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Der Arzt (3) - Der Ring von Agrinol
Die leicht bucklige Gestalt von der Größe eines Lin bewegte sich mit übertriebener Vorsicht durch das elegant und reich ausgestattete Gemach. Mal sah sie hierhin, schnüffelte dann in der Luft, zischelte etwas vor sich hin und stellte die gut zwei Hände langen, spitzen Ohren auf. Als sie kein Geräusch vernahm, schlich sie mit betont unauffälligen Trippelschritten durchs Zimmer und nutzte dabei jede sich bietende Deckung, ohne dabei den Blicken verborgen zu bleiben. Hinter einem bequem aussehenden, hohen Sessel verweilte sie einen Moment und lugte über die Rückenlehne. Das Flackern der Öllampen spiegelte sich in gelben Augen und ließ die dunkelgrüne Haut alt und grau erscheinen. Schmutzig-faulige, aber sehr spitze Zähne kamen zum Vorschein, als die Kreatur zischelnd lachte. Dann huschte sie unerwartet behende hinüber zu dem herrschaftlich anmutenden Bett mit Baldachin und tauchte flink darunter, als sich die Tür öffnete und Stimmen zu hören waren.
„Ich danke Euch, Kapraun“, sagte die eintretende Frau und verabschiedete jemanden, der die Uniform einer Garde trug. Der Mann verneigte sich tief und schloss die Tür leise. Mit einem Seufzer der Erleichterung drehte sich die Frau um. Sie war in ein Ballkleid gehüllt, dessen Wert eine normale Familie über Monate am Leben hätte halten können. Ihr Blick schweifte durch den Raum, ruhte auf den gewaltigen Vorhängen, welche die Fenster verhüllten, da es bereits Nacht geworden war, wanderte dann zu einem kleinen Tisch inmitten des Raumes und bewegte sich zu dem nahe daran stehenden Sessel, hinter dem sich der heimliche Besucher eben kurzzeitig versteckt hatte. Ihre Schritte verursachten auf dem dicken Flor des Teppichs keinerlei Geräusch und nur das Rascheln ihres Kleides war zu hören. Sie schenkte sich ein wenig Wein aus einer Karaffe in einen goldenen Pokal, nahm Platz und nippte daran.
Die Spitzen zweier grünlicher Ohren lugten hinter dem Bett hervor. Nur gut vier Schritte trennten den Besucher von der Frau und die legte er flink und leise zurück. Mit einer, für den buckligen Körper unerwartet galanten Verbeugung rückte er sich in das Gesichtsfeld der Frau, die nicht einmal ansatzweise erschrocken war. Die Kreatur erhob sich und sah die Menschenfrau ausdruckslos an, ein Ohr zuckte in Richtung Türe.
„Sieh an“, meinte die Frau und stellte den Pokal zurück auf den Tisch. „Mein getreuer Recke ist zurück. Mit guten Nachrichten hoffentlich.“ Sie lehnte sich entspannt und mit dem Anflug eines Lächelns zurück, so als sei es die natürlichste Sache der Welt, dass sich eine solche Gestalt in ihren Gemächern aufhielt.
„Gewiss.“ Die grünliche Gestalt zischelte, trat vergnügt von einem Bein auf das andere, und entblößte gelbliche Fangzähne.
„Wirklich, Gish“, mahnte die Frau und wedelte mit einem kleinen Stofftuch vor ihrem Gesicht herum, „Ihr solltet ein wenig mehr Aufmerksamkeit auf die Pflege eurer Erscheinung legen.“
Gish lachte hämisch und mit einer ebenso eleganten wie gefährlich schnellen Bewegung brachte er einen unterarmlangen Dolch hervor. Die Spitze kam etwa eine Hand breit vor dem Gesicht der Frau zum Halt. Dann wirbelte er den Dolch herum und hielt ihn ihr an der Klinge, Heft voran, entgegen. Er fixierte sein Gegenüber mit interessiertem Blick, konnte aber keine Angst oder Überraschung ausmachen. Er knurrte ungehalten.
„Der Dolch“, stellte er sachlich und ohne jede Emotion fest und zog ein wenig die Schultern in die Höhe, „nach dem Ihr verlangt habt. Ich habe ihn an der Stelle gefunden, die Ihr mir beschrieben habt, Lady Jaran.“
Jaran hielt dem Blick der Kreatur stand und brachte es sogar fertig, ein hämisches Grinsen in ihren linken Mundwinkel zu produzieren. Auch, wenn sie genau wusste, dass es sinnlos war, Gish etwas vorzumachen, genoss sie diese Spielchen.
