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Das philosophische Forum
Hallo! Ja, ich meine genau dich. Vielleicht wunderst du dich, dass ich durch das Veröffentlichen einer Kurzgeschichte auf einer Internetseite Kontakt zu dir aufnehme. Aber sobald du das Nachfolgende gelesen hast, wirst du mein Vorgehen sicherlich nachvollziehen können.
Du fragst dich, weswegen ich ahnen konnte, dass du gerade diese Geschichte lesen würdest? Nun, ich weiß mehr über dich und deinen Alltag, als der Papst über den Vatikan. Alle Gewohnheiten und Vorlieben bis hin zu den allerkleinsten schmutzigen Geheimnissen sind mir bekannt, was dich auch letztendlich in deine jetzige Situation gebracht hat.
Aber ich sollte nicht dem Ende vorauseilen, sondern alles der Reihe nach erzählen. Nach allem, was ich durchgemacht habe, wünsche ich mir nur noch eines: dass du die Hintergründe meiner Taten und deiner eigenen, misslichen Lage erfährst. Es dürfte dich überraschen, dass nicht nur ich über dein Privatleben so gut informiert bin, wie ein Profikiller, der sein Opfer wochenlang studiert hat, sondern dass auch du mich kennst. Wir beide hatten uns bereits einmal getroffen, sogar miteinander geredet und wir waren auch schon sehr intim miteinander, auch wenn du andere Worte dafür gebrauchen würdest. Weißt du nun, wer ich bin? Nein? Waren es zu viele? Dann will ich konkreter werden.
Es war vor etwa drei Jahren. Im Internet. Dort haben wir uns das erste Mal getroffen, falls man in einer solchen Situation überhaupt von Treffen sprechen beziehungsweise schreiben kann. Es war eines dieser philosophischen Foren, in denen man sich gegenseitig seine auf Halbwissen gegründete Meinung über Hume, Hegel und Kierkegaard mit größtmöglicher Eloquenz entgegenschmetterte. „Kant wird völlig überschätzt! Seine Erkenntnistheorie wurde durch Einsteins Relativitätstheorie widerlegt!“ - „Nietzsches Ewige Wiederkehr hat vor dem Hintergrund des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik keine Bedeutung mehr!“ – und so weiter und so weiter. Frischgebackene Studenten dachten in postpubertärer Selbstüberschätzung, sie wären die kommenden Plancks, Kissingers oder Satres, und aufgrund dieser großartigen Aussichteten erwarteten sie einen Anerkennungsvorschuss von sämtlichen anderen Mitgliedern des Forums.
Inmitten dieser balzenden Horde warst du für uns alle mit deinen treffsicheren und reifen Bemerkungen, deinen pointierten Repliken und selbstsicheren Erklärungen ein Granitfelsen der Orientierung. Als du anfingst, meinen Texten deine Aufmerksamkeit zu widmen, errötete ich vor Ehrfurcht. Bei jedem Zuspruch, jedem lobenden Zitat jauchzte ich vor Freude und war bei jeder kritischen Bemerkung niedergeschlagen, als hätte ich ein Ablehnungsschreiben von einem mächtigen Weltverlag erhalten. Während meiner Schulzeit waren meine Noten in Deutsch, Gemeinschaftskunde und Philosophie stets nur mittelmäßig gewesen. Wie könnte ich nicht von der Annerkennung fasziniert sein, die ich plötzlich von dir erfuhr? Damals verstand ich noch nicht, dass du mich nicht meines Intellektes wegen beachtetest, sondern schlicht aufgrund des Venussymbols vor meinem Nicknamen.
