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Ich, das Genie
Ich benötigte drei volle Tage, um die Leisten vom Schreiner ins Atelier zu karren, sie zu nuten, leimen, verschrauben und mit Nesselleinen zu beziehen. Nach dem Aufbringen der Grundierung mußte ich den Rahmen erneut ausrichten und durch das Eintreiben von Keilen ein weiteres Mal spannen. Jetzt stand mir eine Zeichenfläche von sechs Quadratmetern für meinen bisher ehrgeizigsten Malversuch zur Verfügung. Am Abend des dritten Tages versuchte ich mit Hilfe eines Nudelgerichtes und eines Glases Rotwein beim Italiener um die Ecke meine Anspannung zu lindern, aber alle Gedanken kreisten wie ein Bussard über dem Feld. Aus luftiger Höhe beobachtete ich die leere Leinwand, bemühte mich, imaginäre Linien auszumachen, strich mit dem Kohlestift in der Hand über die raue Oberfläche, ohne Spuren zu hinterlassen, indem ich der Kohle die Berührung versagte.
In der Tomatensoße mit Kräutern zerdrückte ich einige Nudeln, spähte in dem Brei nach einer Struktur, aber die Farbtöne erregten nicht meine Phantasie – mir stand der Sinn nach mehr Erdverbundenheit, nach Braun, Blau und Weiß. Natürlich auch sämtlicher Nuancen dazwischen, aber diese oft auftretende Angst vor der Wahl einer falschen Mischung unterdrückte ich, solange ich aß.
Zaza, die zierliche Kellnerin, strich, nachdem ich den Teller geleert und sie ihn abgeräumt hatte, einige Male um meinen Tisch.
„Bekoommst Du noch eine Wein?“ Das französisch eingefärbte Deutsch unterstrich ihr ohnehin schon typisches Aussehen. Die schwarzen Haare standen in drahtigen Locken unbändig vom Kopf ab, die dämmrige Birne über dem Tisch spiegelte sich in ihren dunkelbraunen Augen. Die vollen, stark gekräuselten Lippen wuchsen rot-violett aus ihrem leicht geöffneten Mund und hielte eine fast schwarze Umrandung diese Pracht nicht im Zaum, einer Ausbreitung bis zur Nase und dem Kinn stünde nichts im Wege. In der rechten Wange zierte ein Grübchen die dunkle Haut, über der linken Augenbraue stellte ein prägnanter Leberfleck das Gleichgewicht wieder her.
„Danke – nein. Aber zahlen möchte ich gerne. Mühsam zog ich meine Mundwinkel in die Höhe, konnte mich kaum auf die Antwort konzentrieren. Ich war bereits abwesend, in den Jagdgründen meiner Phantasie.
„Okay, isch ol nur schnell die Portmonee." Zaza drehte sich um und durch den Stoff der Jeans war deutlich zu sehen, daß ihr Slip über der linken Backe verrutscht war und sich in die Kerbe des schmalen Hinterns vergraben hatte.
„Macht sieb´zehn Euro sieb´zisch“, ihre schlanken Finger mit den kurzen Nägeln öffneten die abgeschabte Geldtasche und als sie sich über den Tisch beugte, fiel mein Blick in den Ausschnitt ihres ausgeleierten Shirts. Ihr Busen war sehr klein und die Warze in der Größe meiner kleinsten Fingerkuppe posierte darauf überraschend forsch, aber keinesfalls unpassend.
„Sie wirkén so abwäsend – werrden Sie wiedérr malén die gansse Naacht?“
Ihr Wechsel vom Du zum Sie schien ohne Absicht, verlieh ihrer Neugier aber ein stärkeres Gewicht.
Fast tat es mir leid, daß ich ihr jüngst eines Abends, als wenig Gäste ihre Aufmerksamkeit erforderten, von meiner Tätigkeit erzählt hatte – selbst auf ihre Frage, ob sie mich einmal besuchen könne, gab ich ihr bereitwillig die Telefonnummer und Adresse meines Ateliers, allerdings rief sie weder an noch kam sie jemals vorbei.
„Ja, werde ich.“ Schroff und leise fiel die knappe Antwort zwischen uns, was sie nicht zu irritieren schien.
„Es wirrd eine grosse Bild, das ist in meine Gefühl – das sehe isch innèn ahn." Ohne weitere Ausführungen wandte sie sich ab und ich verließ mit kurzem Gruß das Gasthaus.
Die übergroße Leinwand empfing mich blank, mit einer beängstigenden Leere, aus der ich heute Nacht meine Phantasie schälen wollte. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Fläche nun schwarz oder weiß war. Bereit, die Farben zu rufen, sie zu bannen, um sie in Konturen zu zwingen, die noch unbekannt in mir spukten, griff ich abwesend zur Kohle. Das grelle Licht über mir warf einen markanten Schatten der Hand auf das Gewebe und nur das Kratzen des bröckelnden Stiftes füllte für kurze Zeit die umgebaute Garage, deren Nordwand komplett verglast war. Manchmal spiegelte ich mich in den Scheiben, manchmal drang mein Blick durch das Dunkel dahinter und verschwand im interstellaren Raum. Tagsüber lagen dort Wiesen, Wälder und Bergkuppen, aus denen ich jetzt meine Farben sog und auf dem Weiß neu zu formen gedachte.
