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Was ist eine Geschichte?

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18.04.2002
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Was ist eine Geschichte?

Darüber, was eine Kurzgeschichte ist, wurde schon oft diskutiert. Mir geht es in diesem Thread darum, was eine Geschichte ist, oder anders ausgedrückt: warum etwas eine Geschichte ist und nicht z.B. ein Bericht. Einige Thesen hierzu:

Bei Kurzgeschichten mit einer Pointe, einer überraschenden Wendung ist recht gut zu sehen, welches Merkmal für das Geschichtesein wesentlich ist - die Erzählperspektive ändert sich, eine neue Ebene der Information wird erschlossen. Auf diese Weise werden oft Ereignisse beschrieben. Wie sieht es nun aber mit Texten aus, die vorwiegend Gefühle, Stimmungen vermitteln? Auch hier braucht das Geschriebene eine ihm eigene Historie des Wechsels, der Text strebt z.B. von einer euphorischen Anfangssituation zu einer Desillusionierung. Dies kann in kontinuierlicher Erzählweise geschehen oder diskontinuierlich - bei einem Werk mit Epiphaniefokus steht die plötzliche, tief greifende (u. U. erschütternde) Erkenntnis des Individuums im Vordergrund.

Das Festlegen des Fokus eines Werkes ist eine wichtige Maßnahme, um aus einem Text eine Geschichte zu machen. Natürlich kann man nur eine typische Situation, eine Gruppe von Menschen beschreiben wollen, ähnlich einem Genrebild. Doch so entsteht ein Bericht. Prüfstein für die Unterscheidung ‚Bericht’ versus ‚Geschichte’ ist meines Erachtens nach (abgesehen vom erwähnten Wechsel der Erzählebene und der Fokussierung), ob man den Eindruck hat, der Text könnte auf die vorliegende Art letztlich beliebig lange weiter geführt werden, gleichwertige Situation reiht sich an Situation, Kontinuität wahrende Information an Information. So kann kein Spannungsbogen entstehen, dieser benötigt gewissermaßen eine erzählerische Energiedifferenz, um einen unter Spannung stehenden Strom des Erzählflusses zu generieren. Ein noch so ergreifender Text über Leid oder Freude bleibt sonst ein Bericht oder eine Reportage.

Betrachtet man journalistische Schreibformen (Bericht, Reportage, Dokumentation …), so ist ein wesentlicher Unterschied zur Geschichte, dass diese Ausdrucksformen keinen konstruierten Spannungsbogen *) haben, und das Geschehen chronologisch beschrieben wird. Es werden Tatsachen beschrieben, es besteht also ein gewisser Wahrheitsanspruch.
Eine Geschichte hingegen beschreibt fiktive Realität, gestaltet nach den Erfordernissen einer vom Autor gewünschten Aussage, sie kann mit Zeitsprüngen und besonderen Stilmitteln (z.B. Chiffren) arbeiten. Eine Reportage beantwortet, wenn es irgendwie möglich ist, die W-Fragen (Wer? Wo? …). Eine Geschichte jedoch kann bewusst auf Informationen verzichten, der Leser erschließt Fakten oder wird sogar vom Autor im Dunkeln gelassen.

Solche Überlegungen sollen natürlich nicht der Einschränkung von Autoren dienen, sondern gewisse Aspekte des Schreibens deutlich machen, zeigen, wie Sprachkonstruktion funktionieren kann.
Eine gute Geschichte will nicht nur strukturiert sein, mit Einleitung, Hauptteil, Schluss (wobei die klassische Kurzgeschichte auf die Einleitung verzichtet), sondern auch konstruiert. Die Konstruktion des Inhalts (Fokussierung, Pointierung) gelingt nur bei entsprechender Stärke der Thematik, ‚schwache’ Inhalte eignen sich nicht für einen Text, der einen gewissen Anspruch erfüllen soll. D. h. natürlich nicht, dass sich automatisch durch die Beachtung des Formalen gute Geschichten ergeben, aber die Chancen hierfür steigen erheblich.

Über Ergänzungen und Meinungen zu diesen Thesen würde ich mich freuen,

l G,

Woltochinon

*) Zufällig mag es dieses Element des Spannungsbogens bei realem Geschehen geben (‚ Geschichten, die das Leben schrieb’), doch selbst dann liegt das Hauptaugenmerk auf der Vermittlung von Tatsachen, nicht auf kreativer künstlerischer Arbeit.

 

Das Thema "Bericht vs. Geschichte" ist zeimlich heikel. Es gibt zum Beispiel immer wieder hitzige Debatten über Reisetexte, die viele nicht mehr als Geschichte sehen, weil solche Texte nur geringfügig über das Beschreibende hinausgehen. Die Grenze ist wie so oft äußerst schwammig und subjektiv geprägt, auch wenn die Definitionen von Bericht und Geschichte durchaus logisch/eindeutig erscheinen mögen...

 

Dein Beitrag, Woltochinon, ist ein grundsätzlicher und hat sicher wegen der zeitlichen Nähe zu der bis vorgestern hitzig geführten Diskussion in einem der Kritikerthreads auch einen aktuellen Bezug, doch mir scheint, das Pulver wurde bereits dort verschossen, man meint vielleicht, es wurde alles zu dem Thema gesagt.

Gleichwohl will ich auf deine Bemerkungen eingehen, dies vor allem wegen meiner Zweifel, daß es möglich sein könnte, eine allgemeingültige Definition darüber zu verfassen, was eine Kurzgeschichte ist oder zu sein hat.