Als du nach drei Monaten des Kommentierens, Kritisierens und Redigierens ein Treffen in meiner Stadt vorschlugst, war mein anfängliches Zögern nur noch reine Formsache für dich und deine Überredungskünste. Keine zwei Tage später trafen wir uns in einem netten, kleinen Lokal, das ich vorher sorgfältig ausgesucht hatte. Rückblickend kann ich kaum mehr nachvollziehen, wie viele Stunden ich damit verbracht hatte, Stadtführer zu studieren und Ausgehtipps im Internet nachzuschlagen, nur um ein Künstlercafé zu finden, welches deinen Ansprüchen genügen sollte. Als wir uns dann endlich begegneten, war das Ambiente perfekt! Historische Jugendstil-Ausstellungsplakate schmückten die Wände und ein Jazztrio spielte Duke Ellington. Du schienst sehr angetan und hieltest einen langen Diskurs über Siegmund Freuds „Traumdeutung“, während ich an deinen Lippen hing wie ein Affenbaby an seiner Mutter. Nach vier Margaritas mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen ging deine Rechnung auf. Mein Über-Ich war in Alkohol ersäuft, mein Es diktierte seine Bedürfnisse und mein Ich folgte dir willenlos aufs Hotelzimmer.
Ich will ehrlich sein: Der Sex war fantastisch. Keiner hatte zuvor so zärtlich meine Bluse geöffnet und so lange meine Brust liebkost. Meine früheren Partner hatten immer zu schnell Besitz von mir ergreifen wollen, waren keuchend dem Ziel entgegengehastet. Du dagegen spürtest genau, wann ich bereit war, die eine oder andere Tür zu öffnen und dich einzulassen. Das Warten auf den richtigen Moment war deine zweite Natur. Unter deinem Bann ließ ich es in jener Nacht zu, dass du ungeschützt in mich eindrangst und mich infiziertest.
Erst Monate später wurde die Krankheit bei einer Blutspende diagnostiziert. Das Menschliche Immunschwäche-Virus HIV. Ansteckend. Unheilbar. Tödlich. Mit einem vernichtenden Schlag waren meine Pläne und Wünsche, mein Lebensmut und meine Unbekümmertheit hinweggefegt. In meinen Kopf zogen Todesangst, Defätismus und Resignation ein, als wären sie die neuen Herren eines Hauses, welches zuvor von einer sorglosen Jugend heruntergewirtschaftet worden war. Über allem schwebte aber die eine Frage: Wo hatte ich mich angesteckt? Im Geiste durchlebte ich alle ehemaligen Liebschaften, alle zufälligen Berührungen, alle Injektionen, alle Blutspenden. In meiner Panik und Unwissenheit verdächtigte ich damals sogar meine Hauskatze, welche beim Herumtollen mit meinen Gästen und mir gelegentlich einen Kratzer hinterlassen hatte. Erst später erfuhr ich, wie blödsinnig dieser Verdacht war.
Irgendwann hatte ich mich so weit gefasst, dass ich bereit war, dir eine Mail zu schreiben. Ich berichtete von meiner Diagnose und schlug dir vorsichtig vor, dich ebenfalls testen zu lassen. Nach mehreren Tagen ohne Antwort keimte in mir die Befürchtung auf, du wolltest nun nichts mehr mit mir, der wandelnden Seuche, zu tun haben. Aber irgendwie passte das nicht zu dir. Ein Freigeist, ein Mann, der gesellschaftliche Ängste derart verachtete, sollte Furcht vor einem kleinen Virus haben? Berührungsängste bei einer Krankheit, die seit Anbeginn ihrer Erforschung nur durch Blut- und Geschlechtskontakt übertragen worden ist? Und vor allem: Wo war das Mitgefühl, die Empathie, die ich damals in deinen Augen gesehen hatte?
Etwas stimmte da nicht. Ich schrieb dir eine zweite Mail und dann eine dritte und dann eine vierte. Irgendwann erhielt ich die Antwort. Als ich sie las, war mir, als hätte mir der Leviathan von Thomas Hobbes persönlich in die Magengrube geschlagen. Deine Botschaft war kurz und sachlich. Ich werde sie nie vergessen. Einhundertzweiundsechzig Wörter, sechs Kommata und zwölf Punkte, ohne einen einzigen orthographischen oder grammatikalischen Fehler. Jedes einzelne Wort war in einer rhetorischen und stilistischen Perfektion ein Pflasterstein auf dem Pfad zum letzten Satz: „Nun, da auch du dazu gehörst, kannst du die wahre Bedeutung von Carpe Diem verstehen.“
Ja, ich verstand. Von Anfang an hattest du von deiner Krankheit gewusst. Vielleicht hattest du es nicht gewollt, dass ich mich ansteckte, aber du hattest meinen Tod billigend in Kauf genommen. Nun durchschaute ich dein scheinbares Feingefühl, deine heuchlerischen Plädoyers für die freie Entfaltung. Es war dir von Anfang an nur um die hedonistische Befriedigung deiner eigenen Triebe gegangen, bevor deine Zeit kommen würde, zu sterben. Es schien dir völlig egal zu sein, ob dabei ein anderes Leben mit ins Verderben gerissen wurde.
