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Thema des Monats Wotan

Seniors
Beitritt
15.04.2002
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Wotan

Lukas Kaltmut, mein Nachbar, ist Neonazi und hat einen Pitbull-Terrier. Wotan. Er hat ein Programmier-Modul. Der Hund, nicht der Nazi. Hassen tu ich beide.
Sie marschieren über den Bürgersteig, hintereinander, kommen immer näher. Ich beobachte sie ganz genau, schiebe die Gardine noch etwas weiter zur Seite, halte das Fernglas gerade, konzentriere mich. Wotan trippelt über den Asphalt, dann hält er an.
Die Werbung preist Module für Hunde an, weil die damit ein gewöhnliches Klo benutzen können statt auf den Gehsteig zu scheißen. Mein Nachbar kann mich nicht leiden. Hat seinen Wotan umprogrammiert, so dass er neben meinen Mülleimer kackt. Da! Jetzt ... jetzt passiert's. Im Fernglas deutlicher zu sehen, als mir lieb ist. Ich balle die freie Hand zur Faust.
Kaltmut grinst den blauen Himmel an, Rücken gerade, Gesinnung schief. Man sollte ihm auch ein Modul einsetzen und ein bisschen was ... einprogrammieren. »Ethisch nicht vertretbar«, sagen die Politiker. Pah! Die haben ja auch nicht die Kacke vor dem Haus.
Ich hinke zum anderen Fenster. Kaltmut hat die Straßenseite gewechselt. Ich darf ihn nicht aus den Augen verlieren. Gleich wird er Frau Löser begegnen, die welkes Laub aus ihrer Vorgarten-Hecke pult.
Vorsichtig kippe ich das Fenster, um den Schall herein zu lassen. Gleich, gleich ...
Frau Löser sieht auf, Kaltmut marschiert wortlos an ihr vorbei, Wotan hinterher. Die Blicke von Frau und Hund kreuzen sich ... Wotan kläfft den Hitlergruß.
Frau Löser keift, ich schließe das Fenster. Habe genug gehört.
Fast alle Neonazis hier im Vorort haben ihren Hunden den Hitlergruß einprogrammiert, weil das Gesetz gegen verfassungsfeindliche Symbole nicht ganz eindeutig formuliert ist: Tiere sind für ihr Handeln nicht verantwortlich zu machen, meinte das Landgericht in erster Instanz, weil es keinen blassen Schimmer hat, wie die Module funktionieren.
Das »Heil« klingt gekläfft ziemlich authentisch, bloß das erhobene Pfötchen wirkt nicht besonders überzeugend.


Nacht.
Die Nacht schützt davor, gesehen zu werden. Es sei denn, jemand hat ein Infrarot-Sichtgerät. So wie ich.
Diese klobige Brille hab ich beim Einsatz in Afghanistan mitgehen lassen, genau wie die dicken Socken.
Ich schaue nach links, nach rechts ... kein Mensch auf der Straße.
Ganz in schwarz gekleidet, komme ich hinter meinem Mülleimer hervor, steige über Wotans Haufen, eile hinüber auf die andere Straßenseite, so schnell ich mit dem Gehstock kann.
Kaltmut hat einen Bewegungssensor an seiner Haustür, aber da muss ich gar nicht hin. Die Lücke zwischen seinem Wagen und dem Garagentor genügt. Wotan schläft hinter der Haustür, das sind keine fünf Meter.
Geräuschlos lasse ich mich auf den kühlen Boden sinken und packe den Pico-Computer aus. Display-Helligkeit auf Minimal, Funknetz an, Suche Start.
Wotans Modul erscheint als blinkender Schlüssel. Ich tippe auf das Display und starte den Crack. Sekunden später bin ich drin. Hundemodule müssen bei Aldi für 9,95 zu haben sein, also sparen sie an der Kryptographie.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich die Befehlssequenzen überfliege. Die Module funktionieren visuell, obwohl Hunde Nasentiere sind – aber Software mit Geruchserkennung kriegen die Entwickler noch nicht hin.
Neben einem unscharfen Schwarzweißfoto steht der vordefinierte Befehl »Stuhlgang«. Das Foto zeigt meinen Mülleimer. Im Auslieferungszustand befindet sich an dieser Stelle das Bild einer ganz normalen Toilette - ein Kinderspiel für jedes Herrchen, die Grafik auszutauschen.
Ich gehe die Liste weiter durch, kraule dabei meinen Kinnbart.
Der Sandkasten auf dem Spielplatz: Urinieren.
Ein Foto von Frau Löser: Kläffe »Heil Hitler«.
Ein Foto von Herrchens Penis ...
Ach du meine Güte.