Ich finde nicht, daß, wie du meinst, die Existenz eines Spannungsbogens in einem den Alltag beschreibenden Text das entscheidende Kriterium für seine Geschichtshaftigkeit sei, sonst könne es sich nur um einen Bericht oder Reportage handeln. Ich meine, daß auch Aneinanderreihung von immer gleichen oder ähnlichen Situationen oder Begebenheiten mit kaum oder gar nicht vorhandenen Höhepunkten eine Geschichte ergeben kann – im Kopf des Lesers bildet sich die Geschichte von selbst. Für mich ist entscheidend: es geschieht etwas in der Geschichte, d.h. es wird erzählt, daß etwas passiert, ganz gleichgültig vom wem, über wen oder über was.

Daher glaube ich auch nicht, daß es Themen oder schwache Inhalte gibt, die sich für anspruchsvolle Kurzgeschichten nicht eignen.

In diesem Zusammenhang kann ich eine Kurzgeschichte von Joseph Roth empfehlen: Der Nachtredakteur Gustav K. Darin wird geschildert, wie sich ein Nachtredakteur äußerlich verändert, während er seine Arbeit macht. Es geschieht nichts Besonderes, er macht nur seine Arbeit wie jede Nacht, und doch ist die Geschichte spannend zu lesen.

Dion

 

Hallo HienTau

„Es gibt zum Beispiel immer wieder hitzige Debatten über Reisetexte, die viele nicht mehr als Geschichte sehen“

Einen Reisetext (man sagt ja Reisebericht) ist nicht fiktiv, also schon mal keine Kurzgeschichte. Wenn die Reiseerlebnisse aber einen Spannungsbogen ergeben (die Geschichte gewissermaßen zufällig mitgeliefert wird, könnte man es als Grenzfall akzeptieren.

„Das Thema "Bericht vs. Geschichte" ist zeimlich heikel“ ganz klar, aber das ist auch ein Teil des Reizes, die Thematik doch einigermaßen in den Griff zu bekommen.

L G,

tschüß… Woltochinon


Hallo Dion,

ich weiß leider nicht, auf welchen „hitzigen“ Thread du dich beziehst, mich treibt die Thematik schon eine ganz Zeit um, ich stoße auch immer wieder auf Texte, die keine Geschichte sind, meiner Ansicht nach viel zu oft.

„allgemeingültige Definition darüber zu verfassen, was eine Kurzgeschichte ist oder zu sein hat.“

Allgemeingültigkeit wäre ein zu hohes Ziel (es gibt ja keinen Literaturpapst, auch wenn man das Wort immer wieder mal hört…). Eine Beschäftigung mit der Thematik erscheint mir aber wichtig, da es sich manche Autoren einfach zu leicht machen. Sicherheitshalber noch einmal: Es geht mir nicht um Kurzgeschichte, sondern Geschichte an sich, würde also auch auf eine Novelle zutreffen.

„Ich finde nicht, daß, wie du meinst, die Existenz eines Spannungsbogens in einem den Alltag beschreibenden Text das entscheidende Kriterium für seine Geschichtshaftigkeit sei“

- Kannst du da bitte mal zitieren, bin nicht sicher, auf welchen Abschnitt du dich beziehst. Ich führe ja mehrere Kriterien an.


„Daher glaube ich auch nicht, daß es Themen oder schwache Inhalte gibt, die sich für anspruchsvolle Kurzgeschichten nicht eignen.“

- Wenn aus dem Thema dann eine „anspruchsvolle“ Geschichte geworden ist, war es kein schwaches. Aber ich denke schon, dass manche thematischen Ausgangspunkte nicht genug hergeben: Wenn mir ein Autor (um ein Beispiel zu konstruieren) erzählen will, dass jemand Selbstmord begeht, weil es nicht mehr seine Lieblingseissorte gibt, dann müsste man schon eine verdammt gute Rahmenhandlung aufbauen um eine Dramatik glaubhaft darzustellen.

„im Kopf des Lesers bildet sich die Geschichte von selbst. Für mich ist entscheidend: es geschieht etwas in der Geschichte, d.h. es wird erzählt, daß etwas passiert“

- Das ist äußerst interessant: Ich habe auch schon überlegt (und entsprechend geschrieben), wie man gewissermaßen die zweite Ebene einer Geschichte nach außen, in den Kopf des Lesers verlagern kann - allerdings ohne in eine Beliebigkeit der Interpretation des Lesers zu verfallen.

„Für mich ist entscheidend: es geschieht etwas in der Geschichte“ - Für mich auch, nur ein Geschehen stellt sich selten von allein ein, deshalb meine Forderung der Konstruktion.

Danke für deine Anregungen,

liebe Grüße,

Woltochinon

 

Woltochinon schrieb:
ich weiß leider nicht, auf welchen „hitzigen“ Thread du dich beziehst, ...
Siehe bitte Thread "Ich bin für mehr Kurzgeschichten und für weniger schlechten Text... " ab etwa hier habe ich's verfolgt:
http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?p=352492#post352492

Woltochinon schrieb:
Es geht mir nicht um Kurzgeschichte, sondern Geschichte an sich, würde also auch auf eine Novelle zutreffen.
Das ist auch meine Meinung, Woltochinon, ob kurz oder lang ist weniger wichtig.

Woltochinon schrieb:
Dion schrieb:
„Ich finde nicht, daß, wie du meinst, die Existenz eines Spannungsbogens in einem den Alltag beschreibenden Text das entscheidende Kriterium für seine Geschichtshaftigkeit sei“
- Kannst du da bitte mal zitieren, bin nicht sicher, auf welchen Abschnitt du dich beziehst. Ich führe ja mehrere Kriterien an.
Gerne:

Woltochinon schrieb:
Prüfstein für die Unterscheidung ‚Bericht’ versus ‚Geschichte’ ist meines Erachtens nach (abgesehen vom erwähnten Wechsel der Erzählebene und der Fokussierung), ob man den Eindruck hat, der Text könnte auf die vorliegende Art letztlich beliebig lange weiter geführt werden, gleichwertige Situation reiht sich an Situation, Kontinuität wahrende Information an Information. So kann kein Spannungsbogen entstehen, dieser benötigt gewissermaßen eine erzählerische Energiedifferenz, um einen unter Spannung stehenden Strom des Erzählflusses zu generieren. Ein noch so ergreifender Text über Leid oder Freude bleibt ein Bericht oder eine Reportage (die im Gegensatz zur Kurzgeschichte keine Fiktion ist).