Dicke, borstige Pinsel mit verhärteten Krusten an den Haaransätzen tauchten in die Eimer, strichen trocken über die erhöhten Grate und Vorsprünge, reizten nur gewischt die Überstände. Längst lag mein Hemd verschmiert über der obersten Sprosse der Leiter, die ich schob, auf die ich sprang, mit der ich hüpfend den Standort änderte, um an die oberen Flächen zu gelangen. Mein Haar, das auf der Stirn klebte, strich ich immer erst hinter die Ohren, wenn ich eine Zigarette anzündete und im Mundwinkel vergrub. Der Rauch reizte in der Nase, mit verkniffenen Augen maß ich Entfernungen zwischen zahllosen Linien, Ausbrüchen und Krusten. Wechselte die Pinsel, warf die benutzten achtlos auf den überladenen Tisch, rieb mit grobmaschigen Tüchern das schnell trocknende Acryl in die Gräben, die Kratzer eines Spachtels. Aus dem blassen Blau des Himmels wuchtete sich das Gedärm unheilschwangerer Wolken – alles Gift unserer Tonnen schwerer Ausstöße verdickte ich in den wenigen Quadratzentimetern, die feucht glänzende Haut meiner Arme juckte, die Finger halfen dem Pinsel, die Nägel kratzten, wo es eine Narbe zu modellieren galt.
Ohne Wahrnehmung und ohne die Arbeit aus den Augen zu lassen, öffnete ich den weichen Verschluss der Wasserflasche, setzte an, trank sie leer. Selbst beim Versuch zu pissen hielt ich Blickkontakt; erst als ich spürte, wie mich die Steife meines Gliedes an diesem Vorhaben hinderte, widmete ich mich meiner Verfassung, suchte das Gedicht von Rilke an der Toilettenwand. Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe ...
Und wieder zog ich in die Schlacht, die Muskeln der Schulter zeichneten die Anstrengung unter der Haut, mein Puls schlug beständig hoch und die Konzentration forderte ungehemmte Bereitschaft. An kleinen Stellen, wo sich die Chöre zerstörter Engelscharen in die aufgeworfenen Falten überlappender Kontinente gebohrt hatten, gerann weiches Blau in den windstillen Suhlen. An ihren wundgescheuerten Rändern franste die Scholle und verdickte im geheimnisvollen Rotbraun alter, benutzter Schamlippen. Manchmal zog ich den Gummi meiner Shorts vom Bauch weg, bewunderte die zurückgezogene Vorhaut, die umliegenden bläulichen Adern unter der samtigen, blassen Röte.
Ein berauschender Zwang verband alle Sinnesorgane, kuppelte im Körper das Sehen an das Hören, das Riechen an das Müssen; ich wand mich durch die Spalten sich verengender Felsbänder in den Schatten schneebedeckter Gletscherriesen, roch das sandige Bröckeln der Monolithen in den Weiten der heißen Prärien, das brechende Tosen der Wellenberge unter Neptuns Herrschaft und der zitternden Hitze berstender Äste. Die vier Elemente verbogen ihre physikalischen Werte, zerstoben in ihre Bausteine, starben unter meiner Hand und formten sich neu in den konvulstischen Zuckungen meines Ichs.
Ermattet und schwer atmend trat ich mehrere Schritte zurück, rieb mir mit einem alten Lappen die Farbe von den Händen. Der obere Teil des Bildes strotzte in welkem Gelb, in Grau gefasste Türme bedrohlicher Kumuluswolken schleiften die Felsformationen einer gefegten Einöde.
Das Klopfen an den Scheiben schreckte mich heftig aus meiner Welt. Draußen im Dunkel bewegte sich eine Person und ich sah nur die helle Innenfläche ihrer winkenden Hand. Langsam schlenderte ich zur Tür, öffnete, und da stand sie vor mir, die Beine fest geschlossen, auf den Zehenspitzen wippend, den Kopf schräg zur Seite gelegt, beide Hände zu Fäusten geballt in den Taschen vergraben und die Ellenbogen durchgedrückt.
„Isch schau dirr schon eine gansse Wéile ssu – större isch dir odder darf isch reinkomeen?“
„Komm rein“, ich ließ die Türe offen, wandte mich ab und wieder meiner Arbeit zu. In meinem Rücken hörte ich leise ihre Schritte auf mich zukommen, dicht neben mir blieb sie stehen.
„Wow“, aber sie sah mich nicht an. Das vor ihr wie eine glatte Felswand Aufragende taxierte sie überwältigt , als galt es, diese Höhe ohne Seil besteigen zu müssen.
