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Dinner for Half
Es war ein Abend, wie viele Abende so sind: einsam, verraucht, in Rotwein ertränkt, obwohl es keinen Anlass gab, auf diesen Tagesausklang einen zu heben. Ich war mal wieder stundenlang durch die graue Stadt gestreift und hatte die Zeit vergessen. Über unzählige Steinplatten war ich geschlichen, Bäume und Häuser hatte ich gesehen und doch nicht gesehen. Erst als die Straßenbeleuchtung ihr trostloses Gelb auf die Straße spuckte, machte ich mich auf den Heimweg.
Kurz darauf saß ich auf meinem verschlissenen Sofa und goss mir das dritte Glas Rotwein ein. Soll ja gut für’s Herz sein. Im Fernsehen baute sich gerade ein Burger zusammen. Das hatte mit der Realität so viel Ähnlichkeit wie die Braut mit der Ehefrau, verfehlte aber die Wirkung nicht. Mein Budget hatte ich schon in flüssige Nahrung umgesetzt, blieb nur die Suche in den Küchenmöbeln.
Im Kühlschrank fand ich Senf, der schon ein halbes Jahr abgelaufen war, und ein Stück Butter, an das ich mich käuflicherdings nicht erinnern konnte. Ich zerrte die Schubladen des Gefrierschranks aus ihrem Eispanzer, aber auch hier gähnte mir polare Leere entgegen. Um ganz sicher zu gehen, meißelte ich auch das unterste Schubfach aus dem Eis. Und siehe da: Irgendwann einmal mussten mir ein paar Pommes und ein Fischstäbchen aus einer anderen Kühletage und einer anderen Zeit aus den Packungen gefallen sein. Das war doch mal eine gute Nachricht. Ich schnappte mir die Tefal, warf die Artefakte hinein und stellte sie auf die größte Flamme, die der Gasherd hergab.
Das Fischstäbchen hatte schon eine gute Bräunung, als es klingelte. Das fehlte mir noch, wenn jetzt Günni kam. Er brachte zwar immer ein Alt mit, aber dafür musste ich mir dann wieder vier Stunden lang anhören, dass Lissy ihn wegen des Briefträgers verlassen hatte und sich jetzt von ihm stempeln ließ.
Es klingelte wieder, gleich zweimal hintereinander. Scheiße, meine Wohnzimmerlampe brannte und warf ein schönes „Hallo, bin zu Hause“ auf die Straße. Ich stellte mich tot, aber als es noch mal klingelte, fing der Pinscher von Hubers an zu bellen, und dann würde die Huber selber aufmachen gehen und Fragen stellen. Okay, was sollte es. Wein und Alt sind mir Halt. Ich ging zur Wohnungstür und drückte auf den Türöffner.
Schritte im Flur. Merkwürdige Schritte. Als ich mir vor ein paar Wochen den linken Fuß verstaucht hatte, war ich gehtechnisch ähnlich zu vernehmen. War beim Skattournier im „Bierwinkel“ auf eine leere Dose getreten. Das tat heut noch weh, wenn das Wetter umschwang.
Als Günni endlich oben war, öffnete ich die Tür. Und sah nichts. Es war mir ja bekannt, dass man Dinge doppelt sieht, wenn man betrunken ist, aber nichts?!
„Günni?“, rief ich in den leeren Flur.
„Hi“, krächzte mir von unten entgegen.
Ich kniff die Augen zusammen. Was da unten lässig mit einem Streichholz zwischen den Zähnen im Türrahmen lehnte, war nicht Günni. Ich sah eine Puppe, strubbelige Haare, fieses Grinsen, Jeans und Ringelpullover.
„Willst du mich nicht reinlassen?“, rief der Knirps.
Ich beugte mich etwas runter, einerseits, weil die Erde suffbedingt kurz aus ihrer Achse gehopst war, andererseits um mich aus der Nähe von dem zu überzeugen, was da über die Sehnerven zum Gehirn kriechen wollte. Der kleine Kerl stöhnte genervt, spuckte das Streichholz in den Flur und schob mich beiseite. Ich sah ungläubig zu, wie er über meinem Teppich spazierte und auf’s Sofa kletterte.