Frau Löser ist mit Duschen fertig, sie verlässt das Bad und ich klinke mich aus der Übertragung der Überwachungskamera aus. Ihr Mann hat die installiert. Er hat es nicht mehr geschafft, sie zu entfernen, der Krebs war schneller.
Langsam wird es hell. Ich mag die späte Dämmerung des Herbstes, bin lange vor der Sonne wach.
Der größte Teil meines Lebens besteht aus Warten. Auf eine Mail von den Kindern, auf »Wer wird Millionär?«, auf Frau Lösers tägliche Dusche, auf den Krankenwagen.
Es ist Zeit für meinen Cocktail. Ich hinke am Schrank entlang, in die Küche. Der Injektor liegt auf der Mikrowelle. Ansetzen, Zähne zusammenbeißen, Schuss. Wieder das Ende um Stunden, Minuten, Sekunden hinausgeschoben, das Warten verlängert.
Ich setze mich an den Küchentisch, neben das Fenster. Im Webradio läuft »Hot Days«, ein Popsong aus den Zwanzigern. Meine Hand wackelt. Als wäre sie nicht richtig festgeschraubt. Ausgeleierter Körper, schlaff, faltig, aber Lebenselexier in den Adern, Flausen im Kopf, seit über 90 Jahren.
Der Song verklingt, wird durch ein lauter werdendes Geräusch ersetzt. Es ist ein Martinshorn.
Endlich. Der Krankenwagen. Das Warten hat ein Ende.
Ich greife nach dem Fernglas und schiebe den Vorhang etwas zur Seite. Mein Spiegelbild im Fenster zeigt faltige Zufriedenheit.
Kurz darauf tragen sie den Neonazi aus seinem Haus. Er quiekt irgendwas, deutlich sprechen konnte er noch nie.
Als der Notarzt Richtung Krankenhaus düst, lehne ich mich zurück.
»Kack keinem ollen Hacker vor die Tür«, sage ich zu meinem Spiegelbild, und es lacht, lacht, lacht.

Thema des Monats Januar+Februar 2007: Täuschung

 

Hallo Uwe!

Stilistisch wohlbekannt hervorragend, und die Idee finde ich auch sehr gut. Aber der enthaltene Humor erreicht mich nicht. Keine Ahnung, wieso, aber er tut es einfach nicht. Daher fand ich es inhaltlich ein wenig zu platt. Und dabei sind deine Ideen - wie gesagt - sehr gut.

Hundemodule müssen bei Aldi für 9,95 zu haben sein, also sparen sie an der Kryptographie.
Welch beruhigender Gedanke, dass es Aldi auch noch in Zukunft geben wird - und immer noch seine Sonderangebote vertreibt. :)

Beste Grüße

Nothlia

 

Hi Leute,

freut mich, dass euch dieser kleine, zynische Ausfall einigermaßen gefallen hat!
Ich wollte die recht simple Idee nicht überstrapazieren und habe daher eine bissige Sehrkurzgeschichte draus gemacht. Tiefgang war nicht beabsichtigt, höchstens zwischen den Zeilen kann man hier oder da etwas herauslesen, z.B. über den gelangweilten, uralten Protagonisten. Der ist ja alles andere als positiv dargestellt - vielleicht ein Grund dafür, dass eine Distanz zwischen euch und ihm bleibt.
Humor, Nothlia, ist nicht viel drin; war aber auch nicht so gedacht. Es sind eher der Zynismus und die unverhohlene Bösartigkeit der Figuren, die manche Zeitgenossen amüsieren (mich zum Beispiel ;) ).

@Z-P: Längere Geschichten von mir, d.h. ab Novellen- bis Romanlänge, sind a) rar, weil mir dazu die Zeit fehlt und b) nicht auf kg.de, weil sie nicht hierher gehören. Veröffentlicht ist die Longstory "Teufe 805" in Nova 10 (nova-sf.de); in Nova 12 kommt eine weitere. Ein Nova-Abo lohnt sich nicht nur deswegen ;) ... Roman ist in Arbeit - ob und wo er veröffentlicht wird, steht freilich in den Sternen.

Danke nochmal für eure Kommentare!

