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Der kleine Mensch
Der kleine Mensch war sehr klein, so winzig, dass ich ihn meistens gar nicht sah. Vielleicht sind meine Möbel höher, höher als gewöhnlich, ich habe nie verglichen, aber ich glaube, er konnte unter ihnen herlaufen. Er gab nur zarte, verkümmerte Laute von sich, störte mich also nicht bei meinen Arbeiten, die ich aufgrund des Tageslärms in der Nacht erledigte. Auch fand ich nie Exkremente von ihm, und die paar Reste, die so ein winziger Mensch zum Überleben benötigt, vergönnte ich ihm gern und machten mich auch nicht ärmer, als ich eh schon war. Nur gelegentlich, wenn mich der Wein zum Stolpern zwang, fiel ich beinahe über ihn. Aber auch darüber konnte ich hinwegsehen. Wo er schlief, weiß ich nicht, jedoch hatte ich manchmal das Gefühl, als würde etwas aus meinem Bett huschen, wenn ich erwachte.
Gestern habe ich nachgedacht und nachgedacht, und ich vermute, eine Frau musste ihn vor schon etwas längerer Weile, mehrere Winter mussten vergangen sein, bei mir zurückgelassen haben.
Oft überlegte ich, was ich mit ihm machen könnte, beschäftigen, unterhalten, arbeiten lassen oder dergleichen. Nur hatte ich ernsthaft das Gefühl, dass ihm unser beidseitiges aneinander Vorbeileben redlich behagte. Versuchte ich einmal, etwas Stulle, noch frisch, in die Zimmermitte zu stellen, ihn damit herauszulocken, hörte ich es in den Winkeln allerhöchstens rascheln. Auch wusste ich nicht, wie ich ihn rufen sollte.
Mitunter geschah es, dass er, wenn ich von meinen Erledigungen – Schnorren, Hehlen und Stehlen – zurückkam, meine Bücher und Schriften der vergessenen Zeit gewälzt hatte. Ich war nicht böse drum, eher im Gegenteil. Der Staub auf den Bücherstapeln war dann anders verteilt, manchmal lagen die Bücher sogar aufgeschlagen herum; er schien gemerkt zu haben, dass es mir nichts ausmachte. Immerzu wunderte ich mich, wie dieser furchtbar kleine und hagere Mensch die nicht gerade leichten Werke aus den Regalen, die sich die ganze Wand hochstrecken, herunterfischen konnte.
Das ist nun auch schon einige immer kälter werdende Winter her. Mittlerweile ist die Situation eine andere:
Schon länger bin ich zu schwach, um Essen ins Haus zu bringen, wenn ich einen Text wie diesen hier verfassen möchte, muss ich mich mitunter heftigst auf die Schreibmaschinentasten werfen, um sie hinunterdrücken zu können, was viel Zeit und Kraft fordert. Zum Glück habe ich die Schreibmaschine schon vor längerer Zeit vorausschauend auf den Boden gestellt, da ich zurzeit nicht mehr auf den Stuhl komme.
So will ich jedoch darauf zu sprechen kommen, dass sich der kleine Mensch, einst so winzig, zu einem ausgewachsenen Menschen entwickelt hat und nun das Hehlen und Stehlen, die Arbeiten für mich übernimmt. Für mich ist vielleicht auch nicht richtig formuliert, da auch er ja sozusagen von meiner Hand in seinen Mund lebte und wohl merkte, dass ich nicht mehr in der Lage bin, mich selbst und ihn zu nähren, zu überleben, wozu auch immer zu überleben.
Er ist so groß geworden, und im Verhältnis dazu ich so klein, dass ich das Ende seiner Gestalt, seinen Kopf, schon nicht mehr sehen kann.
Nun bin ich es, der unter den Möbeln herlaufen kann, ich kann es wirklich, auch wenn ich es nie für wirklich möglich gehalten hatte. Er ist es nun, der mir Reste stehen lässt und niedrig, erreichbar für mich positioniert und zu dem ich mich nachts unter die Mottendecke schleiche, wenn es zu kalt wird.