„Was ist?! Biet was an!“, befahl er.
Ich kam ins Wohnzimmer. Er war wirklich da. Seine Füße endeten an der Kissenkante des Sofasitzes. Von der Sohle seiner Schuhe - Größe 14 vermutlich – war etwas Dreck auf den Stoff geraten. Er zuckte er mit den Achseln.
„Bin vorhin in Taubenscheiße getreten, sorry. Ist für mich wie für dich ein Schiss von `nem Bernhardiner.“
„Macht ja nix“, stammelte ich.
„Verbrennst du gerade deine tote Mutter? Es stinkt hier bestialisch.“
Jetzt fiel es mir auch auf. Ich rannte in die Küche. Der Qualm ätzte in den Lungen. Die Pommes und das Fischstäbchen waren farblich nicht mehr vom Pfannenboden zu unterscheiden. Der Kleine kam in die Küche.
„Mhmmm, lecker“, sagte er. „Isst du das noch?“
„Nein“, hustete ich.
„Dann tisch auf!“
Mit einem Messer kratzte ich das verkohlte Zeug auf einen Teller.
Ich musste eine Kerze für ihn anzünden, bevor er anfing, die Presskohlen zu knabbern. Mittendrin stellte er sich schmatzend vor.
„Mein Name ist Jaques!“
Als ich nicht reagierte, sah er mich mit zusammen gekniffenen Augen an.
„Jaques ...“, wiederholte er, als hätte er es mit einem Idioten zu tun. „Kannst auch Jacky zu mir sagen.“
„Ja?“, fragte ich in die surreale Szene. Er unterbrach das Kauen und sah mich merkwürdig an. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich wieder dem Essen zu.
Alles klar. Ein Zwerg namens Jacky saß auf meinem Sofa und nagte verbrannte Pommes. Ich guckte auf mein Glas. Der Rest Wein schimmerte dunkelrot im Kerzenlicht. Wenn ich das Günni erzählte. Das würde der niemals glauben. Vielleicht sollte ich ein Foto machen ... Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als er in einem Anflug von Würgen etwas in hohem Bogen vom Teller fegte.
„Hab `ne Fischallergie“, sagte er.
Dann rülpste er und wischte seinen Mund an dem Ärmel seines Ringelpullovers ab.
„Und nun zur Sache“, sagte er, rutschte ein Stück nach vorn und zog einen Zettel aus der Jeans. „Hier habe ich deinen ... wie soll ich es nennen ... Einberufungsbefehl?“
Einberufungsbefehl? Bislang schob ich keine abgefahrenen Filme, wenn ich Alkohol intus hatte, aber vielleicht hatte ich mich im Regal vergriffen und irgendeinen Frostschutzverschnitt aus Italien getrunken.
„Was liest du da auf der Flasche, wenn ich dir sage, dass ich dich abholen soll?“, krächzte er.
„Abholen? Wie ‚abholen‘?“
„Wie abholen“, äffte er mich nach. „Mitnehmen! Du hast ausgekichert, Alter!“
„Wieso ausgekichert?“
Jacky rollte mit den Augen und stöhnte. „Okay, ich dachte, es wird so einfacher, aber diese bescheuerte Fragerei ist ja noch ätzender als ein paar Kratzer, wenn du dich wehrst. Ich hatte mir gedacht, ich probier mal was anderes, so mit Konversation. Du erschienst mir irgendwie vernunftbegabt.“ Er bohrte zwischen seinen Zähnen. „Aber da hab ich mich wohl getäuscht. Also wie üblich ...“
Ehe ich seinen Monolog geistig verarbeitet hatte, war er schon aufgesprungen und zog ein großes Messer hervor.
