fünf Blutsauger buchstäblich zerfetzt – einschließlich des Reverends. Obwohl Jennifer, Lucas und die anderen vier am Boden lagen, riss sie die Druckwelle zur Seite.
Die Verwirrung ausnutzend, war Lucas der erste, der sich wieder aufrichtete. Mit einem Sprung hechtete er zu seiner Waffe hinüber und schoss einem nahestehenden Vampir drei Kugeln ins aschfahle Gesicht. „Beeilt euch!“
Von neuem Mut gepackt, folgten Jennifer und die anderem ihm. Erbarmungslos schossen sie den verbliebenen Vampiren die Munition entgegen, bis es schließlich vorbei war – fast.
Umgeben von toten Körpern und dem Geruch von verbranntem Fleisch und schwarzer Erde, standen sie schließlich da und warteten auf einen Befehl ihres wiedererstärkten Anführers.
„Schnell! Wir müssen hinauf zum – „
Zu spät bemerkte Lucas den riesigen Schatten, der mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit angeschossen kam. Rechtzeitig gelang es ihm und den anderen, sich zu Boden fallen zu lassen. Mit einem lauten Surren schoss der Flugvampir über sie hinweg. Ohne zu zögern, jagte Lucas der Kreatur den Rest des Magazins in den stinkenden Körper.
Mit einem gedämpften Knall schlug der Blutsauger am Boden auf.
„Weiter!“ befahl er.
So schnell sie konnten, rannten sie den Pfad hinauf, der direkt zur Festung hinaufführte. Im Rennen ließ Lucas dass leere Magazin zu Boden fallen und ersetzte es durch ein Neues.
Selbst die schlimmsten Alpträume hätten sie nicht auf das vorbereiten können, was sie durch dass zerstörte Holztor zu sehen bekamen.
Ein Meer aus Blut. Zerfetzte Körper. Abgetrennte Gliedmaßen. Dampfende Gedärme und Organe. Eine Handvoll Überlebender, die sich, dicht gedrängt und dem Tod näher als dem Leben, gegen die Übermacht Vampire aufbäumte, obwohl es längst keine Hoffnung mehr gab.
Heißem Feuer gleich, stiegen Tränen in Lucas Augen. Mit weichen Knien sank er zu Boden, während die anderen noch immer fassungslos vor dem zerfetzten Holztor standen und von den unzähligen Blutsaugern noch immer nicht bemerkt wurden.
Mit bebenden Lippen und verschwommenem Blick sah Lucas auf die Pistole in seiner Hand hinab. Es gibt keine Hoffnung mehr. Nur einen Ausweg …Langsam drehte er die Waffe um, bis der Lauf direkt auf ihn zeigte; ein mahnender Zeigefinger direkt aus dem Totenreich; von Christopher ausgesandt. Ein bitterer Geschmack legte sich auf seine Zunge, als er den Lauf in den Mund steckte. Nur eine kurze Bewegung mit dem gekrümmten Finger, und all dies würde vorbei sein –
„Nein!“ Ehe er reagieren konnte, packte Jaqueline die Pistole und riss sie aus seinen Händen.
„Tu` s nicht“, sagte sie mit flüsternder Stimme. „Steh auf und kämpfe!“
„Ich … ich kann nicht!“ antwortete Lucas mit sich überschlagender Stimme. Warmer Rotz floss träge aus seiner Nase. „Ich will nicht!“
„Verdammt, sie haben uns entdeckt!“ entfuhr es Malcolm. Zusammen mit den anderen hoben sie ihre Waffen und machten sich bereit. „Was sollen wir nur tun?“
Die Antwort kam von Jaqueline. Rasch umschlang sie ihr Gewehr fester und rannte furchtlos in den Hof. Die anderen folgten ihr umgehend.
Noch immer kniete Lucas im Dreck; vor den Ruinen dessen, was sie in mühevoller Arbeit mit ihren bloßen Händen erschafft hatten. Überdeutlich konnte er die Schüsse hören, dass Kreischen der Vampire, die Schreie der Menschen.
Nicht so. Entschlossen wischte er sich mit dem Armrücken Tränen und Schleim vom Gesicht. Obwohl seine Knie noch immer butterweich waren, stand er schließlich auf. Wenn ich schon sterben soll, dann nicht kampflos. Vom Boden schnappte er sich seine Pistole; blickte sie für einen Augenblick an. „Bitte, gib mir die Kraft“, flüsterte er jenem Gott zu, an dessen Existenz er noch immer fest glaubte; irgendwo in einem dunklen Flecken seines Herzens. Einen lauten Schrei ausstoßend, rannte er durchs Tor und in den Hof.
Die Schlacht hatte gerade erst begonnen …

 

Hallo.

Deine Geschichte erinnert mich an eine Mischung aus "Blade" und "Dawn of the Dead", was aber keinesfalls negativ gemeint ist.

Bis auf ein paar Längen in der Mitte, besitzt sie Tempo und lässt sich recht flüssig lesen. Mit Längen meine ich die sehr ausführlichen Dialoge, die meiner Meinung nach etwas von der Handlung ablenken und die Story bremsen.

Aber wie gesagt, ist dies nur meine Meinung, und ein anderer sieht dies mit ganz anderen Augen.

Im Großen und Ganzen hat mir Deine Geschichte gut gefallen und ich würde sagen, sie ist Dir gelungen.

