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Überlebensgroß
Ich schließe die Augen.
Um mich herum: Nichts. Blendendweißes Nichts. Schneeschaumweiches, jungfräuliches Nichts.
Schwarze Ziffern schweben heran, drehen sich noch in der Luft um die eigenen Achsen, verharren kurz, heften sich ans Nichts, gewinnen an Tiefe, werden zu einem Relief. Wie eingemeißelt.
Werden zu Grabsteinzahlen.
Neunzehnhundertdreiundachtzig.
Da bin ich geboren.
Zweitausendzwölf.
Bin jetzt neunundzwanzig.
Dreißig werd ich nicht mehr.
Kakteen zu meiner Linken. Wie Menschen. Zwei Arme, ein Rumpf. Eine von ihnen ist größer und grüner als die anderen. Und sie trägt einen Schmuck am Kopf des Rumpfs.
Eine einzelne rosafarbene Blüte im grünen Soldatenmeer. Als wäre es ein Rangabzeichen.
Ich stelle mir vor, wie ein Heuballen vor den Kakteen herumweht. Doch nichts. Nur die einzelne Blüte.
Zu meiner Rechten ein großer Baum. Dürre Äste. Muss schon Winter sein. Ein Kolkrabe im Geäst. Er putzt sich. Von den Ästen baumeln Kadaver in Eisenrüstungen.
Vor mir ein kleiner Hügel. Schneebedeckt. Ein Holzkreuz steht darauf.
Es riecht nach Winter, nach einem kalten Wintertag. Wenn es eigentlich zu kalt ist, um nach irgendwas zu riechen. Es riecht ein wenig nach Nichts.
Dann schwebt der Tod heran. Er ist ein riesiger Vogel mit Adlerfedern. Er ist ein dunkler Engel. Er ist der böse Mann. Er ist der schwarze Ritter. Er ist der Tod.
Sein Federgewand rauscht durch die Luft. Es wächst ihm aus dem Rücken. Ich kann jede einzelne Feder sehen.
Eine Sense klappert in seiner linken Hand.
Auf seinem Geierkopf sitzt ein schwarzer Schlapphut.
Er landet auf dem Hügel vor mir, greift sich mit der freien Hand an die Hutkrempe und lüftet den Hut kurz. Vielleicht will er mir Respekt zollen. Vielleicht will er sagen: Hast dich gut geschlagen, aber das war es nun.
Ich sehe an mir herunter. Und ich trage eine weiße Rüstung. Und ein Flammenschwert baumelt an meiner Hüfte.
Ich klappe das Visier hoch, ziehe das Flammenschwert und hebe es mit beiden Händen in die Höhe. Es ist ganz leicht und ich wirble es zweimal durch die Luft.
Der Tod schiebt sich einen Zigarillo in seinen Geierschnabel. Aber er kann ihn nicht rauchen. Er winkt mich mit seiner Sensenhand heran. Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Meine Rüstung klappert.
Er spuckt den Zigarillo aus und wirft ihn auf den Boden. Dann greift er sich unter sein Schnabelkinn und reißt sich die Geiermaske vom Schädel und ich sehe den Skelettkopf. Aber der Hut sitzt immer noch darauf.
Ich renne los. Das Schwert hoch über mir.
Der Tod hebt seine Sense und tänzelt auf mich zu. Auf Zehenspitzen.
Ich lasse das Schwert hinuntersausen. Er blockt mit seiner Sense ab. Die Klingen treffen sich. Funken sprühen.
Ich öffne die Augen.
Mein Backenzahn schmerzt dumpf. Ein Mann in verwaschener Uniform steht neben zwei Männern in Lumpen. Die halten Gewehre hoch. Sie sind nah, aber weit weg. Ich kann sie nicht beschreiben.
Der Mann hebt seinen Gehstock. Meine Knie zittern und mein Schoß wird feucht und warm.
Er lässt den Stock sinken.