Woltochinon schrieb:
Aber ich denke schon, dass manche thematischen Ausgangspunkte nicht genug hergeben: Wenn mir ein Autor (um ein Beispiel zu konstruieren) erzählen will, dass jemand Selbstmord begeht, weil es nicht mehr seine Lieblingseissorte gibt, dann müsste man schon eine verdammt gute Rahmenhandlung aufbauen um eine Dramatik glaubhaft darzustellen.
Es muß ja nicht immer was Dramatisches werden, eine Satire tut's ja auch. Andererseits gibt es auch dafür ein gutes Beispiel von Patrick Süßkind: Die Taube.

Woltochinon schrieb:
Ich habe auch schon überlegt (und entsprechend geschrieben), wie man gewissermaßen die zweite Ebene einer Geschichte nach außen, in den Kopf des Lesers verlagern kann - allerdings ohne in eine Beliebigkeit der Interpretation des Lesers zu verfallen.
Das ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich - du kannst nicht alle Eventualitäten bedenken, du kannst gar nicht so schräg denken, wie manche Leser es tun. Du kannst dich nur auf dich verlassen, die Geschichte vielleicht vor der Veröffentlichung ein paar Leuten zu lesen geben, damit keine grobe logische Fehler drin sind. Mehr kann man nicht tun.

Woltochinon schrieb:
... ein Geschehen stellt sich selten von allein ein, deshalb meine Forderung der Konstruktion.
Ja, schon, doch zu sehr konstruieren sollte man nicht, denn das wirkt dann auch konstruiert. Viel besser finde ich, sich auf Gefühl zu verlassen und meinetwegen zunächst auch mehr schreiben, als es für Verständnis notwendig wäre, um dann radikal zu kürzen - mir fehlt das immer noch schwer. Weil das Arbeit ist.

Wie heißt das so schön: "Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muß, bis sie kurz ist." (Vicente Aleixandre)

Dion

 

Eine Geschichte muss mir etwas erzählen können. Sie muss mich berühren und zwischen den Zeilen muss etwas stehen, was die Worte in Sätzen aneinandergereiht nicht alleine auszudrücken vermögen. Ich brauche einen Plot und ich brauche ein Gerüst mit dem ich den Plot darstelle. Je vielschichtiger die Handlungsebenen sind, desto besser muss ich die Geschichte konstruieren. So kann man ein und den selben Plot immer wieder neu erzählen, wenn das Gerüst umgestellt wird.

Goldene Dame

 

Dion schrieb:
doch mir scheint, das Pulver wurde bereits dort verschossen, man meint vielleicht, es wurde alles zu dem Thema gesagt.
Naja, also ich jedenfalls hoffe, daß es sich hier friedlicher diskutieren läßt. Diskussionen, die aufgrund von Vorwürfen entstehen und daher meist als Streitgespräch geführt werden, versuche ich zu meiden.

„Das Thema "Bericht vs. Geschichte" ist zeimlich heikel“ ganz klar, aber das ist auch ein Teil des Reizes, die Thematik doch einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Im Reclam-Heft »Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte?« (ISBN 3-15-015030-2) findet sich folgende Definition:
Was ist eine Geschichte?

