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- 23.08.2001
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Hinter grünen Augen
Semesterbeginn. Ich bin früh, suche mir einen Platz, breite mich aus, nehme mein Buch zur Hand und versinke darin. Der Raum um mich herum verschwindet in Sekundenbruchteilen, die Geräuschkulisse dringt nur noch entfernt an mein Ohr.
„Ist hier noch frei?“
Ich schaue hoch. Sie ist ein bis zwei Jahre jünger als ich, vermutlich erstes Semester, schlank, fraulich, blonde Locken. Sommersprossen zieren ihre Nase, das Lächeln ist auf eine verschmitze Art ein wenig schief. Sie ist bildhübsch, und trotzdem hat sie eine Ausstrahlung, die von Unsicherheit zeugt. Sie ist sich ihrer Wirkung vermutlich gar nicht bewusst. Ich nicke auf ihre Frage, ziehe meine Sachen auf meine Seite des Tisches und nehme meine Tasche von ihrem Stuhl.
„Sorry, ich explodiere immer gleich, wenn ich mich irgendwo niederlasse.“
Wir grinsen beide, viel Zeit zum Reden bleibt nicht mehr, der Dozent betritt gerade den Raum.
„Ich bin übrigens Lara“, stelle ich mich vor, als das Seminar vorbei ist.
„Merle“, sagt sie und streckt mir die Hand entgegen. Sie ist warm und fest, der Druck ausgeglichen. Ich hasse diese weichen Waschlappen, die einem manchmal zur Begrüßung gereicht werden. Eine tote Forelle ist lebendiger!
„Hast Du noch Zeit für einen Kaffee?“, frage ich. Sie nickt, und wir gehen hinüber. Sie trinkt keinen Kaffee, sondern grünen Tee.
„Koffein ist auch in Tee, und er schmeckt mir deutlich besser“, sagt sie fast entschuldigend auf meine Frage. Muss ich aufpassen, sie nicht zu überrollen? Sie ist mir sympathisch, ich würde gerne mit ihr Freundschaft schließen, habe aber Angst, sie zu verschrecken. Wir unterhalten uns die komplette Mittagspause, gut zwei Stunden, essen gemeinsam, gehen danach zum Hauptgebäude zurück. Die Zeit vergeht wie im Flug und ich habe dieses Gefühl, sie schon ewig zu kennen, das ich immer bekomme, wenn ich einen Menschen treffe, der mit mir übereinstimmt. Ich lächle sie an, als unsere Wege sich trennen. Aus tiefstem Herzen.
„Danke, dass du mitgekommen bist. Und wenn du magst, können wir gerne immer die Pause am Dienstag miteinander verbringen.“ Sie strahlt zurück, stimmt zu. Ich bin glücklich. Ich habe Freunde, aber dieses Mädchen ist eine Bereicherung, ist ein Mensch, den ich auf meinem Lebensweg ein Stück mitnehmen möchte.
Nach und nach erfahren wir mehr voneinander. Sie hat keinen Freund, was mich wundert, aber sie stört es nicht.
„Ich hab doch noch so viel Zeit. Der Richtige war halt noch nicht dabei, und irgendwann finde ich ihn schon. Bis dahin fülle ich die Zeit halt mit Studieren.“ Sie lacht, und es klingt ansteckend.
Sie erzählt von Robert, ihrem Bruder. Er ist zwei Jahre älter als sie und lebt in Berlin. Ich bin neidisch, weil sie sich so gut zu verstehen scheinen. Er hat ihr ein Baumhaus gebaut, als sie Kinder waren, hat sie vor den Jungs aus dem Dorf beschützt, sie mit zu Parties und in die Disco genommen. Und immer, wenn es ihr schlecht ging, konnte sie zu ihm gehen und ihm ihr Herz ausschütten. Mike hätte mich verhöhnt, mich als Heulsuse abgestempelt, mir vermutlich noch eine Kopfnuss gegeben und „Mädchen“ gestöhnt. Ich habe ihn immer auf den Mond gewünscht, jeden Abend gehofft, dass er am nächsten Tag nicht mehr da ist, ich nie einen Bruder hatte. Erst jetzt können wir einigermaßen miteinander reden, wo wir mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt sind und uns nur Weihnachten sehen.
„Irgendwann musst du Robert kennen lernen. Er ist ganz anders als die meisten Männer. Er würde dir gefallen, glaube ich.“ Merle behauptet nicht einfach etwas, sondern vermutet. Sie maßt sich nie an, Dinge ungefragt als Wahrheit hinzustellen, und dennoch hat sie einen untrüglichen Sinn dafür, Zusammenhänge und Wahrheiten zu erkennen. Vielleicht ist sie deswegen so gut im Studium, mit Sicherheit rührt auch ihre Beliebtheit dorther. Sie bevormundet nicht, sie gibt Anregungen. Für eine angehende Psychologin ein unschätzbarer Vorteil.