Ich las deine Zeilen immer und immer wieder. Wie eine wütende Glut brannten sie sich in meinem Gehirn ein und setzten dort alles in Flammen. Aus diesem Feuer entstieg wie ein strahlender Phönix eine unbeschreibliche Kraft, vertrieb die selbstmitleidigen, grauen Gedanken aus meinem Kopf und schaffte Platz für einen neuen Herrscher: den Rachedurst. Von jenem Moment an kannte ich nur noch ein Ziel und einen Lebensinhalt. Du solltest für deine Schandtat büßen wie vor dem jüngsten Gericht. Aber wie sollte ich das bewerkstelligen?
Hatte ich außerdem nicht genügend Probleme mit meinem eigenen, kümmerlichen Leben? Meine Ärzte konnten mir nicht sagen, wie lange ich noch zu leben hatte. Zehn Jahre, vielleicht fünfzehn, mit viel Glück sogar zwanzig. Ich musste täglich Medikamente schlucken, deren Nebenwirkungen bei anderen bereits ausgereicht hätte, um in Frührente zu gehen. Ein übelkeiterregender Cocktail aus Lopinavir, Ritonavir und Combivir musste zweimal am Tag, minutengenau, zu festgelegten Uhrzeiten eingenommen werden, wobei ich natürlich nicht von meinen Freunden und Mitstudenten beobachtet werden wollte. Beinahe täglich musste ich mich übergeben und mein Kopf wollte vor Schmerzen platzen.
Aber ich hielt durch! Wie ein Mantra wiederholte ich immer wieder die Sätze aus deiner Mail und schöpfte daraus die Wut zum Weitermachten. Rückblickend erscheint es mir, als hätte ich selbst im Schlaf fieberhaft überlegt, wie ich deiner habhaft werden konnte, um Vergeltung zu üben. Durch deine sorgfältigen Formulierungen enthielt deine Mail keinen belastenden Satz, der vor einem Gericht bestanden hätte. Rechtsweg ausgeschlossen.
Ich wusste, dass ich irgendwie deine Adresse oder deinen Nachnamen erfahren musste. Alles Flehen, Jammern und Anbiedern an den Webmaster des Forums half nichts. Er konnte oder wollte meine Beweggründe nicht verstehen, jedenfalls weigerte er sich strikt, mir deine Daten zu nennen. Damals stand ich kurz vor der Verzweiflung. Alle Wege schienen versperrt.
Wie die Griechen vor Troja in Homers Epos musste ich einsehen, dass alle konventionellen Möglichkeiten erschöpft waren. Etwas völlig Neues, etwas, dass du nicht erwarten würdest, musste konzipiert werden. In diesen Tagen ersann ich meinen Plan. Das Internet hatte mich damals dir ausgeliefert, nun war es an der Zeit, dass es seine Schuld abbezahlte, und sich mit mir verbündete.
Es waren aber noch viele Hindernisse zu beseitigen, vor allem musste ich lernen mit meinem neuen Verbündeten, dem weltweiten Netz, angemessen umzugehen. Ich erkaufte mir die Bindung mit dem kostbarsten, das ich noch besaß: Zeit. Tage und Nächtelang verbrachte ich kaffeetrinkend vor meinem Röhrenbildschirm und wälzte Nachschlagewerke. Schritt für Schritt arbeitete ich mich einen Pfad entlang, der vorbei an IP-Adressen, serverseitig und browserseitig ausgeführten Skripte, Webspace und Datenbanken führte.