Geschichte bedeutet Geschehenes. Wer aber eine Geschichte erzählt, berichtet nicht von Geschehenem, sondern erzählt ein Geschehen. Jedes Geschehen läßt sich berichten, aber nicht jedes läßt sich als Geschichte erzählen. Damit es zu einer Geschichte werden kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. In seiner einfachsten Form ist ein Geschehen der Übergang von einem Zustand A zu einem Zustand B. Selbst wenn wir an einen extrem sensationellen Übergang denken, werden wir schnell erkennen, daß daraus allein noch keine Geschichte werden kann. Angenommen, ein Mann springt von einer Brücke und ertrinkt. Auch der geschickteste Geschichtenerzähler könnte dieses Geschehen nur berichten, er wäre außerstande, daraus eine Geschichte zu machen. Damit eine solche entstehen kann, muß der Zustand B, also das Ertrinken, zunächst ungewiß bleiben. Selbst wenn der Mann noch eine Weile um sein Leben kämpft, sich womöglich rettet, bleibt es immer noch ein Geschehen, das nur berichtet, nicht als Geschichte erzählt werden kann; denn sowohl der Tod als auch das Überleben des Mannes wäre die lineare Weiterführung des Zustandes A auf der Brücke. Eine Geschichte braucht aber ein nichtlineares Geschehen. Sie muß im Zuhörer oder Leser eine Erwartungsspannung der Ungewißheit aufbauen und diese dann durch das Eintreten einer unvorhergesehenen Wendung lösen. Selbst die handlungsärmste Geschichte braucht eine solche nichtlineare Wendung im Ablauf des Geschehens. Anderenfalls könnte sie nicht den von jeder Geschichte erwarteten Aufbau einer Spannung und danach deren Lösung bewirken. Damit aus einem linearen Geschehen ein nichtlineares wird, muß ihm zunächst etwas entgegenwirken. Im Falle unseres Beispiels könnte dieses zweite Geschehen darin bestehen, daß ein anderer Mann hinterherspringt, um den ersten zu retten. Auch dies ist ein lineares Geschehen, an dessen Ende nur der Erfolg oder das Scheitern des Rettungsversuchs stehen kann. Und wieder könnte das Geschehen nur berichtet, aber nicht erzählt werden; denn im Fall der Rettung würde die Hoffnung des Zuhörers, im Fall des Scheiterns seine Befürchtung erfüllt. Es käme aber zu keinem Aufbau einer Ungewißheitsspannung mit deren abschließender Lösung. Offensichtlich fehlt noch ein drittes Element, um das Geschehen als Geschichte erzählbar zu machen. Es muß etwas eintreten, wodurch das lineare Geschehen eine unverhoffte Wendung erhält. Dies könnte z. B. darin bestehen, daß der mutige Retter ein Nichtschwimmer ist, während der vermeintliche Selbstmörder sich als guter, aber betrunkener Schwimmer entpuppt. Schlagartig eröffnen sich für die Geschichte zwei mögliche Ausgänge, ein ernster und ein heiterer. Im ernsten Fall klammert sich der Retter an den Betrunkenen und reißt ihn mit in den Untergang, im heiteren Fall muß der Betrunkene sich seinerseits abmühen, seinen Retter zu retten. Beides wäre Stoff für eine Geschichte.
Zugegeben, es wären beides recht triviale Geschichten. Aber selbst künstlerisch hochrangige sind auf dieses Schema angewiesen, nur ersetzen sie das triviale physische Handeln durch psychisches Geschehen. Etwa so: Eine Frau lädt zu einer Party eine andere Frau ein, von der sie fasziniert ist, die ihr Mann aber nicht zu mögen scheint. Sie bemüht sich, ihren Mann umzustimmen. Am Ende der Party beobachtet sie ihn bei der Verabschiedung der Gäste, und plötzlich erkennt sie an der Art, wie er der anderen den Mantel umlegt, daß die beiden ein Verhältnis haben. Dies ist der Kern einer äußerst geschehnisarmen Kurzgeschichte von Katherine Mansfield mit dem Titel Glück. Es ist zugleich ein Musterbeispiel für die Minimalstruktur einer Geschichte.
Noch kürzer: Einem elektrischen Pluspol nähert sich ein Minuspol. Wir erwarten den Spannungsausgleich durch Kurzschluß. Da gerät ein unerwarteter Widerstand in Gestalt einer Glühbirne dazwischen. Die Lampe leuchtet auf, und schon ist es eine Geschichte.

Nach dieser Definition müßte man wohl mindestens ein Viertel oder ein Drittel der Geschichten hier löschen…:D Aber nachdem Mirko ja nicht über Platzmangel jammert, im Gegenteil, neulich hat er irgendwo geschrieben, es sei massig Platz, besteht ja gar kein Anlaß, da irgendwie durchzusieben. Dagegen, daß sich immer wieder jemand auf die Zehen getreten fühlt, weil sein Text gelöscht wurde und ein anderer nicht, kann man eigentlich nur eines tun: Alles stehen lassen, was nicht gegen irgendein Gesetz verstößt. Aber dann jammern wieder alle, daß es so viele schlechte Geschichten gibt. Wie man es dreht und wendet, irgendwer wird immer unzufrieden sein. So, wie im Winter alle jammern, daß es so kalt ist, und im Sommer ist ihnen die Hitze auch nicht recht.

Zum Thema Handlung noch ein kurzer Abriß aus dem Kapitel »Das Problem des Spannungsaufbaus: Pointierung und Fokussierung«:

… Anton Tschechow war einer der ersten, der die Abkehr von der Ereignisgeschichte konsequent vollzog und den modernen Typ der Situationsgeschichte schuf. In ihr wird Spannung nicht mehr vertikal in Richtung auf einen Handlungshöhepunkt hin entwickelt, sondern horizontal durch Fokussierung einer Situation auf einen Punkt äußerer Verdichtung. Im Extremfall kann dabei auf Handlung ganz verzichtet werden, wenn eine Situation so erzählt wird, daß sich in ihr eine Spannung – z. B. eine Gereiztheit zwischen zwei Personen oder ein psychischer Spannungszustand in einer einzigen Person – auf einen Fokus hin verdichtet, bis der Leser das Gefühl hat, daß sich dort die gesamte Energie der Erzählung wie in einem Brennpunkt sammelt. Die unterschiedlichen Techniken der Fokussierung werden wir im Kapitel über die Kurzgeschichte noch näher betrachten. …
Es kommt also weniger darauf an, ob eine äußere Handlung zu erkennen ist, sondern darauf, wie das Geschehen erzählt wird.

wegen meiner Zweifel, daß es möglich sein könnte, eine allgemeingültige Definition darüber zu verfassen, was eine Kurzgeschichte ist oder zu sein hat.
In besagtem Reclam-Büchlein steht, daß es für die deutsche Kurzgeschichte noch gar keine allgemeingültige Definition gibt (auch, wenn es manche immer wieder versuchen), weil sie noch zu neu ist und sich ihre Grenzen erst formen muß (weshalb sich deren Kurzgeschichtendefinition auf die amerikanische Short-Story bezieht).
Aber auf kg.de geht es ja auch nicht rein um Kurzgeschichten, sondern um kurze Geschichten. ;)

 

Hallo Dion,

bevor ich den Thread gestartet habe, schaute ich mir die vergangenen Threads an, unter dem von dir erwähnten Titel habe ich nicht meine Thematik erwartet. Na, ich denke, es lohnt sich nicht diese Hitzigkeit zu imitieren. (Trotzdem danke für den Hinweis).

Zitat von Dion
„Ich finde nicht, daß, wie du meinst, die Existenz eines Spannungsbogens in einem den Alltag beschreibenden Text das entscheidende Kriterium für seine Geschichtshaftigkeit sei“

Gut - du beziehst dich also auf den ganzen Abschnitt, war mir nicht sicher. Ich habe diese These nicht nur auf „Alltag“ bezogen, sondern generell gesehen. Was wäre denn deiner Meinung nach ein Kriterium für „Geschichtshaftigkeit“, vielleicht kann man die Liste vervollständigen.