Als das Semester etwa zur Hälfte fortgeschritten ist, treffen wir uns auch außerhalb der Uni, um gemeinsam zu lernen. Der Stoff ist spannend, aber in seinem Umfang viel, gemeinsam geht vieles leichter. Oft lesen wir unterschiedliche Bücher und vergleichen dann die Theorien in ihnen, entscheiden, ob sie wichtig genug sind, um von beiden gelesen zu werden, oder ob unsere Zusammenfassungen reichen. Es macht Spaß, mit ihr zu arbeiten, wir haben ähnliche Methoden und ergänzen uns hervorragend.
Da ich etwas außerhalb wohne, treffen wir uns fast immer bei ihr, ich bringe frische Brötchen mit, sie kocht uns Tee und in der ersten Stunde lassen wir die Uni außen vor. Lernen und Frühstücken passen nicht zusammen, und wir haben genug andere Themen, denen wir uns widmen können.
Kurz vor den Prüfungen öffnet sie mir eines Tages ungeduldig hüpfend die Tür, in der einen Hand den Telefonhörer. Ich bekomme noch mit, wie sie sich verabschiedet und vermute ihren Bruder am anderen Ende der Leitung. Im nächsten Moment springt sie mir strahlend um den Hals.
„Robert kommt mich besuchen! Sobald meine Prüfungen durch sind, nimmt er sich ein paar Tage frei und fährt nach Kiel. Du musst ihn unbedingt kennen lernen, er ist der tollste Bruder der Welt!“ Sie lacht und strahlt und ich lasse mich von ihr anstecken. Neugierig bin ich sehr auf ihn, bleibe aber etwas zurückhaltender. Zu oft habe ich erlebt, dass mir ein toller Mann versprochen wurde, der sich als mittelmäßig entpuppte.
Robert und Merle sind unterschiedlich wie Tag und Nacht. Merles weiche, honigblonde Locken fallen ihr bis zu den Schultern, umrahmen ihr weiches Gesicht mit den dunkelgrünen Augen. Er hat fast schwarzes Haar, ebenfalls lockig, dazu blaue Augen. Während Merle zierlich ist, knapp 1,60 Meter misst, ist er gut 1,90 Meter groß, breitschultrig, muskulös. Gemeinsam ist ihnen jedoch dieses verschmitze Lächeln, bei dem der eine Mundwinkel sich höher zieht als der andere. Er gefällt mir sehr, als ich ihn zum ersten Mal sehe.
„Ihr seid wirklich Geschwister?“, rutscht es mir spontan heraus. Beide lachen, ich fühle mich blöd.
„Mach dir keine Gedanken, das fragt jeder. Ja, sind wir. Wobei Papa immer behauptet, dass Merle vom Postboten ist.“ Er knufft seine Schwester in die Seite, und sie nimmt Boxhaltung an. Beide toben lachend durch die Wohnung, und wir sind alle drei froh, dass ihre Mitbewohnerin bereits bei ihren Eltern in den Ferien ist.
Es ist Anfang März, ein vorgezogener Frühling hat die Stadt in einen Rausch versetzt, den man nur hier im Norden erleben kann, wo jeder Sonnenstrahl kostbar ist. Wir sitzen auf Merles winzigem Balkon, trinken viel zu kaltes Bier aus der Flasche und lassen einen Joint kreisen. Ich fühle mich leicht, geborgen, umgeben von Menschen, die auf meiner Wellenlänge schwimmen. Wir reden, lachen und schweigen miteinander, schauen die Sterne an, die Wolken, die im Mondlicht gespenstisch wirken, beobachten die Nachbarn durch die Fenster im Hinterhof. Erst, als unsere Finger bereits taub sind, gehen wir wieder in die Küche, trinken Espresso, den nicht einmal Merle verschmäht, und wärmen uns wieder auf.
„Gehen wir noch in die Berstraße?“, frage ich, zu aufgepeitscht, um schon nach Hause zu fahren. Merle zuckt die Schultern, sie geht nicht gerne weg, mag den Lärm und den Rauch nicht in den Discos, ist lieber an der frischen Luft. Robert jedoch stimmt zu. Dilemma. Ich sehe Merle fragend, fast bittend an. Sie zwinkert mir zu.