Bereits nach wenigen Tagen hatte ich meine erste Homepage, wobei ich diese zunächst nur per Knopfdruck mit einem kostenlosen Programm erstellt hatte. Anschließend fing ich an, durch Eingriffe in den HTML-Code einige Veränderungen vorzunehmen, welche nicht durch das Programm möglich gewesen wären. Als ich versuchte, interaktive Inhalte einzubetten, stieß ich bald an Grenzen, die offenbar mittels HTML nicht überwindbar waren.
Es war an der Zeit, mein armseliges Repertoire um die Kenntnis einer Skriptsprache zu erweitern. Anfängliche Experimente mit JavaScirpt erwiesen sich schnell als Sackgasse, da bei Anwendung dieser Technik, alle Inhalte meiner Homepage, auch die interaktiven Funktionen, für alle Außenstehenden sichtbar gewesen wären. Für meine Pläne wäre das genauso fatal, wie es für die Griechen als Katastrophe geendet hätte, falls sie sich entschieden hätten, ihr Pferd aus Glas zu bauen. Mein zweiter Ansatz, die Sprache PHP, war dagegen wesentlich geeigneter, da die Ausführungsskripte für alle Außenstehenden vorborgen blieben.
Nach mehreren Wochen, in denen meine Ernährung vorwiegend aus Pizza, Kaffee und Virenhemmer bestand, war das Werk vollendet: Ich hatte mein eigenes philosophisches Forum geschaffen. Äußerlich ähnelte es allen anderen Konkurrenzforen im Web, in seinem Kern aber lauerte ein wesentlicher Unterschied auf mein Opfer. Es dauerte nur kurze Zeit, bis sich die ersten Besucher als Mitglieder auf der Seite anmeldeten. Ich begrüßte jeden einzelnen förmlich, kommentierte eifrig ihre Beiträge, schlug Themen vor, veranstaltete Wettbewerbe und hatte damit binnen eines halben Jahres eine Seite aus dem Boden gestampft, die eine breite Anerkennung im Netz genoss. In der damals noch wesentlich schnelllebigeren Welt des Internets war das zwar keine einmalige, aber dennoch eine bemerkenswerte Leistung. Als dann mein Angebot durch Mundpropaganda in vielen der einschlägigen Chatrooms bekannt geworden war, geschah das lang ersehnte. Endlich meldetest du dich an!
Hast du dich jemals gefragt, was eigentlich passiert, wenn du in einem Forum auf das kleine, unschuldige Knöpfchen „Passwort ändern“ klickst? Überall wird dieser Service angeboten, so dass man seine automatisch zugewiesene, kryptische Zeichenfolge in ein Wort verwandeln kann, dass wesentlich besser zu merken ist. Aber was geschieht damit? Auf jeder ordentlichen Internetseite, die von einem gewissenhaften Administrator angelegt worden ist, wird das Wunschpasswort verschlüsselt, in einem unlesbaren Zustand abgespeichert. Niemand, auch nicht der gerissenste Hacker oder der Webmaster persönlich, ist in der Lage herauszufinden, wie es lautet. Bei meiner Homepage, in der ich die Regeln bestimmt hatte, bestand demgegenüber der kleine aber wichtige Unterschied, dass die geänderten Passwörter völlig unverschlüsselt abgespeichert wurden. Per Knopfdruck konnte ich diese dann später bequem auslesen.
Du fragst dich, was das bringen sollte? Der Zugang zu deinen Daten stünde mir als Eigentümer doch sowieso offen? Nun, das Entscheidende damals war, dass du wie fast alle Surfer im Netz den Aufwand scheutest, zu jedem Forum, zu jedem Onlineshop und zu jedem E-Mail-Konto ein gesondertes Passwort anzulegen und zu merken. Wie viel bequemer ist es doch, sich nur einen Begriff zu merken und diesen überall zu verwenden. Begreifst du nun, was passiert ist? Meine sorgfältig ausgelegte Falle hatte zugeschnappt und dich dazu gebracht, mir einen Schlüssel zu geben, mit dem ich alle Tore des Internets in deinem Namen öffnen konnte. Mit einem kleinen Tastendruck hattest Du mir das Portal zu deinen geheimsten Archiven geöffnet.