Ich roch ihre Nähe, jeder Zoll ihrer dunklen Haut spie das Weibliche in meine Augen. Das Jochbein, geformt wie der Stimmungsbogen einer Sonate; die Vene am Hals schlug den weichen Takt ihres Herzens. Langsam näherte sich mein Puls dem ihren, synchron das Schauen, das Erleben, die Lust an der Nacht, das Trachten sucht die Vereinigung aller Empfindung.
In Zeitlupe schwebten unsere halb geöffneten Lippen in die Bannmeile geröteter Wangen, sie die Hände erhoben, als drohte ihnen Verbrennung, als müßten sie für die Ewigkeit an mir kleben bleiben nach nur einer Berührung. Die Feuchte unserer Zungen schmatze in der Stille, jeder Finger knisterte eine Spur unter die Achseln, ein Trippeln unter dem Shirt den Rücken hinauf. Keine Schonzeit für Textilien, die Umwandlung eines Ateliers in eine Solitüde.
Und plötzlich standen wir uns nackt an den Händen haltend gegenüber und ihre schmelzenden Augen strichen über meine Schenkel, meinen Schwanz, meinen Bauch, meine Brust und ich wollte nicht länger warten, kniete vor ihr nieder und vergrub keuchend meinen geschürzten Mund in ihrer Hitze.
Sie lag längst unter der gelben Decke vergraben, die Locken zerzaust über den geschlossenen Augen und ein Schalk in den Winkeln ihrer dunkelroten Lippen. Wie der Mund des Weibes – laut mußte ich in mich lachen wegen dieses albernen Spruches, doch ich konnte nicht umhin, der Theorie eine Spur Wahrheit zu gönnen.
Unbändig fuhrwerkte ich den Spachtel in das schmierige Gelbgrau, spuckte ihre Lust hinzu, verrieb, zerrieb und rubbelte das Weiß in die faserigen Risse. Ich malte mich, ich malte Dich. Ich liebte die hauchzarte Berührung des huschenden Pinsels mit seinen verquasteten Fuseln, wie sie ihre Lippen um mich schloß. Tunkte den Handfeger in das milchige Schwarz und stieß ihn behutsam auf die Leinwand, wie ich in sie drang, nachdem ich ihre Beine über meine Schultern gelegt hatte. Es war ein kosmischer Tanz, eine orgastische Kernschmelze unkontrollierbarer Gefühle, das Gehirn außen vor und für einen Moment klemmte die Erdachse, alle Geschwindigkeiten näherten sich der Null, unser Lärm verharrte ungehört, alle Farben in sich geborgen, alles Wissen vergeblich geliehen. Unsere Zärtlichkeiten fädelten sich durch das eine Öhr und zerstoben in einem erneuten Urknall.
Ich, das Genie.
Genau an diesem Punkt.
Als sich der Kosmos um uns schlang wie ein Mantel, wir uns die Orgasmen mit verklebten Wimpern in die Ohrmuscheln schrien, ich das vollkommen geschwungene Rund einer Erdscholle schuf. Wir waren innen und außen gleichzeitig, mit glühenden Wangen gestanden wir uns sprachlos mit Blicken.
„Du maalst wie wir bümsén“, resümierte sie lächelnd.
Die Leinwand schwitzte, wir standen aneinander geklebt rauchend hinter der beschlagenen Scheibe und draußen dämmerte das zaghafte Lila hinter den Hügeln. Vogelsang, weiche Kühle und von fern das leise Summen der Autobahn als Erinnerung an eine reale Welt drang durch die offene Tür. Wir waren gelandet in einem neuen Tag.
Sie kam, solange ich an dem Bild malte. Manchmal brachte sie was zu essen mit, ab und zu besuchte ich sie beim Italiener. Sie war meine Muse. Nie sprachen wir über die Zukunft, über das, was einmal sein könnte. Wir lebten für uns und uns war es genug. Wir rechneten nicht auf, wir zogen nicht ab – verglichen oder forderten nicht.
Mit dem letzten Pinselstrich verloren wir auch unseren gemeinsamen Weg – sie zog wieder zurück in ihr Elternhaus nach Aigues-Mortes, um dort ihre alte Mutter zu pflegen. Sie sei jetzt bereit dazu, verriet sie mir, nachdem sie es genossen hatte, jahrelang als Vagabund zu leben.
Wenn ich heute das Gemälde betrachte, spiegeln sich ihre Spuren, ihre Liebe, ihre Lust in den Gräben, in den pastellfarbenen Ebenen wieder. Ich brachte es nie übers Herz, das Bild zu verkaufen, auch wenn mir manchmal gutes Geld geboten wurde. Anfangs war es mein ganzer Stolz in den folgenden Ausstellungen, später zog ich es wie einen Klotz am Bein hinter mir her, sperrig und unhandlich, wie es war. Schlußendlich ließ ich es dort, wo es erschaffen wurde, liebte es wie meine faltiger werdende Haut, mein ausgehendes Haar.
Vielleicht werde ich eines abends, mit dem Kissen im Nacken und zufrieden lächelnd an das Werk gelehnt für immer einschlafen und gewußt haben, daß es ein Vollkommen gegeben hatte.