:cool:

 

So Uwe, noch ein Schnellschuß von mir, bevor ich mich ans Packen mache und für eine Woche aus dieser Welt verschwinde...

Super Geschichte, kurz und scharf angebraten und trotzdem innen noch rosig.
Das einzige Knorpelstück ist dieses ominöse Lebenselexir (ob das nun Sanostol, Aspirin+C flüssig oder Nordhäuser Doppelkorn ist:D ). Der alte Knacker (pardon: Hacker) kann doch auch ohne seine Tropfen so alt geworden sein. Das bringt auf einmal so ein merkwürdig pseudomystisches und todernstes Je-ne-sais-quoi auf.
Naja, hat trotzdem geschmeckt;) .

Also bis die Tage:schiel:

omno

PS: Aufruf an die Gemeinde: Wir brauchen noch viel mehr Geschichten, in denen Pittbulls ihren Nazis die Eier masakrieren:baddevil: !!!

 

Irgendwie beruhigend: Auch in 50 Jahren wird es Aldi, „Wer wird Millionär?“ und Leute geben, die aus lauter Langweile nichts anderes zu tu haben, als andere Leute zu bespitzeln – natürlich hinter der Gardine stehend. 50 Jahre und es gibt nichts als frei programmierbare Hunde samt Nazis und Frauen, die nicht duschen können, ohne von Voyeuren - eigener Mann eingeschlossen - beobachtet zu werden.
Alles wie gehabt, die Geschichte also absolut glaubhaft, mit kleinen Zuckerln wie „Ethisch nicht vertretbar“ für Genmanipulationen, „Hot Days“ für das Klimawandel, und „Hitlergruß“ für die Neonazis, die sonderbarerweise auch nach einem weiteren halben Jahrhundert so heißen, obwohl sie immer schon nur Nazis waren.
Doch davon abgesehen, Uwe, in deiner Geschichte sollten wir uns wohl erkennen, und wenn jetzt jemand sagt, diese Aussicht auf die Zukunft sei zu düster, der Mensch wird dann weiter, d.h. nicht so sein wie heute, dann kann man dem nur entgegnen: Schau zurück, vor 50, ja 500 Jahren handelten die Menschen genauso wie in dieser Geschichte.
Dies in einer Geschichte aufzuzeigen – wenn auch aufgrund der Kürze nicht in dieser Deutlichkeit -, ohne das explizit zu sagen oder den Zeigefinger zu erheben, das ist Kunst. Kompliment.

Dion

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Uwe,

stilistisch sehr elegant geschrieben, diese Geschichte. Der technische Teil wirkt glaubhaft, der biologische nicht, schon weil ein Hund nicht den Stimmapparat hat, um den Hitlergruß zu artikulieren. Und dass Lukas Kalmut sich von seinem Hund einen blasen lässt ... Ich bitte Dich!

Wenn diese beiden Dinge "normaler" wären, wäre die Geschichte noch besser.

*die Hacken zusammenschlag*

Fritz

 

Fritz.

1. klingt der Hitlergruß wie ein Kläffen. Es ist also die durch moduliertes Kläffen am besten erreichbare Annäherung an den Hitlergruß, und die klingt ... gekläfft. Klar? :shy:

2. es ist auch heute schon so, dass sich Leute von einem Hund einen blasen lassen, bloß dank alleinigen Verlassens auf Pawlowsche Erziehung etwas riskanter. Wenn Du willst, schicke ich Dir ein entsprechendes Amateurvideo, das mir vor Monaten im Internet über den Weg laufen zu müssen meinte.

@Dion: Mich freuen Deine Worte besonders, weil ich genau diese kleinbürgerliche Normalität in die Zukunft projizieren wollte. Die wird sich nicht so leicht ändern. Auch die Einsamkeit im Alter ist übrigens ein Unterthema, das oft unterschätzt wird, gerade in der SF unter lebensverlängernden Umständen.

 

Morgen Uwe,

ich find die Geschichte grandios. Ich meine, Mod-Chips für Hunde? Wie geil ist das denn?
Ich hab ja schon mal eine Geschichte als Antwort auf die Frage "Was werde ich in 70 Jahren sein?" geschrieben - 20 Zeilen Code. Das hier ist die Antwort auf die Frage "Was werde ich in 60 Jahren sein?"

Gut!
Naut

 

Gotän Morgän!