Da ich mich nicht der Gefahr einer Strafverfolgung auszusetzen möchte, werde ich das Zauberwort an dieser Stelle nicht nennen. Zu leicht könnte man uns beide damit in Verbindung bringen. Es sei nur so viel verraten, dass mir damals dieser vulgäre Begriff sehr gut zu dir und deiner kranken Psyche zu passen schien.
Als ich das Wort zum ersten Mal las, spürte ich eine bleischwere Ohnmacht aus mir entweichen. Es war, als hätte ich ein magisches Schwert aus einem Felsen gezogen, mit dem ich auf die Jagd auf einen zuvor unüberwindbaren Drachen gehen könnte. Nur mühsam konnte ich meine Ungeduld bezähmen. Am liebsten hätte ich sofort versucht, dein E-Mail-Postfach mit meinem neuen Universalschlüssel zu öffnen. Doch ich wollte sorgsam vorgehen. Damit wir nicht zufällig gleichzeitig online wären, wartete ich bis tief in der Nacht. Dann suchte ich ein Internetcafé in einem entlegenen Stadtteil auf, um bloß keine Datenspuren zu hinterlassen. Außerdem ging ich, um wirklich ganz sicher zu gehen, einen digitalen Umweg über eine anonymisierende Webseite aus Südamerika, so dass ich auch jetzt, nach dieser Veröffentlichung, mit ruhigem Gewissen davon ausgehen kann, dass mich kein Mensch mit vernünftigem Aufwand zurückverfolgen kann.
Schweißgebadet saß ich vor dem Bildschirm. Zweimal vertippte ich mich mit meinen zittrigen Fingern, und war kurzzeitig vor dem Verzweifeln, als die Zugangsparameter als falsch zurückgewiesen wurden. Beim dritten Versuch aber öffnete sich das Portal und ich trat mit hüpfendem Herzen herein, als wäre ich Ali-Baba in der Schatzkammer der vierzig Räuber. In diesem Moment durchströmte ein Endorphinstoß meine Adern und ließ eine lang vergessene Wärme in meinen Körper fahren. Ich war in der Höhle des Löwen eingedrungen und konnte seelenruhig alles betrachten.
Doch ich sollte bald feststellen, dass dies nicht das Märchen der Sheherazade war und in deinen Töpfen nicht Gold und Silber warteten. Offenbar war ich nicht die einzige Frau gewesen, die du im Netz kennen gelernt und verführt hattest. Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ekel fand ich einen akkurat gepflegten Katalog deiner Korrespondenzen vor.
Wie kleine Trophäen stapelten sich in dutzenden von Verzeichnissen die Schriftwechsel, fein säuberlich nach dem Namen deiner Opfer sortiert. Bei manchen warst du offenbar noch in der Verführungsphase, schriebst ihnen Zeilen des Lobes, hobst sie in den Himmel und versuchtest sie durch kleine Aufmerksamkeiten an dich zu binden. Bei anderen dagegen schienst du bereits zum Schuss gekommen zu sein, jedenfalls erhieltest du von ihnen entweder trotzige Schmähbriefe oder sie fragten mitleidig danach, was sie denn in der jeweiligen Nacht falsch gemacht hätten.
Erleichtert stellte ich fest, dass in keinen der Mails, außer natürlich in meinen, das Thema HIV angesprochen wurde. Dieser tückische Virus ist zwar unsichtbar und absolut tödlich, er lässt sich aber zum Glück nicht so leicht übertragen, wie man gemeinhin glaubt. Das Fehlen jeden Bezugs hierzu ließ mich hoffen, dass keine der anderen Frauen infiziert zu sein schien. Vielleicht war die Tatsache, dass du mit jeder von ihnen anscheinend immer nur genau ein einziges Mal ins Bett gegangen warst, eine Art der Rücksichtsnahme, um die Ansteckung so unwahrscheinlich wie möglich zu halten. Vielleicht war es aber auch nur ein makaberes Russisches Roulett, denn wer hätte dich davon abgehalten, ein Kondom zu benutzen? Ich habe mir häufig diese Fragen gestellt, aber niemals eine wirklich befriedigende Antwort gefunden. Ich denke, dass ich deine wahren Triebe und Gedanken wohl niemals nachvollziehen werde und es eigentlich auch nicht wirklich möchte.