„Geht ihr nur, ich bin auch mit mir allein zufrieden. Und Robert ist bei dir ja in guten Händen.“ Ich grinse, hoffe, dass sie nicht gemerkt hat, wie sehr er mir gefällt. Ich habe keine Erfahrung damit, mit dem Bruder einer Freundin etwas anzufangen, glaube aber, dass es kompliziert sein muss und will es nicht. Aber ganz kann und will ich mich seinem Charme auch nicht entziehen.
Wir lassen Merle allein und gehen das kurze Stück. Ich hake mich bei Robert ein, und wieder durchströmt mich eine Wärme, die mir schmerzlich vertraut und doch viel zu fremd ist. Warum hatte ich keinen solchen Bruder? Ich will nicht darüber nachdenken. Wir gehen in den Luna Club, lassen uns in die Musik fallen, tanzen wie junge Götter. Ich stelle Robert Marc vor, der heute auflegt und mit dem ich lose befreundet bin. Marc nickt mir anerkennend zu und hebt einen Daumen. Ich gehe beschwingt mit Robert zur Bar. Anerkennung von Marc für meine Begleitung ist selten und daher durchaus positiv zu werten.
Der Joint hat mich aufgeschlossener gemacht, ich lache viel und erzähle Robert von Mike, davon, wie sehr ich mir einen Bruder gewünscht habe, der mich beschützt und mir die Welt zeigt, und irgendwann küssen wir uns. Es passiert einfach, mitten im Satz treffen sich unsere Lippen, betasten sich vorsichtig, stupsen sich an, zupfen aneinander. Dann sehen wir uns lange in die Augen und gehen tanzen. Kein Wort fällt, aber unsere Blicke sprechen Bände, unsere Hände suchen immer wieder den Kontakt zum anderen. Gegen halb drei verlassen wir das Luna, gehen Hand in Hand zurück zu Merles Wohnung, wo mein Fahrrad steht. Fragen sehe ich ihn an, als wir ihre Tür erreichen.
„Magst du mit zu mir kommen?“ Meine Stimme ist rauh vom Sprechen, Mitsingen, Rauchen. Und vor Verlegenheit. Er sieht mich lange an, küsst mich dann auf die Stirn und schüttelt bedauernd den Kopf.
„Sorry, aber es geht nicht.“ Keine weitere Erklärung. Er dreht sich abrupt um, öffnet die Haustür mit Merles Ersatzschlüssel und verschwindet. Ich schaue ihm noch einige Minuten nach, sehe seinen Schatten im erleuchteten Treppenhaus nach oben gehen, warte, bis das Licht ausgeht und fahre schließlich plötzlich ernüchtert nach Hause. Ich verstehe nicht, was passiert ist, welchen Fehler ich begangen habe. Vielleicht bekomme ich morgen eine Erklärung.
Bis Robert wieder nach Berlin fährt, sehe ich ihn noch zweimal. Wir verstehen uns nach wie vor gut, kommen uns aber nicht wieder so nahe wie am ersten Abend. Meine Hoffnung, dass er Rücksicht auf seine Schwester nimmt und wir uns noch einmal alleine treffen, zerstreut sich schlagartig, als ich am Freitag bei Merle ankomme und Robert bereits abgereist ist.
„Er hat gestern einen Anruf von seinem Chef bekommen, sie brauchen ihn dringend. Schade, dass ihr euch nicht mehr verabschieden konntet.“ Ich habe nichts von ihm, keine Adresse, keine Telefonnummer, keine Mailadresse. Und ich kann Merle nicht fragen, will ihr mein Interesse nicht zeigen. Idiotisch, und doch habe ich das Gefühl, dass es besser so ist. Ich wusste gleich, dass ich mich nicht auf den Bruder einer Freundin einlassen sollte, nun habe ich die Gewissheit.
Wir treffen uns seltener in den Semesterferien, der Lerndruck ist gewichen, unser rituelles Frühstück wird wohl erst im nächsten Semester wieder einsetzen. Ich fahre in paar Tage zu meinen Eltern, Merle verreist mit einer Freundin für zehn Tage nach Italien. Wir schreiben uns, und doch habe ich Angst, dass unser enges Band Risse davongetragen hat. Ich bin unruhig, warte sehnsüchtig auf den Beginn des neuen Semesters und traue mich nicht, bei ihr anzurufen, aus Angst, ihr auf die Nerven zu gehen. Auch ich bin hin und wieder fürchterlich unsicher, und ich hasse mich dafür.
Endlich beginnt das Semester, und zu meiner Erleichterung scheint alles beim Alten zu sein. Wir haben wieder ein gemeinsames Seminar, und auch diesmal gelingt es uns, einen Tag gemeinsam Mittag zu essen. Schon bald beginnen unsere Lernsamstage wieder, und ich vergesse nach und nach, dass ich noch immer einige Fragen offen habe.