„Mein Gott, ist das öde“, brubbelte er vor sich hin. „Immer die gleiche Tour.“ Die Klinge blitzte im Kerzenlicht, als er auf den Tisch hüpfte und auf mich zukam. Schlagartig kam Leben zurück in meinen Kopf.
„Warte“, rief ich. „Ich wusste gar nicht, dass du das machst.“
„Was?“, fragte er barsch.
„Naja ...“, stotterte ich. „Ich dachte immer, da käme ein großer, hagerer Typ mit schwarzer Kutte und Schädel in der Kapuze.“
„Was willst du damit sagen? Dass ich zu klein bin für den Job, oder was?!“
„Nein, nein ... äh ... ich wundere mich nur ... auf den Gemälden, da ist das immer so ein Typ in schwarz ...“
„Gott, bist du verstaubt im Kopf. Ich hab schon ganz andere Aufträge gehabt als dich! Wichtige Typen, neulich einen Ex-Minister, dann einen Industriellen und ...“ Er sah an die Decke, während er überlegte. Vielleicht war es eine Chance, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, um ihn loszuwerden. Halluzination oder nicht, das Messer sah auch als imaginäre Erscheinung tödlich aus.
„Wer war denn da noch ...“, sagte er.
„Und wie hast du sie beseitigt?“, fragte ich.
Er grinste.
„Willst du Einzelheiten?“
„Gern ...“, log ich.
„Also ... ach, diese Künstlerin, jetzt fällt’s mir wieder ein. Das war so eine Tussi, die Farbkleckse auf Leinwände gemacht und das dann für ein paar Tausender verkauft hatte. Erst hab ich sie mit dem Kopf in ihren Farbeimer gesteckt, bis sie nicht mehr gezappelt hat. Dann hat sie posthum ihr letztes – in Anführungszeichen – Kunstwerk gemacht, als ich sie durch die Bude zum Fenster geschleift hab. Ihre Klecksereien sind jetzt viel wert ... Und dann der Politik-Heini. Der ist mit seinem Auto in einen Betonpfeiler. Hab ihm die Schnürsenkel mit dem Gaspedal verknotet. Mann, hat der blöd geguckt ...“
„Du sagtest ‚wie üblich‘, als du dein Messer herauszogst ... Erstichst du deine Opfer denn im ... im Normalfall?“
„Opfer? Das sind keine Opfer. Deren Zeit ist gekommen. Ja, die meisten mach ich mit dem Messer. Mir fällt nicht immer was Originelles ein. Aber es ist für mich auch viel schöner, wenn nicht immer dieser ewige Einheitsbrei stattfindet. Einem Handwerker hab ich mal eine Akupunkturbehandlung gemacht, das war lustig, aber du glaubst gar nicht, wie schwierig es ist, einen Nagel in einen Knochen zu schlagen.“ Er grinste in sich hinein. Dann blickte er mich wieder an.
„Kennst du ‚Final Destination‘?“, fragte ich schnell.
„Klar kenne ich das. Da ist mir erstmal klar geworden, wieviel Spaß man haben kann im Job. Aber wir haben jetzt genug gelabert. Du bist kein interessanter Auftrag.“ Er richtete die Spitze seines Messers wieder in meine Richtung und ging ein wenig in die Knie. Scheiße, mir musste was einfallen, irgendwas ...
„Ist der Stahl rostfr...“
Zu spät. Er sprang von der Mitte des Tisches aus ab, die Klinge voran. Entsetzt wich ich seinem Sprung aus und stolperte einen Schritt nach vorn. Statt meinen Brustkorb zu durchbohren, stach er in die Rückenlehne meines Sessels und rutschte einen Schlitz hinterlassend auf das Sitzkissen. Genervt zog er das Messer wieder heraus und drehte sich um. Ich hatte mir eine Fernsehzeitschrift gegriffen.
„Hey, das ist Linda Wilson!“, sagte er und starrte auf das Titelbild.
Ich ging zurück, bis ich mit dem Hintern im Blattwerk meiner Kübelpflanze raschelte. Jacky grinste und kam mit dem Messer voran auf mich zu.