Bis bald, JasonXI

 

Hi Torsten.

Willkommen in der Rubrik der härtesten Kritiker ...

In einem muss ich dem guten Jason Recht geben. Deine Story erinnert stark an die von ihm zitierten Filme.

Aber mit Sicherheit ist es nicht dein Erstlingswerk, oder? Zumindest schreibst du sehr stilsicher. Sehr schöne Beschreibungen des Geschehens; die Dialoge fand ich äußerst gelungen.
Auch hast du den Plot spannend rübergebracht; anfangs hätte ich noch den Begriff "Kopfkino" verwand. Wirklich sehr schön.

Das letzte Drittel hingegen driftet dann leider vollends in die unterste Klischeekiste ab: Da sind sie, die einzig wahren Helden. Keine Scham, auch mal eine Träne zu vergießen, um dann im gleichen Atmezug wieder die Waffen zu greifen und mit der ebenfalls heldenhaften Geliebten gemeinsam gegen eine unbändige Macht an Gegnern zu kämpfen.
Hier fand ich dann auch die Dialoge passend zu dieser Rubrik: horrormäßig!

„Tu` s nicht“, sagte sie mit flüsternder Stimme. „Steh auf und kämpfe!“
„Ich … ich kann nicht!“ antwortete Lucas mit sich überschlagender Stimme. Warmer Rotz floss träge aus seiner Nase. „Ich will nicht!“
„Verdammt, sie haben uns entdeckt!“ entfuhr es Malcolm. Zusammen mit den anderen hoben sie ihre Waffen und machten sich bereit. „Was sollen wir nur tun?“
Nur mal eines dieser krassen Beispiele *grusel*

Wie gesagt, das Ende trübt den Gesamteindruck ein wenig. Was ich aber noch einmal als positiv hervorheben möchte, ist die Idee mit den Generationen der Vampire; die haben mir sowieso sehr gut gefallen.

Fazit: Sehr vielversprechender Schreibstil. Durchaus bekannter Plot, der aber stellenweise spannend umgesetzt wurde. Am Ende viel zu dick aufgetragen.

Gruß! Salem

 

@ JasonXI und Salem: Vielen Dank für eure Meinungen!
Und, was soll ich sagen ... schon wieder kommt der Horrorfilm-Süchtige bei mir hoch. Ich kann es einfach nicht vermeiden; die Stimmen im Kopf sind einfach ...
Aber ernsthaft: Blade und Dawn of the Dead waren durchaus Inspirationsquellen, nicht zu vergessen Der Omega-Mann! Für apokalyptische Endzeitszenarien hatte ich eben schon immer eine Schwäche ...
Das das von dir erwähnte letzte Drittel nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen würde, habe ich schon befürchtet, als ich die Geschichte nochmal überarbeitet habe, Salem. Aber anders als bei vielen meiner anderen Geschichten wollte ich diesmal ein Happy End haben; etwas Optimismus halt. Das es einfach immer weitergehen muss; egal wie tief man in der Scheiße steckt - wie gesagt, Optimist. Und - ein klein wenig vielleicht - die Hoffnung, dass es irgendwo dort oben wirklich etwas gibt, an das man glauben bzw. hoffen kann - siehe letzter Absatz.

 

Das es einfach immer weitergehen muss; egal wie tief man in der Scheiße steckt - wie gesagt, Optimist. Und - ein klein wenig vielleicht - die Hoffnung, dass es irgendwo dort oben wirklich etwas gibt, an das man glauben bzw. hoffen kann - siehe letzter Absatz.
Nicht, dass du mich da jetzt missverstanden hast. Dein Openend, einschließlich der Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht, fand ich sehr gut.
Die klischeehafte Umsetzung hat mir nicht gefallen. Deine Protagonisten kommen auf einmal so schnulzig heldenhaft rüber:
"Oh Geliebte, es gibt keinen Ausweg mehr!"
"Nein, mein Held, tu es nicht!" Sie fällt auf die Knie, brührt seine Tränen.
"Du hast Recht, Geliebte. Ich werde kämpfen! Kämpfen für unser Vaterland; kämpfen, um allen Kindern eine Zukunft zu schenken."
"Oh du mein Göttlicher ..." :D

Verstehste, was ich sagen will???

Ich will mal konkret werden:
Lass Lucas entweder helden- oder memmenhaft sein; nicht beides.
Ich würde zum Beispiel die Selbstmordsache weglassen. Sicherlich wolltest du ihn als Menschen darstellen, der auch Gefühle zeigen kann. Aber durch dieses aufgesetzte Hin und Her wirkt es theatralisch; und das passt nicht in eine gute Actionstory, wie ich deine hier bezeichnen möchte. Ich finde, zuviel Geschnulze wirkt lächerlich und macht die Stimmung kaputt.

Die Hoffnung, dass irgendwo noch was ist, für das es sich zu kämpfen lohnt, finde ich, wie gesagt gut. Das passt dann wieder; ist zwar auch Klischee, aber ist halt ne Actionstory ...

Salem

 

Macht Sinn, Salem ... wahrscheinlich wusste ich einfach nicht besser; aber mit dem Klischee hast du durchaus Recht. Werde ich in Zukunft dran denken!
Danke für den Hinweis! :thumbsup:

 

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