Eines Tages wirkt sie fahrig und abgelenkt auf mich, als ich bei ihr ankomme. Nach dem Frühstück schließlich, als wir zum Lernen in ihr Zimmer gehen, drückt sie mir einen Brief in die Hand und zeigt auf einen Absatz.
„Ich denke, du solltest es wissen.“ Ich schaue sie fragend an, dann beginne ich zu lesen.
Da ist noch etwas, Schwesterherz. Ich habe mich verliebt. Sie studiert Archäologie und wird dir gefallen. Ich hoffe sehr, dass du bald die Gelegenheit haben wirst, sie kennen zu lernen, daher verrate ich jetzt nicht zu viel, damit du dir dein eigenes Bild machen kannst. Nur so viel: Sie heißt Natalie und hat genauso tolle grüne Augen wie du.
Ich lasse das Blatt sinken. Meine irrationale Hoffnung der letzten Wochen, Robert doch noch näher zu kommen, ist endgültig hin. Aber auch Merles Gesicht drückt Wut, Trauer und Enttäuschung aus.
„Solltest du dich nicht eigentlich für ihn freuen?“, frage ich vorsichtig.
„Weil mir irgendeine dahergelaufene Schlampe den Bruder wegnimmt?“ So heftig hatte ich sie noch nie erlebt. „Was glaubst du, wie oft er noch Zeit finden wird, nach Kiel zu kommen? Wie sehr ich ihn in Berlin jetzt wohl belaste, wenn ich dort bin? Nein, begeistert bin ich wirklich nicht.“
Ich kann sie verstehen, Robert ist für sie so wichtig wie sie für mich, ein Halt im Leben, ein Fixpunkt, ein Mensch, den man ungern teilt – und doch finde ich sie unfair. Vielleicht spielt ein wenig Eifersucht mit hinein, als ich sage, dass er sich doch eigentlich viel besser in mich hätte verlieben können. Merle sieht entgeistert auf.
„In dich? Wieso denn in dich?“
„Weil wir herumgeknutscht haben, als er hier war. Weil ich das Gefühl hatte, dass er mich mag. Weil ich mich ein bisschen in ihn verliebt habe.“ Nun ist es heraus. Und wir beide starren uns an wie Rivalinnen. Ich begreife plötzlich, wieso man sich nicht in den Bruder der besten Freundin verliebt. Am Ende verliert man beide.
Eine Weile sagt sie nichts. Dann bittet sie mich leise, zu gehen. Es ist weder Wut noch Hass in ihrer Stimme, nur Trauer und Resignation. Ich stehe auf, verabschiede mich fast tonlos und gehe.
In den nächsten Tagen vergrabe ich mich allein in meiner Arbeit. Der nächste Freitag ist der erste, an dem wir uns nicht zum Lernen treffen, und ich verkneife mir mühsam das schlechte Gewissen. Ich sollte sie anrufen, anbieten, zu reden, aber ich schaffe es nicht. Was soll ich sagen? Es tut mir Leid? Nein, mich in Robert verliebt zu haben, tut mir nicht Leid, sie verletzt zu haben, macht mich so fertig. Erst, als Merle zum zweiten Mal nicht im Seminar sitzt, beginne ich, mich zu wundern, aber mein Gehirn ist mit anderen Dingen beschäftigt und arbeitet träge. Erst gut zwei Wochen nach unserem letzten Treffen werde ich aus meiner Lethargie gerissen. Zuhause liegt ein Brief von Merle.
Ungeduldig reiße ich ihn auf, lese ihn, lasse ihn sinken. Setze mich hin, lese ihn noch mal.
Lara,
ich hab es nicht gepackt. Ich dachte immer, das Leben hätte mich wieder, aber das war nur Selbstbetrug. Und jetzt ist mal wieder alles über mir zusammengebrochen. Ich wollte sterben und bin in der Psychiatrie gelandet. Es geht mir gut hier, und ich darf Besuch empfangen. Ich möchte Dich so gerne sehen.
Kuss, Deine Merle
Ich hatte mir die Psychiatrie immer kalt und trostlos vorgestellt, voller abgesperrter Zimmer, aus denen Wehklagen tönt. Vielleicht habe ich zu oft Einer flog übers Kuckucksnest gesehen. Hier gibt es kein hohes, bedrohliches Tor, stattdessen einen freundlichen Pförtner, der mir den Weg weist, statt deprimierender verwinkelter Gänge ohne Licht gibt es freundliche helle Flure, sympathische Patienten und eine Atmosphäre, die eher an eine Kurklinik denken lässt.