„Du hast keine Chance, Suffkopp“, sagte er. „Sei doch froh, lieber ein kurzer Schmerz als noch ewig Leberzirrhose!“ Er holte wieder zum Sprung aus. Ich schaffte es, die Fernsehzeitung auf sein Messer spießen, mitten durch Lindas Dekolleté, und hüpfte über ihn hinweg.
„Nun stell dich nicht so an!“, rief er. „Ich krieg dich sowieso. Meine Erfolgsquote liegt bei hundert Prozent.“
Ich hatte mich hinter dem Sessel versteckt und warf ein Kissen nach ihm. Das war ein guter Treffer, er fiel auf seinen Hintern. Wütend hob er sein Messer auf und brachte es mit einem geschickten Wurf wieder in Stechposition. Seine Augen zu Schlitzen gekniffen kam er langsam auf mich zu. Was tun? Die Kissen waren nicht in Reichweite, die Zeitung lag auf dem Boden und auch sonst bekam ich nichts zu fassen. Ich stolperte einen Schritt zurück.
„Du hast doch ‚Final Destination‘ gesehen“, sagte er. „Abhauen funktioniert nicht.“ Er drehte sein Messer in seiner Hand und besah kurz seine Zähne in der Klinge. Ich wich einen weiteren Schritt zurück.
„Buh!“, rief er und stocherte mit dem Messer in der Luft herum, dass ich zuckte. Sein Lachen verschmutzte die Luft.
„Und nun ... mach dich bereit ...“
Er starrte mich an, ging wieder in die Hocke, um Schwung zu holen für seinen finalen Sprung. Es war nur noch ein Schritt, und ich stand mit dem Rücken an meiner Vitrine. Diesen letzten Schritt wollte ich noch gehen. So einfach konnte ich nicht aufgeben, auch wenn heute wirklich Stichtag sein sollte.
Dann sprang er ab. Die Klinge blitzte, wie in Zeitlupe spürte ich den Boden erst unter meinen Zehen, dann unter dem Ballen. Als ich zur Ferse hin abrollen wollte, durchstach mich ein mörderischer Schmerz. Mein Bein knickte weg, mir wurde schwarz vor Augen. Es klirrte ohrenbetäubend. Ich versuchte aufzustehen, konnte mich aber nur mit Mühe am Sessel hochziehen. Der linke Fuß war nicht mehr zu gebrauchen.
Ich drehte mich um. Jacky stöhnte in der Vitrine, in seinem Kopf und seinem Körper steckten Tausende Scherben, meine Bergkristalle und die Swarovski-Seeigelfamilie.
„Du bist ein Arschloch, das war mir gleich klar ...“, röchelte er, dann sank der Kopf zur Seite und sein rechtes Augenlid klappte auf und zu. Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und atmete tief durch.
Irgendwie war ich in mein zweites Leben gestolpert, mir war nur nicht klar, wie. Mein Blick wanderte über die Ranken im Teppichmuster, bis etwas Kleines, Schwarzes die Symmetrie brach: Das Fischstäbchen lag unzerbröselt auf der Teppichkante.
Der Tod hat irgendwie Humor, könnte man sagen. Wahrscheinlich funktionierte es tatsächlich wie in „Final Destination“, nur diesmal ging es um Jacky, dem seine Fischallergie über den Jordan geholfen hatte. Aber es war mir egal. Ob ich nun dem Tod von der Schippe gehüpft war oder Jacky für ihn auf die Schippe genommen hatte – ich verdankte dem Fischstäbchen mein Leben. Heute steht es auf dunkelrotem Samt gebettet in meiner neuen Vitrine und wenn Günni danach fragt und ich ihm die Geschichte erzähle, schüttelt er jedesmal den Kopf und will das Saufen in Zukunft sein lassen.
Jacky habe ich begraben, aber ich sag nicht, wo. Ich möchte nicht, dass es ein Wallfahrtsort für fiese Puppen wird, oder so.