Zitat von Dion:

„Es muß ja nicht immer was Dramatisches werden, eine Satire tut's ja auch.“

Nun, das ist klar, musste halt eine Möglichkeit als Beispiel herausgreifen. Auch bei einer Satire (oder gerade bei einer Satire?) bedarf es einer `starken´ Thematik, damit die Überzeichnung deutlich wird (Satiriker klagen ja schon manchmal, dass Politiker so konturlos sind, dass man sie satirisch kaum fassen kann - was fast schon wieder ein Thema für eine Satire ist).

„Das ist schwierig, wenn nicht sogar unmöglich - du kannst nicht alle Eventualitäten bedenken, du kannst gar nicht so schräg denken, wie manche Leser es tun.“

Ein große Wahrheit gelassen ausgesprochen…

„Ja, schon, doch zu sehr konstruieren sollte man nicht, denn das wirkt dann auch konstruiert.“

Alles was „zu sehr“ ist, ist zuviel des Guten. Mir geht es mehr um das `Gar Nicht´ oder `Zu Wenig´. Wie bei anderen Künsten besteht das Können eines Schriftstellers auch darin, dass seine Arbeit für den Leser nur indirekt erschließbar ist (einer Eiskunstläuferin darf man gar nicht ansehen, wie viel Arbeit ihre Sprünge gekostet haben).

„Viel besser finde ich, sich auf Gefühl zu verlassen“

Auf alle Fälle sollte man sich auch auf sein Gefühl verlassen. Es mag sogar sein, dass jemand ohne Reflektion über Konstruktion eine prima Geschichte schreibt. Das wird nicht die Regel sein, je mehr das Gefühl auf einen Fundus an Erfahrungen und Überlegungen zu greifen kann, um so größer ist die Chance, dass es sich um ein gutes Schreibgefühl handelt, keinen Gefühlsbetrug.

„"Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muß, bis sie kurz ist." (Vicente Aleixandre)

Da würde ich schon ergänzen: … und bis sie - nach dem Verständnis der Zeit - gut ist (das es eine Geschichte ist, hat der Herr Aleixandre wohlweislich vorausgesetzt, wahrscheinlich war im bewusst, wie kompliziert das Thema sein kann).

Danke für Deine Ausführlichkeit!

Hallo Goldene Dame,

deinen Kommentar kann ich unterschreiben, vor allem

„Je vielschichtiger die Handlungsebenen sind, desto besser muss ich die Geschichte konstruieren.“

Bei
„zwischen den Zeilen muss etwas stehen, was die Worte in Sätzen aneinandergereiht nicht alleine auszudrücken vermögen“

würde ich nicht sagen, dass es ein Kriterium für eine Geschichte ist, aber es ist ein begrüßenswerter Ansatz.


Hallo Häferl,

Zitat von Häferl:

„Naja, also ich jedenfalls hoffe, daß es sich hier friedlicher diskutieren läßt. Diskussionen, die aufgrund von Vorwürfen entstehen und daher meist als Streitgespräch geführt werden, versuche ich zu meiden.“

Gerade bei Diskussionen über Themen wie hier im Thread ist ein Streit doch total sinnlos, da es nur um Meinungsaustausch gehen kann. Es geht hier ja nicht um beweisbare Naturgesetze oder logische Ableitungen (deren Prämissen wiederum subjektiv wären). Es gibt aber hoffentlich genügend Erfahrungen und Überlegungen, die das eine oder andere Kriterium für „Geschichthaftigkeit“ bestätigen.
Nun zu deinem umfassenden Text, vielen Dank für die Mühe!
Das von dir zitierte Beispiel zielt genau in die Richtung, um die es mir geht - oft ist bei Texten noch nicht einmal die Minimalforderung für Geschichte zu erkennen.

„Nach dieser Definition müßte man wohl mindestens ein Viertel oder ein Drittel der Geschichten hier löschen“

So viele? Ich hatte doch gehofft, es wäre nur ein Zufall gewesen, wenn ich geschichtslose Texte entdeckt habe :D

Zitat (Reclam)

„sich in ihr eine Spannung … … auf einen Fokus hin verdichtet, bis der Leser das Gefühl hat, daß sich dort die gesamte Energie der Erzählung wie in einem Brennpunkt sammelt.“

Deshalb habe ich oben die These vertreten, dass es nicht ausreicht wenn es so aussieht: „gleichwertige Situation reiht sich an Situation, Kontinuität wahrende Information an Information.“
Für den „Punkt äußerster Verdichtung“ (Reclam) braucht man eine besondere erzählerische Idee, die ich oft vermisse.

Zitat von Häferl:
„Aber auf kg.de geht es ja auch nicht rein um Kurzgeschichten, sondern um kurze Geschichten. ;)

Aber Geschichten… :D


Vielen Dank euch allen für die Beiträge!

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Hallo,


ich will die Sache einmal aus (laien-) psychologischer Sicht betrachten. Um es gleich im Voraus zu sagen, damit ihr mich nicht falsch versteht:
Ich weiß nicht, ob das eins-zu-eins auf "den Leser" zu übertragen ist, wie ich es mir vorstelle. Das Geschichte-Lesen kann bei euch völlig anders laufen. Aber ich gehe erstmal trotzdem davon aus, dass unteren Aspekten wenigstens ein Hauch von Allgemeingültigkeit zuzubilligen ist. Wenn nicht, dann halt nicht. Möchte nur demütig diese Diskussion bereichern, nichts weiter ;).