Merle ist in eine Partie Schach vertieft, als ich schüchtern in der Tür des Aufenthaltsraumes stehen bleibe, und sie springt strahlend auf, als sie mich sieht. Warum ist sie hier?
„Wir spielen später weiter, okay, Benny?“, ruft sie ihrem Spielpartner zu, dann ist sie bei mir und umarmt mich.
„Lass uns ein Stück spazieren gehen, ja?“ Sie wartet meine Antwort kaum ab, aber ich nicke eh nur. Mir ist nicht nach Sprechen, ohne dass ich es begründen könnte. Ich habe tausend Fragen und weiß nicht, wo ich anfangen soll.
Draußen scheint die Sonne, es ist mild, ein paar Vögel zwitschern, eine Katze schleicht träge durchs Gras. Mir erscheint der Ort surreal, es kann keine Psychiatrien geben, solange die Welt so friedlich ist. Warum ist Merle hier?
Wir setzen uns auf zwei Schaukeln, lassen uns vom wind treiben. Ich sehe sie lange an, bevor ich mich räuspere, endlich einen Ton herausbringe.
„Warum ... und wie ...?“
„Das warum dauert länger in der Erklärung. Wie: Tabletten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Mia so früh nach Hause kommt. Manchmal ist auf die einfachsten Dinge kein Verlass mehr. Sie wollte doch ins Kino, das hätte noch ewig gedauert.“ Merle verstummt. Ich starre sie an. Ich bin mir dessen bewusst, und doch kann ich nicht anders.
„Du wolltest wirklich sterben? Das war kein Hilferuf?“
„Nein, ich wollte nicht nur auf möglichst dramatische Art und Weise sagen, dass es mir schlecht geht, ich wollte gehen. Weg, für immer. Nichts mehr fühlen müssen, zu Stein erstarren, mich selber auslöschen. Ist mir wohl nicht gelungen.“ Ihre Stimme klingt hart, ich kenne sie so nicht. Sie tut mir weh, dabei sind es ihre Gefühle, die sie verletzen, ihre Erinnerungen, die ihre Stimme schneidend machen. Ich will sie in den Arm nehmen und traue mich nicht. Noch immer verstehe ich nicht, fühle mich, als müsse ich ein Haus ohne Grundstein, ohne tragendes Element errichten.
„Was hat Dich bloß so aus der Bahn geworfen?“
„Robert.“ Ein einziges Wort, hingeworfen wie ein Knochen. Ich schnuppere daran, aber es sagt mir nichts. Fragend sehe ich sie an.
„Er ist dein Bruder, Du hast ihn gern, er hat eine neue Freundin. Aber das ist kein Grund ...“ Ich bin hilflos, ratlos.
„Du hast es noch immer nicht begriffen, oder? Setz Deine Informationen neu zusammen.“
„Er hat eine neue Freundin. Er hat mich geküsst. Ist es das? Wolltest du, dass er mit mir zusammekommt? Aber das macht auch keinen Sinn.“
„Es hat nichts mit dir zu tun. Ich liebe ihn.“
„Natürlich liebst du ihn, er ist dein Bruder ...“ Und mit einem Mal begreife ich. „Du liebst ihn?“
Merle nickt. Und dann wendet sie sich ab, ballt ihre Hände zu Fäusten und schlägt auf das Gerüst der Schaukel ein, immer wieder, bis ich zu ihr gehe, ihre Hände festhalte und ihren kleinen, haltlosen Körper fest an mich ziehe. Mein Kopf ist voller Fragen, die ich nicht stellen kann, nicht stellen darf, nicht stellen will. Ich schweige, lasse sie weinen, warte ab. Schalte meine Gedanken und Gefühle aus, denn ich habe Angst vor meiner Reaktion. Sie liebt ihn.
Nach einer Weile beruhigt sie sich etwas.
„Lass uns zum Haus zurückgehen, ich bin so erschöpft.“ Ihre Stimme ist brüchig wie rostiges Metall, als sei sie lange nicht genutzt worden. Sie hängt beim Gehen an meinem Arm, wir torkeln unkontrolliert über den Rasen. Es wäre komisch, wenn es nicht so hoffnungslos wäre.
An der Tür macht sie sich los, hält sich am Türrahmen fest, sieht mich prüfend an.
„Komm bald wieder, wenn du magst. Dann erzähle ich dir mehr.“
Ich nehme sie vorsichtig in den Arm, sie wirkt zerbrechlich wie eine Porzellanpuppe in meinen Armen.
„Du hast mir gut getan, auch wenn es nicht den Anschein hat.“ Ihre Stimme ist leise, eine unbeschriebene Angst klingt in ihr mit. Ich drücke sanft ihre Hand, sehe ihr in die Augen.
