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Brombeeren
Die junge Frau hockte vor dem Brombeerstrauch. Reglos saß sie da und starrte auf die blauen Früchte.
Raphael beobachtete sie bereits eine ganze Weile. Zuerst von seinem Platz im Café aus, gelangweilt, ohne größeres Interesse. Dann war er aufgestanden und zur Bushaltestelle gegangen. Während er wartete, schweifte sein Blick immer wieder zu der Hockenden hinüber. Ihre Ausdauer verwunderte ihn und sie begann, seine Neugier zu wecken. Die Frau passte nicht in das ansonsten so alltägliche Bild, harmonisierte nicht mit der ihm vertrauten Umgebung. Sie sprengte auf sonderbare Weise den vorgegebenen Rahmen, war ein ruhender Pol in einer ansonsten hektisch wirbelnden Straßenszenerie.
Endlich kam der Bus. Als Raphael einsteigen wollte, schaute er nochmals auf die regungslose Gestalt.
Er stieg nicht ein, sondern blieb auf dem Bürgersteig stehen. Der Bus fuhr ab.
Kurz entschlossen überquerte Raphael die Straße. Langsam und vorsichtig, mühsam darauf bedacht, die Frau nicht zu erschrecken oder in irgendeiner Form zu stören, trat er vorsichtig an sie heran.
Verstohlen musterte er sie aus der Nähe. Ungefähr zwanzig, vermutete er, nicht hässlich, aber irgendwie blass und unscheinbar.
Bedächtig ließ sich Raphael neben der Frau nieder. Sie verharrte in ihrer Stellung, ohne von ihm Notiz zu nehmen.
„Was machen Sie da?“, fragte er schließlich.
Die junge Frau blickte ihn seltsam an.
„Ich leiste Gesellschaft“, antwortete sie dann, in einem Tonfall, der das Selbstverständliche ihres Tuns unterstrich.
„Wem?“ erkundigte sich Raphael erstaunt, während er in ihr offenes Gesicht schaute. „Wem leisten Sie Gesellschaft?“
Er konnte niemanden entdecken.
Die Frau zeigte auf eine Brombeere, die etwas abseits von den anderen abgefallenen Beeren lag.
„Sie fühlt sich einsam“, erklärte sie.
Sie scherzte zweifellos.
Raphael wollte laut auflachen, um die absurde Lächerlichkeit ihres Gedankens herauszustreichen und bloßzustellen. Aber etwas am Blick der Frau hinderte ihn daran, und so stieß er lediglich ein kurzes, kehliges Kichern hervor, doch es klang gekünstelt und falsch.
Plötzlich begriff Raphael, wie ernst es ihr mit dem Gesagten war, und genau diese unumstößliche Ernsthaftigkeit in ihren Augen, der Mimik, ihrer Stimme nahm ihrem Gedanken jegliche Komik. Im Gegenteil, Raphael ertappte sich dabei, daß er anfing, sich ebenfalls ernsthaft mit ihrem Problem auseinanderzusetzten.
„Schieben Sie die Beere doch einfach zu den anderen!“ schlug er vor, ehrlich darauf bedacht, den Mißstand zu beheben, eine akzeptable Lösung anzubieten.
Die junge Frau hob abwehrend ihre Hände.
„Nein! Das wird ihr wehtun“, meinte sie leise. „Wir dürfen sie nicht bewegen. Sie ist doch bereits so tief gefallen.“
Darauf wußte Raphael nichts zu erwidern. Eine Weile hockten die beiden sprachlos nebeneinander. Er fühlte sich hilflos, während er nach einem logischen Ausweg für ein Dilemma suchte, das natürlich im Grunde jeglicher Logik entbehrte.
Die Stille wurde ihm unerträglich.
„Wie heißen Sie?“ fragte er deshalb, nur um überhaupt irgendwas zu sagen.
Statt einer Anwort reichte ihm das Mädchen einen kleinen, grauen Ausweis, auf dem stand:
Lea Flanders
Metzlerstraße 11
St. Franziskus-Heim
Zimmer 112
Danke für Ihre Hilfe!
Raphaels innere Spannung löste sich schlagartig. Statt dessen machte sich Enttäuschung in ihm breit.
Er kam sich vor wie ein Narr.
„Du bist aus der Anstalt. Eine von den Bekloppten!“
Raphael schüttelte den Kopf. Er hätte es wissen müssen.
„Eine von den Bekloppten!“ wiederholte er.
Die Gesichtszüge der Frau verzogen sich qualvoll. Bekümmert zeigte sie auf die einzelne Beere.
„Sie leidet“, sagte sie, ohne weiter auf Raphaels Feststellung einzugehen. „Sie leidet fürchterlich. Sie weint, weil sie sich allein fühlt. Unverstanden.“
Die junge Frau blickte Raphael direkt ins Gesicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Sie weint!“
Raphael spürte kalte Wut in sich aufsteigen. Eine Bekloppte also. Und er hatte sich ernsthafte, tiefgreifende Gedanken gemacht. Wegen des Gemütszustandes einer Frucht. Was für eine Zeitverschwendung.
„Das ist doch Unsinn!“ entfuhr es ihm schroff. „Beeren haben keine Gefühle. Sie sind nicht in der Lage, etwas zu empfinden.“
„Sie ist einsam. Sie weint!“ beharrte das Mädchen. „Können Sie sie denn nicht um Hilfe schreien hören?“
„Nein! Nein, sie weint nicht. Und sie schreit auch nicht“, brüllte Raphael. „Sie kann gar nicht weinen. Es ist doch nur eine alberne Beere.“
Seine Stimme klang hart und kalt.
„Sie ist völlig ohne Leben. Tot!“
„Tot?“ flüsterte die Frau.
„Ja. Tot!“ entgegnete Raphael mit grausamer Endgültigkeit.
Die junge Frau erhob sich. Ihr Gesicht war starr, maskenhaft. Einen Augenblick zögerte sie, dann machte sie einen kleinen Schritt vorwärts und zertrat die Beere.
„Tot!“ sagte sie traurig. „Tot!“
Dann drehte sie sich um und überließ Raphael sich selbst.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ erkundigte sich ein Spaziergänger besorgt, der Raphael nach Einbruch der Dunkelheit zusammengekauert vor dem Brombeerbusch entdeckte.
Raphael blickte zu dem Mann hoch und schüttelte den Kopf. In seiner linken Hand hielt er behutsam eine zerdrückte Beere.
„Was ist mit Ihnen?“ wandte sich der Spaziergänger ein zweites Mal an ihn.
Traurig schaute Raphael auf die zerdrückte Frucht.
„Sie leidet. Sie leidet weil sie allein ist. Und weil niemand sie versteht.“
Er wandte seinen Blick wieder dem Spaziergänger zu, der irritiert mit dem Kopf nickte und dann rasch weiterging.
Raphaels Haltung verkrampfte sich und seine Gesichtszüge wurden hart als er dem Mann hinterher rief: „Können Sie ...
... können Sie sie denn nicht um Hilfe schreien hören?“