Ich schrieb dies hier nieder, damit du meine Beweggründe dafür erfahren solltest, warum ich dich ins Gefängnis brachte. Als ich dein Postfach geöffnet hatte, damals nur um einen Hinweis auf deine Identität zu erhalten, prasselten die Schicksale all deiner Opfer wie ein Eisregen auf mich ein. Jedes einzelne schien mir zuzurufen „Räche mich!“ oder „Beschütze mich!“. Jeder andere hätte wahrscheinlich genau so gehandelt, um ein Monster wie dich aufzuhalten.
Mit einem Augenblick ging es nicht mehr um mein eigenes Schicksal. Durch das Überschreiten der Schwelle zu deinem Privatarchiv hatte ich mir die Verantwortung der Mitwisserschaft aufgebürdet und musste dich um meinen Seelenfrieden willen erlegen - und um das Leben der anderen zu beschützen. Im Gegensatz zu meinen Mitopfern verfügte ich als einzige über die Möglichkeit zu handeln, also musste ich es tun.
Aufgrund dieser Zeilen hast du dir sicherlich schon das Meiste zusammengereimt, was anschließend geschah. Ich werde es daher nur kurz zusammenfassen: Dein vermeintliches „Mordopfer“ war kein unschuldiger Mann. Ich hatte ihn sorgfältig ausgewählt, nachdem ich mehrere Mitglieder meiner Seite ausgespäht hatte. Er war ein pädophilier Kinderschänder. Seine Mails strotzten nur vor Bestätigungen abartiger Einkäufe im Ausland und seine regelmäßig gebuchten Flüge nach Thailand und Vietnam zeigten, dass er es nicht bei der Theorie belassen hatte.
Einen seiner Urlaube hatte ich dazu ausgenutzt, mit seinem Konto ein überhöhtes Gebot bei eBay abzugeben. Du warst der Verkäufer. Die Zahlung erfolgte über die Einzugsermächtigung und das Paket habe ich als zufällig im Treppenhaus anwesende „Nachbarin“ abgefangen. Der anschließende Streit zwischen euch beiden und somit das Mordmotiv war bei dem Betrag, um den es ging, vorprogrammiert.
Da ich aus deiner eifrig beobachteten Korrespondenz genauestens über deine häufigen Reisepläne in andere Städte informiert war, war es mit etwas Geschick und Übung ein Leichtes, eine Tatwaffe mit entsprechenden Fingerabdrücken aus deiner Küche und den am Tatort gefundenen „persönlichen Gegenstand“ (du weißt, was es war) zu entwenden und durch ähnlich aussehende Objekte zu ersetzen. Um dich zum rechten Zeitpunkt zum Tatort zu locken, bedurfte es nur noch eines kurzen Flirts unter falschem Namen in dem Forum, in dem wir uns erstmalig kennen gelernt hatten. Der Rest, von dem Auftauchen der Polizei über die Gerichtsverhandlung bis zum Urteilsspruch ist eine Geschichte, welche du sicherlich besser kennst als ich.
Aus sicherer Quelle weiß ich, dass dir ein Freund regelmäßig Auszüge aus verschiedenen Foren ausdruckt und zu lesen mitbringt. Mit etwas Glück wird er auch dieses hier entdecken und dir zukommen lassen. Mach dir keine Mühe, nach mir zu suchen. Mein eigenes Forum ist längst gelöscht und mehr als meine Heimatstadt und meinen Vornamen wirst du nie über mich wissen. Zu gut habe ich gelernt, Spuren zu erkennen und das Notwendige zu unternehmen, sie gründlich zu verwischen. Ich werde auch nicht den Fehler machen, dir einen Brief zu schreiben, der womöglich gerichtlich entlastend wirken könnte. Daher habe ich diese Geschichte einem Bekannten anvertraut, der sie als „fiktive“ Belletristik unter seinem Namen veröffentlichen wird.
Lebewohl,
Deine Philosophin