„Pass gut auf dich auf, hörst du?“
Sie nickt und lächelt schief. „Das machen die hier schon ganz gut, glaub mir.“
Bereits am nächsten Tag bin ich wieder da. Die halbe Nacht habe ich wach gelegen, habe über Merle und Robert und die Frage nachgedacht, wie es mit den beiden so weit kommen konnte. Und sobald meine Vorlesungen vorbei waren, bin ich zu ihr gefahren.
Als ich komme, sitzt sie in ihrem Zimmer, allein, versunken, lesend. Es geht ihr nicht gut, nicht so gut, wie gestern, als ich kam. Vielleicht so schlecht, wie es ihr ging, als wir uns gestern trennten. Ich weiß es nicht, kann ihr Inneres noch immer schwer einschätzen. Oder nicht mehr, denn es gab eine Zeit, in der ich glaubte, sie durch und durch zu kennen. Eine Täuschung, die mich traurig macht. Jetzt wirkt matt, als stünde sie allein bei strahlendem Sonnenschein unter einer Wolke. Als ich hereinkomme, sie aufsieht und mich erkennt, huscht kurz die Sonne über ihr Gesicht, dann ergraut sie wieder.
„Lara. Danke. Dass du da bist.“ Jedes Wort scheint zu schwer für ihre Zunge zu sein. Ich setze mich neben sie auf ihr Bett, drücke sie kurz, gebe ihr dann wieder den Abstand, den ihr Körper zu verlangen scheint.
„Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und mir heute früh eine Beruhigungstablette geben lassen. Nun bin ich träge, aber wenigstens werden die Gedanken durch eine Watteschicht gedämpft. Magst du mir trotzdem Gesellschaft leisten?“ Ich nicke und frage mich, seit wann sie so unsicher ist. Früher war zwischen uns doch immer alles klar gewesen. Wer bin ich geworden in ihrer Welt?
Ich ziehe das Buch aus der Tasche, das ein paar Kommilitonen für sie besorgt haben. Fast alle aus unserem Seminar haben auf der Karte unterschrieben, kommen will keiner. Angehende Psychologen, die die psychosomatische Klinik scheuen, als wären Schwermut, Angst und Depression ansteckend. Ich verachte sie dafür, doch Merle freut sich über das Buch. Sie versteht die Angst der anderen, verteidigt sie gegen mich. Ich seufze.
Eine Weile sitzen wir einfach da, schweigen miteinander, und es ist fast so wie früher.
„Immer, wenn ich masturbiere, stelle ich mir die beiden beim Sex vor“, sagt Merle unvermittelt. Ich starre sie an, mein Kopf weigert sich, den gehörten Worten einen Sinn zu verleihen. Noch nie haben wir so intim über Sex gesprochen, und obwohl ich nun weiß, welches Geheimnis sie mit sich herumträgt, ist dieses Geständnis zu plötzlich gekommen.
„Ich kann nicht anders, ich liebe ihn nach wie vor. Daran wird weder die Entfernung noch eine andere Frau etwas ändern können.“ sie sieht mich nicht an, ihre Hände drehen geistesabwensend das Buch, ihr Haar fällt ihr ins Gesicht. Sie streicht es nicht zurück. Ihre Stimme klingt spröde, als wie weiterspricht: „Ich habe versucht, an etwas anderes zu denken, aber es funktioniert nicht. Ich kann nur so kommen. Pervers, ich weiß, aber ich kann nichts dagegen tun.“
Vorsichtig lege ich zwei Fingerspitzen auf ihre schulter, mehr Gewicht scheint mit unpassend, zu schwer für eine Situation, die sich selbst kaum tragen kann. Ihr Blick bleibt in der Ferne, sie kann mich nicht ansehen. Lange sitzen wir so, und ich erkenne, dass das Schweigen zwischen uns das Pflaster ist, das hilft, den ersten Schorf auf die offenen Wunden ihrer Seele zu legen. Als ich gehe, Stunden später, Minuten, ich habe die Zeit verloren, flüstert sie tonlos „danke“, und für einen Moment treffen sich unsere Augen. Das Lächeln in ihrem Gesicht erreicht die Mundwinkel kaum.