Der Leser bzw. Zuhörer einer Geschichte hat natürlich sein richtiges reales Leben, seine Vergangenheit, sein Wissen, sein Bild von sich selbst und anderen Personen bzw. Typen, die unzähligen persönlichen, gegenständlichen und abstrakten Verbindungen zu seiner Umwelt, und so weiter.
Dies sei seine reale "Mein-Leben-Realität", welche er während des Leseprozesses gewissermaßen in den Hintergrund rückt und sich dafür eine Geschichte-Realität entwickelt. Wie der Volksmund sagt: "er taucht in die Geschichte ein".
Die Leben-Realität benutzt er als Rohstoff-Lager, woraus er bekannte Elemente nimmt und in die fiktive Realität einbezieht. Er rekombiniert sie, verformt, verändert sie dabei so, wie es die Geschichte in seinen lesenden Augen verlangt.
In der Hinsicht ist eine Geschichte gut mit einem Traum zu vergleichen. Auch im Traum werden die eigenen Erfahrungen nach bestimmten Faktoren (etwa die Erlebnisse des Tages, verdrängte Traumata etc.) rekombiniert, verändert, in einen neuen Kontext gebracht. Aber im Gegensatz zu einem Traum, wo, sagen wir, unser "Schicksal" die Regie führt, ist es bei einer Geschichte der Autor, welcher die -- ihm eigentlich unbekannten -- Elemente der leser-subjektiven Wirklichkeit anspricht und blind, nach seinem Dafürhalten, mit ihnen umgeht, "spielt".

Ein Bericht kann das nicht, aus ihm saugt der Leser keine "Realitätsblase" in seinen Kopf. Was er aus einem Bericht / Essay / usw. liest, setzt er vielmehr direkt in seine subjektive Wirklichkeit um, die aus dem Text erhaltenen Informationen werden unmittelbar Teil von ihr. Behaupte ich einfach mal so, von mir auf andere schießend *peng-peng*.

Ich hoffe, mich halbwegs verständlich ausgedrückt zu haben. Ihr wisst, damit hab ich noch so meine Probleme ;).


FLoH.

 

FLoH schrieb:
Ein Bericht kann das nicht, aus ihm saugt der Leser keine "Realitätsblase" in seinen Kopf.
Ich kann dir bei Vielem zustimmen, FLoH, doch dieser Aussage muß ich widersprechen. Ein Landschaftsfoto ist zum Beispiel zunächst auch nur ein Bericht, und doch ist es vielmehr, wenn man sich darauf einläßt, die Einzelheiten etwas genauer betrachtet und sich ausmalt, wer alles in Laufe der Jahr(hundert)e in einem Haus gelebt, die Wege gegangen, oder auf Feldern gesät und geerntet hat - ich kann mir ohne weiteres eine Geschichte dazu ausdenken.

Dies alles ist natürlich das Produkt aus Gesehenem, selbst Erlerntem, Erfahrenem und Gedachtem bzw. Phantasiertem – genauso wie das bei einer von einem anderen geschriebenen Geschichte der Fall ist, bei welcher der Autor mich mehr lenken kann, als er es mit einem Bericht oder einem Foto vermag.

Dion

 

Hallo Floh,

dein psychologischer Ansatz der Beantwortung meiner Frage ist sehr interessant. Wichtig ist, dass den „Aspekten wenigstens ein Hauch von Allgemeingültigkeit zuzubilligen ist.“ Setzen wir das als (z.B. durch Erfahrung) gegeben voraus, ergibt sich, dass ein Autor, wenn er eine Geschichte schreiben will, eine hinreichend große Schnittmenge an gleich verstandenen Symbolen, Erfahrungen, Kenntnissen haben muss, um sich dem Leser nähern zu können. Ein Text `müsste also darauf abzielen, den exemplarischen Leser zu erzeugen - der den Text so liest, wie er im gewissen Sinne´ (vom Autoren) `angelegt ist.´ (U. Eco).
Mir kommt das eher so vor, als ob deine Theorie beschreibt, wie eine Geschichte im Kopf des Lesers entsteht (falls ein Autor eine Geschichte gewissermaßen `zur Verfügung stellt´), nicht aber, was sie formal ausmacht. Deine These zeigt, welche Voraussetzungen es geben muss, damit sich der Autor mit dem Leser verständigen kann. Dass „bei einer Geschichte der Autor“ „Regie führt“ erscheint mir nicht zwingend, bei einem Bericht – s. auch die Anmerkung von Dion - kann auch eine "Realitätsblase" entstehen.
Sicher, der Autor muss mit Elementen aus der Welt des Lesers spielen, doch worin besteht dieses Spiel? Sicher ist auch für die Pointierung und Fokussierung eine gewisse Kenntnis psychologischer Mechanismen nötig, sonst gelingen diese Maßnahmen nicht, eine Textkonstruktion wird dann unter Umständen unglaubwürdig.
Womit ich dir auf alle Fälle recht gebe: Bei einer Geschichte muss im Gegensatz zu einem Bericht etwas anderes, zusätzliches als ansprechendes Element enthalten sein. Dass eine Geschichte fiktiv ist, ein Bericht (noch deutlicher, eine Reportage) nicht, stimmt beim Unterschied Kurzgeschichte – Bericht. Bei `Geschichten, die das Leben schrieb´ können Bericht und Geschichte zur Deckung kommen.
Letztlich bleibt die Frage: Wie erkennt ein Autor (was muss er tun), ob er das von dir erwähnte Spiel richtig spielt?

Danke für deine Gedanken,

l G,

tschüß… Woltochinon

 
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Nachgedacht und um folgende Erkenntnis reicher ...

Ein Bericht gibt ein Ereignis wieder. Er dient dem Leser wesentlich dazu, seinen Erfahrungs- bzw. Wissensschatz zu vermehren mit Vorstellungen, was unter welchen Umständen passiert ist, passieren kann.

Eine Geschichte hingegen kodiert eine ...

