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Frösche im Nebel
Als ich an diesem Tag erwache, ist die Welt um mich verschwunden. Dicke Nebelschwaden umschließen mein Haus, und es ist mir kaum möglich, den alten Apfelbaum zu erkennen, der am Ende meines Gartens steht und den Übergang in die Wildnis markiert. Es ist zu einem Ritual für mich geworden, jeden Morgen zu ihm hinüber zu schauen und mich so zu vergewissern, dass die Welt noch ist, wie sie ist.
Durch mein geöffnetes Fenster zieht kühle, leicht modrig duftende Luft herein und weckt meine Sinne. Ich stehe auf, koche einen Tee voller Gewürze und hole die erste Lebkuchenpackung der Saison aus dem Schrank. Es gibt gesündere Methoden, um in den Tag zu starten, aber keine bessere, um den beginnenden Herbst zu feiern. Schon als Kind habe ich diese Jahreszeit am meisten geliebt, konnte es kaum erwarten, hinauszustürmen, Kastanien und Eicheln zu sammeln und seltsame Fabelwesen aus ihnen zu basteln.
Noch heute hebe ich besonders schöne Exemplare vom Boden auf, lasse sie als Handschmeichler durch meine Finger gleiten und vergesse sie regelmäßig in meinen Manteltaschen, bis sie trocken, stumpf und schrumpelig geworden sind.
Mit dicken Wollsocken an den Füßen mache ich es mir auf dem Sofa gemütlich, ein Buch vor der Nase und den Teebecher in der Hand, an dessen Inhalt ich mir wie üblich die Lippen verbrenne. Geduld war noch nie meine Stärke.
Ich versinke in den Zeilen und tauche ein in die Geschichte, während ich in meiner warmen Burg darauf warte, ob die Welt heute noch zu mir durchdringen wird. Hin und wieder koche ich neuen Tee, gegen Mittag zünde ich den Kamin an. Von draußen dringt gleichbleibend unwirkliches Licht zu mir herein, welches die Tageszeit mehr verschleiert als preisgibt.
Dann höre ich ein Geräusch, so unvermutet die Stille durchbrechend, so verwunderlich, dass ich das Buch sinken lasse, lausche, und, als es wieder ertönt, zur Terrassentür gehe und diese öffne. Der Nebel schwappt fast herein, so dicht ist er, und irgendwo in diesem gespenstischen Nirgendwo quakt ein Frosch.
Nicht nur die Jahreszeit verwundert mich, auch der Klang an sich, denn Frösche gab es hier noch nie. Ich ziehe Schuhe und Mantel an und wage mich vor die Tür, folge dem Pfad durch meinen Garten und spüre die Angst, mich zu verirren, als hinter mir mein Haus im Weiß verschwindet.
Erneut ein Quaken, fast schon fordernd, und ich folge seinem Ruf, muss an Martin denken, der Frösche liebte und nie verstand, warum es bei uns keine gab. Mit ihm verschwanden auch all die kleinen und großen Amphibien seiner Sammlung, Stofftiere, Tonfiguren, Becher, Bilder und Kerzen, die sich in unserem Haus getummelt hatten. Manchmal hatte ich geglaubt, er liebe seine Frösche mehr als mich.
Der Ruf erklingt von links, und ich folge ihm. Martin hätte schon längst erkannt, um welche Art es sich handelt, er erkennt jeden an seinem charakteristischen Laut. Für mich ist Frosch einfach Frosch, mal groß, mal klein, mal braun, mal grün, aber mehr als Laubfrösche sind mir nicht bekannt.
Ich verliere meine Orientierung und mein Zeitgefühl, ja mehr noch, ich vergesse, dass es so etwas wie Richtungen und Zeit überhaupt gibt. Der Frosch lockt mich und ich folge seiner Stimme. Schließlich erreiche ich einen kleinen Teich, und kaum habe ich mich auf einer alten, verrotteten Bank niedergelassen, werde ich zur Zuhörerin des seltsamsten Konzertes, das ich je gehört habe. Dutzende Frösche quaken in den unterschiedlichsten Tonhöhen, und nach und nach erscheint es mir, als lausche ich einer Sinfonie, die kein Komponist sich je erdacht haben könnte.
Als es vorbei ist, sitze ich noch eine Weile dort, bis endlich die Sonne durchbricht und mir zeigt, wie spät es inzwischen sein muss. Ich mache mich auf den Heimweg, den ich nun ohne Schwierigkeiten finde, und schüttele mir zu Hause die Feuchtigkeit des Herbstes aus den Haaren. Mein Erlebnis erscheint mir immer unwirklicher, und es gibt nur einen Menschen, der meine Begeisterung verstehen und teilen würde.
Vielleicht ist doch noch nicht alles zu spät für uns. Ich greife zum Telefon und wähle die fast schon vergessene Nummer.
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02./03. Oktober 2005