Einige Tage bleibe ich der Klinik fern. Ich habe Angst vor dem, was mich erwartet, vor den Antworten auf meine unausgesprochenen Fragen. Immer wieder drehen sich meine Gedanken um den zentralen Punkt: Beruht diese Liebe auf Gegenseitigkeit? Oder hatte Merle sich mit ihren Phantasien, Träumen, Hoffnungen zufrieden geben müssen? Wusste Robert, was sie empfand? Ich ahne, dass ich bei meinem nächsten Besuch die Antworten bekommen werde und schiebe es hinaus. Die Uni macht es mir leicht, schon wieder habe ich viel um die Ohren, und dieses Semester muss ich alle Bücher alleine lesen, denn Merle ist nicht da, um sich die Arbeit mit mir zu teilen.
Und dann, nach fast einer Woche, nehme ich all meinen Mut zusammen. Ich kann eh an nichts anderes denken, und so wappne ich mich für die schlimmste Antwort, die ich mir vorstellen kann und mache mich auf den Weg zu ihr.
Wie beim ersten Besuch finde ich Merle im Aufenthaltsraum beim Schachspiel. Ich winke ihr zu, lasse sie in Ruhe zu Ende spielen und stelle mich neben den Tisch. Ich verstehe nicht viel von diesem Spiel, beherrsche gerade mal die Grundregeln, weiß, wie die verschiedenen Figuren ziehen können und dass sich alles auf den König konzentriert. Merle macht ihre Züge überlegt, und obwohl sie deutlich weniger figuren auf dem Brett stehen hat als ihr Spielpartner, macht sie einen zufriedenen Eindruck. Ich schaue sie mir an und sehe mehr Ruhe in ihrem Blick als letzte Woche, mehr Energie. Sie scheint wieder ein wenig Kraft gewonnen zu haben und irgendwie von Innen heraus zu leuchten.
Nach etwa zehn Zügen gibt ihr Gegner auf. Er schüttelt ihr die Hand und sagt halb anerkennend, halb ärgerlich, wie gut sie geworden sei.
„Wenn das so weitergeht, spiele ich nicht mehr gegen dich!“, droht er zwinkernd an. Merle grinst und wird ein wenig rot. Ich bin verlegen, weil sie es ist. Seltsame Welt.
In ihrem Zimmer finden wir die nötige Ruhe. Merle besorgt Tee und Kekse, und fast ist es wieder wie früher, als wir uns noch zum Lernen trafen. Doch unser Thema hat sich verschoben, all die Fragen stehen ungestellt zwischen uns.
„Danke, dass du wiedergekommen bist, nach all dem, was ich dir erzählt habe.“
Ich nicke, was soll ich auch sonst dazu sagen? Ich bin hier, weil ich sie gern hab, weil ich neugierig bin, weil tief in mir ein kleiner Voyeur sitzt, der wissen will, wie es dazu kam, dass sich Geschwister verliebt haben und nun der Bruder in einer glücklichen Beziehung lebt, die Schwester aber in einer psychosomatischen Klinik sitzt.
„Weißt du, wir haben das nie gewollt, uns war immer bewusst, dass wir ein Tabu verletzen, eine Grenze überschreiten und uns sogar am Rande der Legalität bewegen würden, aber manchmal passieren die Dinge einfach. Es begann schon in der Kindheit, wir waren unzertrennlich, haben alles geteilt, waren lieber unter uns als mit anderen Kindern zusammen. Unsere Mutter hat sich natürlich gefreut, dass wir uns so gut verstehen, es gab selten Streit, und es hätte so unschuldig bleiben können. Aber natürlich wurden wir älter und kamen in die Pubertät. Ich nahm Robert plötzlich mit anderen Augen wahr, er war nicht nur mein Bruder, sondern wurde zunehmend männlicher. Als er den ersten Bartflaum bekam, hatte ich zum ersten Mal meine Tage, und da wir noch immer keine Barriere aufgebaut hatten, wie es sonst meist zwischen Bruder und Schwester in diesem Alter ist, haben wir auch darüber geredet. Eines Nachmittags saßen wir in meinem schon viel zu eng gewordenen Baumhaus und redeten. Wir saßen eng aneinandergekuschelt da, und es war wunderschön, diese Nähe und Geborgehnheit zu spüren. Und immernoch wäre Zeit gewesen, den nächsten Schritt nicht zu gehen. Aber irgendetwas hat unseren Blick füreinander verändert an diesem Tag, und von da an suchten wir ständig die Nähe des anderen. Ich ging 'versehentlich' ins Bad, während er unter der Dusche stand, er kam genau in dem Moment in mein zimmer, als ich mich umzog. Lauter Kleinigkeiten, die für sich genommen nicht besorgniserregend waren, und unsere Eltern nahmen sie dementsprechend auch nicht wahr.