  • auf einer fiktiven|wahren Begebenheit basierende,
  • zeitlich, räumlich und kausal geordnete,
  • figur- und situationsgebundene
Menge von Sinneseindrücken, Gefühlen [edit], Gedanken, Erinnerungen,[/edit] aber auch [Re-]Aktionsimpulsen: Sie ist ein Erlebnis!


FLoH, der hofft die Diskussion
damit wieder anzuregen.

 
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Hallo Floh,

du meinst es wirklich ernst… freut mich! 

Das Schlüsselwort scheint für mich „kodiert“ zu sein, man müsste es näher bestimmen: Woran erkennt man eine Kodierung?

Die anderen Stichwörter

• auf einer fiktiven|wahren Begebenheit basierende,
• zeitlich, räumlich und kausal geordnete,
• figur- und situationsgebundene

(abgesehen von „fiktiv“) treffen meinem Erachten nach auf „Ereignis“ und Geschichts-„Erlebnis“ zu.
Wichtig ist auch der von dir genannte Begriff „geordnet“, da die Ordnung für Steigerung und/oder Überraschung eines Textes maßgeblich ist, um ihn zur Geschichte zu machen (im Gegensatz z.B. zu einem Protokoll).

Interpretiere ich dich da richtig, wenn du den Gefühlen „[Re-]Aktionsimpulse“ gegenüber stellst, um auch Intellekt mit einzubeziehen? (Eine oft vernachlässigte Größe).

Was für mich noch sehr maßgeblich ist, damit man eine Geschichte vor sich hat, ist die übergeordnete Aussage (Ausnahme: reine Unterhaltungstexte): Das hebt eine Geschichte von einem Bericht ab, bei ihm muss ich nicht gewissermaßen Aussagen in eine bestimmte Richtung extrapolieren. Nein - eigentlich ist das mehr ein Kriterium für `anspruchsvolle Geschichte´.

L G,

tschüß… Woltochinon

 

Ich würde sagen, die beiden Ps... Plot und Prot?
Inhaltliche Stringenz (Faust 2 also nicht), Abgeschlossenheit...?

 

Ein Plot im Sinne einer fortschreitenden Handlung ist mAn kein zwingendes Merkmal fuer eine Kurzgeschichte. "Golem" und "Neue Kosmogonie" von S. Lem sind die gute Beispiele dafuer, dass das gedankliche Durchspielen einer Idee, Konzeption u.ae. einen Spannungsbogen ersetzen kann.

 
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Die anderen Stichwörter ... (abgesehen von „fiktiv“) treffen meinem Erachten nach auf „Ereignis“ und Geschichts-„Erlebnis“ zu.
Das stimmt. Maßgeblich für meine Unterscheidung zwischen Bericht und Geschichte ist aber Kodierung vs. Wiedergabe.

Woran erkennt man eine Kodierung?
Versuch einer Antwort auf diese sehr schwierige Frage ...
Wiedergabe: Erlebnis -> Begreifen -> Beschreiben des Erlebnisses. Kommuniziert wird ungefähr das, was im Kopf bzw. Verstand des Autors vorgeht, wenn er zurücksieht. Die Wahl der Zeitform ist da übrigens egal, das Präsens macht kein Erlebnis daraus.
Kodierung: Erlebnis -> Begreifen -> Erinnerung, Rekonstruktion -> Schaffung eines "Effektfeuerwerks", das dem Erlebnis entspricht. || Bzw. bei fiktiven Erlebnissen: Phantasiertes Erlebnis <-> Begreifen, Modifizieren <-> Strukturieren, Arrangieren, Prüfen -> Schaffung einer Erlebnis-äquivalenten Effektur*. Kommuniziert werden die Wirkungen des realen|fiktiven Ereignisses auf die Figur, die durch die Dekodierung auf den Leser übertragen werden.
(Boah, warum gibts keine Prozessorkühler fürs Gehirn? *Kopf in Kühlschrank steck*)

Interpretiere ich dich da richtig, wenn du den Gefühlen „[Re-]Aktionsimpulse“ gegenüber stellst, um auch Intellekt mit einzubeziehen? (Eine oft vernachlässigte Größe).
Hm, nein. Aktionsimpulse sind ja nicht immer, wenn man ehrlich ist sogar ziemlich selten, von Vernunft geleitet, wenn ich die als Kern des Intellekts betrachten darf.
"Die Vernunft ist nicht mehr als eine Nussschale auf dem Ozean der Gefühle!" ;)
Ich habe es in #13 bei Gefühlen belassen, Gedanken und Erinnerungen und so weiter lese man bitte ebenso dazu, die hab ich unterschlagen *editier*.


FLoH.

*) Ja, dieses Wort gibt es. Und wenn nicht, dann eben ab JETZT :D.

PS: Die Wiedergabe kann natürlich ein Effektmittel der Erlebniskodierung sein. Peter Hoek ("Fräulein Smillas Gespür für Schnee") etwa hat mich da ganz schön beeindruckt, wie er durch geschickte, nur scheinbar sachliche Wiedergabe durch die Figur Smilla jene eiskalte Athmosphäre erzeugt.

 

@vita

Da müsste man definieren, wann etwas ein `Plot´ ist, damit es keinen Zirkelschluss gibt.