Jaawohl, däm kann äch mäch nor anschlääßen! Sprätzäge Störri - klain, fain, ond sähr böösä! *igendwas mit der rechten Hand mach*

Zackäge Gröööße!

 

Hallo Uwe,

kann mich dem lobenden Ton nur anschließen. Hat mir sehr gut gefallen, deine Geschichte. Ich fand deine Beschreibungen sehr anschaulich, die "kleinbürgerliche Normalität" wirkt sehr plastisch, ich kam mir beinahe selbst wie ein Spanner vor ;)
Den Aspekt, den Dion angeführt hat, kann ich nur unterstreichen. Wenn diese "Übertragung" wirklich dein Anliegen war, bleibt mir nur mein Hut zu ziehen.
Über die Möglichkeiten des Hundeschiss', äh Hundechips will ich mich gar nicht weiter auslassen. Möglich oder nicht, in der Art und Weise wie du es eingebaut hast, passt es außerordentlich gut.

grüßlichst
weltenläufer

 

Jau, freut mich ganz besonders, dass diese Story soviel Anklang findet.

Sehr wahrscheinlich werdet ihr sie beim Dort.Con im Rahmen der CyberLive-Show zu hören bekommen.

 

Hi Uwe,
Haut mich nicht gerade vom Hocker.
Ein Normalo-Nazi programmiert einem Dämel-Nazi den Hund so um, dass er ihn den kleinen Adolf abknipst.
Und?

Außerdem ein Fehler, den ich bei Dir nicht erwartethabe:
Geruchserkennung ist einfacher, als optische Erkennung, da Gerüche eher die Zusammensetzung von singulären Signalen sind und schon heute mit Sensoren besser erfasst und dann auch besser ausgewertet werden können.
So funktionieren Geruchserkennungssysteme an Flughäfen seit Jahren, mit der Gesichtserkennung tut man sich da viel schwerer...

Proxi

PS: Wir haben hier einen Papagei, der “Vivir Franco” tschilpt und einen (deutschen) Schäferhund in einer (deutschen) Kneipe, der nur auf Mahgreb-Gäste anschlägt.

 

Also, das mit der Geruchserkennung - was die Sensoren messen, sind ja chemische Eigenschaften (verbesser mich, wenn ich was falsches sage). Da Wotans Modul aber keinen solchen Sensor besitzt, ist er darauf angewiesen, Signale des Hirns auszuwerten. Und in diesem Kontext, so habe ich einfach mal unterstellt, kommen die Software-Entwickler mit den olfaktorischen Reizen nicht ganz klar.

Warum bezeichnest Du den Protagonisten als Nazi?

 

Weil er wie einer handelt.
Denn die kleinen, kahlrasierten Spinner, die sich aus der braunen Requisitenkiste sind so echt, wie viele Storys hier im SF bereich. Ausser dem Schein kein weiteres Sein.
(Ich hatte mal berufsbedingt mit solchen Typen zu tun. Die haben auf meine Frage nach den drei groessten Deutschen auch schon mal mit: Hitler, Marx und Einstein (2xJude, einmal Oestereich (sorry an LE (*g*)) geantwortet).
Die sind so echt, wie ein 233,- Euroschein.
Da hat der Alte echt mehr Naziqualitaet. Dem traue ich locker die Aufsicht bei der Selektion zu. Der kleine dumme Pisser wuerde sich doch am Guckloch zur Gaskammer in die Hose scheissen und nach Mami rufen.
Proxi

 
Zuletzt bearbeitet:

Nun, vielleicht einigen wir uns darauf, dass der Alte sich nicht wie ein Nazi fühlt, aber selbstverständlich genau die Oberflächlichkeit in der Beurteilung anderer erkennen lässt, die Du meinst. Das ist auch durchaus so gewollt; eine tiefere Aussage gibt es sowieso nicht - hier wird einfach ein bisschen spießiges Nazi-Bashing betrieben. Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Phänomen bleibe ich in der Tat (vorerst) schuldig. Dazu fehlt mir schlicht und einfach das Fachwissen, das nicht weit über das hinaus geht, was in diversen Medien publiziert wird und was Du in obigem Posting schreibst: Mehr Schein als Sein.

Wobei ich allein schon den "Schein" ziemlich daneben finde. Stört irgendwie das Stadtbild, finde ich :D

 

Ich muss noch ein bisschen dran arbeiten. Ich hatte nämlich vor dem Con mehr Ideen als Zeit :D

 

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