Eines Tages stand ich im Bad und putzte mir die Zähne. Robert kam herein, setzte sich auf den Badewannenrand und betrachtete mich. Ich sah ihn im Spiegel und wurde unruhig. Mein Magen zog sich seltsam zusammen, durch meinen Unterleib schoss ein Blitz, und als ich meinen Mund ausgespült hatte, drehte ich mich um, ging zu ihm und küsste ihn. Das war nicht überlegt, ich bin einfach meinem Impuls, meinen Gefühlen gefolt. Er hätte mich zurückweisen können, und es wäre nie wieder passiert, aber stattdessen küsste er mich zurück, und von da an wusste ich, dass ich ihn liebte.“
Merle nimmt einen Schluck Tee, sieht aus dem Fenster und spielt gedankenverloren mit einem Keks herum. Ich atme kaum, will sie nicht stören in ihren Gedanken, will sie nicht unterbrechen in ihrem Bekenntnis. Dann endlich redet sie weiter.
„Wir haben es immer geheimhalten können. Unsere Eltern waren oft genug nicht zuhause, und in diesen Nächten teilten wir unser Bett. Unser kindliches Vertrauen zueinander hat uns unsere Körper voller Unschuld und Neugier erkunden lassen, und ich fürchte, dass ich nie wieder einem Mann so werde begegnen können – ebensowenig wird mir jemals wieder ein Mann so nah kommen können wie Robert. Aber als wir älter wurden, wussten wir, dass es enden muss. Unsere gemeinsmen Nächte wurden seltener, und Robert ist nach dem Abi nur deswegen nach Berlin gezogen, damit wir endlich wieder ein normales Leben ohne einander führen konnten. Eine Zeit lang ging alles gut, ich habe sogar einen Freund gehabt, der lieb und süß war. Es endete nach einem halben Jahr, er konnte mir Robert einfach nicht ersetzen. In den anderthalb Jahren danach haben wir alles daran gesetzt, wieder normale Geschwister zu werden, und weil es gelungen schien, haben wir uns auf das Treffen vor wenigen Monaten eingelassen, bei dem du ihn kennen gelernt hast. In den vergangenen zwei Jahren haben wir uns ausschließlich Weihnachten gesehen, wenn das Haus voll war und wir niemals miteinander alleine sein mussten. Und als er jetzt hier war, musste ich erkennen, dass nichts ausgestanden ist. Ich liebe ihn noch so sehr wie zu Beginn, und obwohl er standhaft geblieben ist und uns daher gerettet hat, hat er es natürlich gemerkt. Er hat versucht, mich auf Abstand zu halten und gleichzeitig zu trösten, was nicht wirklich gelang, daher auch sein verfrühter Aufbruch zurück nach Berlin. Und deswegen auch der Brief, in dem er von seiner Freundin berichtet hat. Er wollte mir damit sagen, dass es endgültig aus ist.“
Wir schwiegen lange, Merle tief in ihre Gedanken versunken, noch immer den Keks zerkrümelnd, von dem kaum noch etwas übrig war, ich voller widerstreitender Gefühle. Ich wollte sie in den Arm nehmen, sie trösten, schütteln, anklagen – meine Gefühle fuhren Achterbahn ohne Zwischenstopp.
Dann endlich schaute sie mich an, sah meinen Blick, der voller entsetzen gewesen sein muss, und ihre Augen suchten nach Absolution in meinem Blick.
„Andere suchen lange nach ihrem perfekten Gegenstück und finden es nie. Meines war bereits bei meiner Geburt da, und doch dürfen wir nicht zusammen sein. Das Leben sucht sich manchmal brutale Wege.“
„Was willst du nun machen?“
„Einen Teil von mir für immer loslassen, deswegen bin ich hier.“
Mein Magen fühlt sich plötzlich kalt an, als hätte ich eine Kugel Eis am Stück heruntergeschluckt. „Und wenn du es nicht schaffst?“
„Dann werde ich hoffentlich aufhören, zu existieren.“ Ihr Blick ist voller wilder Entschlossenheit, die mir zeigt, dass es für sie keine weitere Option gibt. Mir wird kälter. Schließlich stehe ich auf, umarme sie und gebe ihr einen Kuss zum Abschied. Der Rest des Weges gehört alleine ihr.
Als ich durch das Tor gehe, atme ich tief durch, um die Freiheit zu spüren, die Merle nicht hat.
Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen. Ich bekam in den folgenden Monaten hin und wieder eine Karte von ihr, aus verschiedenen Kliniken in Deutschland, dann versiegte der Kontakt ganz. Ich werde nie sicher sein, ob sie es geschafft hat, und wann immer ich meinen Arbeitstag in der Psychosomatik beginne, indem ich einen Becher Tee trinke und gedankenverloren einen Keks zerkrümel, denke ich an Merle.
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20.03. - 27.08.2006