@Proproxilator

„gute Beispiele dafuer, dass das gedankliche Durchspielen einer Idee, Konzeption u.ae. einen Spannungsbogen ersetzen kann.“

- Ich würde nicht sagen, das es ein Ersatz ist, sondern eine andere Art von Spannungsbogen. So ähnlich, wie es spannend sein kann, ein mathematisches Rätsel zu lösen. Da kämpfe ich ja immer drum: Dass auch das Intellektuelle spannend sein kann)

@FloH

„Wiedergabe: Erlebnis -> Begreifen -> Beschreiben des Erlebnisses. Kommuniziert wird ungefähr das, was im Kopf bzw. Verstand des Autors vorgeht, wenn er zurücksieht“

… oder wenn er zusieht (Reportage)

„Kommuniziert werden die Wirkungen des realen|fiktiven Ereignisses auf die Figur“

Ich finde es gut, wenn Kg. Als fiktive Realität definiert werden (was strenge Kg-Definitionen auch tun), weil dann z.B. Bewältigungsliteratur ausgeschlossen ist, der Autor auch mehr Kreativität für einen Text aufbringen muss. Bei der grundsätzlichen Betrachtung, was einen Text zur Geschichte macht, will ich den Aspekt der Einfachheit ausklammern. Also zurück zur Ausgangsfrage unter Einbeziehung von

„eines Effektfeuerwerks“ „Schaffung einer Erlebnis-äquivalenten Effektur“.
(ist das äquivalent mit meinem „konstruiert“ sein?). Entscheidend erscheint nach wie vor ein Bruch in der Linearität des Textes, damit es eine Geschichte wird. Manche Erlebnisse sind gewissermaßen von selbst eine Geschichte, ich brauche sie nur aufzuschreiben. Andere Erlebnisse/Vorgänge müssen erst durch Konstruktion - und weiteres - (z.B. „Schaffung“ „eines Effektfeuerwerks“) zu einer Geschichte gemacht werden. Vielleicht kannst du dieses „Kodieren“ mal an einem Beispiel aufzeigen (Kodieren soll meiner Ansicht nach nicht `Verschlüsseln´ bedeuten, sondern die Kodierung eines Textes in einer Weise, die aus dem Text eine Geschichte macht. Wegen der Möglichkeit eines Missverständnisses ist mir auch `Konstruieren´ lieber, aber vielleicht meinst du etwas weitergehendes?).

L G,

tschüß… Woltochinon

 
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Ein Beispiel:

Wiedergabe schrieb:
Ich erlebe vor meinen Augen einen Unfall: Da ist der Knall, die beiden ausrollenden Autos mit ihren entsprechend demolierten Knautschzonen, und ich nehme nur noch die Stille wahr. Obwohl ich eigentlich hätte als Zeuge da bleiben müssen, trete ich schockiert in die Pedale und mache mich davon.

Kodierung schrieb:
Die Straße scheint an dem Abend leer, nur wenige Autos fahren. Bin in Gedanken, schlängele mit meinem BMX ein bisschen auf dem Radweg, bis ich an der Kreuzung halte. Ich höre ein Auto sich von hinten nähern, und ein anderes seh ich von vorn. Dann:
KNALLT es. Es macht Knall, ganz einfach Knall, hätte man mich bis eben gefragt, wie es sich anhört wenn zwei Autos ineinander ... warum sind die nicht einfach aneinander vorbei? ... zum ersten Mal, was habe ich eben ... Stille ... ... Soll ich -? ... Nein wozu, ich meine ... soll ich nicht doch -? ... aber in den Autos ist niemand am Lenkrad, denn niemand steigt wutentbrannt aus, um ... ... um ...
Man wird mich ja doch nicht als Zeuge befragen, kann auch nur sagen dass zwei Autos einfach ineinander- ... Ich steige wieder aufs Rad und tret in die Pedale, hoffe nur, dass die Polizei bald kommen wird. Ein verdammt mieses Gewissen, kann ich so einfach? ... Sie soll mich verhaften, scheiße, ich fühl mich so scheiße.

Apropros "konstruieren" vs. "kodieren": Das meint für mich nicht das gleiche, denn während ersteres das inhaltlichere, verstandesmäßige innere Arrangement eines Erlebnisses (Was soll in welcher Reihenfolge passieren? >> Wieviele Autos sollen involviert sein? Wie sollen sie ineinander fahren?) bezeichnet, meint letzteres die praktische Übersetzung des Erlebnisses in einen Text, der wie gesagt dem Leser annähernd suggeriert, es selbst erlebt zu haben.

Grob gesehen wird das, was ich mit "Kodierung" meine, gut durch den alt-bekannten Begriff "Show don't tell" abgedeckt, ist halt nur ein abstrakteres, mehr umfassendes, fundamentaleres Konzept. Ich könnte auch großspurig behaupten, die Kodierung ist die große und "Show don't tell" die kleine Kunst, aber um hinter solchen radikalen Aussagen stehen zu können, fühle ich mich noch zu grün.

Soweit,
FLoH.

 

Hallo FloH,

erst einmal vielen Dank für das Beispiel. Es zeigt plastisch, was du mit „kodieren“ meinst, wobei für mich „kodieren“ zu stark die Bedeutung `Verschlüsseln´ hat, und eigentlich `entschlüsselt´ man das Geschehen für den Leser, zeigt ihm, wie Sinneseindrücke und Gedanken im vordergründig Banalen enthalten sind. So würde sich `Konstruieren´ auf die Textstruktur und die Dekodierung beziehen (Show, don`t tell wäre eine einfache Möglichkeit der Dekodierung). Das Regulativ der Kodierung könnte dann `kill your darlings´ sein, um überbordende Symbolik (bei Handlungen: Verwicklungen) zu vermeiden.
Was hältst du davon? Zusammen mit den anderen Aspekten ergeben sich schon einige Prüfsteine für die Geschichtsartigkeit eines Textes.

„"Show don't tell" die kleine Kunst“ - da SDT allgemein bekannt definiert ist, müsste man die `große Kunst´ noch näher bestimmen. Vielleicht ist die `große Kunst´ die Summe aller SDT, schließlich beinhaltet SDT nicht, auf welcher Ebene oder auf welche Weise `gezeigt´ wird.

L G,

tschüß… Woltochinon

 

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