„Ich hoffe doch sehr, dass Ihr Euch genau an meine Anweisungen gehalten habt. Gish?“
Sie ergriff das Heft des Dolches und zog ihn vorsichtig aus seiner Hand.
„Gewiss.“ Gish huschte unglaublich schnell durch den Raum und lauschte für einen Augenblick mit einer völlig übertriebenen Geste an der Türe, bevor er sie verschloss. „Doch wenn Ihr einen Rat annehmen wollt,“ säuselte er, „dann solltet Ihr nicht mit dem Gedanken spielen, Euren Gatten, den König, damit zu meucheln.“
Er schlich mehr als er ging zu dem Tisch zurück und setzte eine betont verschlagene Miene auf. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, auf dem dichten Flor des Teppichs zu schleichen.
„Denkt Ihr, es steht Euch zu, mich zu belehren?“ Lady Jaran erhob sich und blickte auf die einen Kopf kleinere Gestalt herab. Den unverhohlenen Zorn musste sie nicht spielen. Sie war es gewohnt, dass man ihr gehorchte.
„Oh“, antwortete Gish rasch und wedelte mit einem spindeldürren und langen Zeigefinger vor seinem Gesicht herum. „Ich sehe, Ihr habt mir nicht zugehört, als ich Euch von den Dingen berichtete, die Euren Gatten schützen. Keine Waffe, noch so wohl geschmiedet, noch so reich besprochen, vermag ihn zu verletzen, solange er dem Bann des Hauses Agrinol unterliegt.“
„Ja ja ...“ Die Lady winkte lässig ab. „Ich habe Eueren Worten wohl gelauscht, Gish. Und deshalb erteilte ich Euch den Auftrag eben diesen Dolch zu beschaffen. Er wurde lange vor der Zeit des Hauses Agrinol in den Schmieden des Lichts geschaffen.“ Sie streckte den Dolch zur Decke hoch und lachte ein hämisches Lachen.
Gish beobachtete sie aufmerksam und lächelte ebenfalls.
„Sicher, Lady Jaran. Doch bedenkt, dass derjenige, welcher den Bann wirkte, sehr wohl gewusst haben mag, dass eine solche Waffe existiert. Und hätte er dann nicht entweder dafür gesorgt, den Bann entweder so zu wirken, dass auch diese Waffe nichts anrichten wird, oder eben diesen Dolch aus der Welt oder zumindest an einen Ort verbracht, der nicht so einfach zugänglich ist?“
Während Gish den Sessel umstrich und mit den Nägeln einer Klaue kratzend über die Kopflehne strich, schlich sich der Hauch eines Zweifels ins Gesicht der Lady.
„Harkan wurde damit ermordet ...“, erwiderte sie, nun mit deutlichem Zweifel in der Stimme. Ihr Blick folgte dem umherstreifenden Gish, dessen Aufmerksamkeit eher dem feinen Tuch, als der Lady zu gelten schien.
„Gewiss“, antwortete dieser mit ironischem Unterton. „Deshalb habe ich den Dolch auch in seinem Sarkophag gefunden.“ Er hockte sich vor dem Tisch auf seine Fersen und tauchte den Mittelfinger der linken Hand in den Pokal, zog ihn, benetzt von Wein, wieder hervor, betrachtete ihn einen Augenblick und leckte ihn dann mit seiner spitzen Zunge ab, bevor sein Blick sich stirnrunzelnd wieder seiner Gesprächspartnerin zuwandte. „Und was sagt Euch das, wenn wir voraussetzen, dass der Dolch selbst den Bann nicht brechen kann?“
Lady Jaran sah Gish nachdenklich an. „Harkan war nicht durch den Bann geschützt.“
„Gewiss. Und weiter?“
„Ich kann Euch nicht folgen“, entgegnete Jaran unwirsch. „Ich zahle Euch nicht, damit Ihr Rätsel aufgebt, sondern dass Ihr sie löst!“
„Gewiss. Vergebt mir ...“, konterte Gish schnell und neigte kurz sein haarloses Haupt. „Wenn also Harkan nicht durch den Bann geschützt war, Euer Gatte aber ebenso wie andere Herrscher des Hauses, so ist der Bann in einem Ding, das derjenige, welcher geschützt werden soll, bei sich tragen muss. Die Frage also ist, was trug Harkan nicht bei sich, das Euer Gatte bei sich trägt und niemals ablegt?“
„Gish!“ Jaran war kurz davor vollends die Fassung zu verlieren und starrte die Gestalt nach der theatralischen Umrundung eines Sitzmöbels betont durchdringend an. „Was ist es!?“
„Psssst“, mahnte der Grünhäutige die Lady und hob beschwichtigend beide Hände. „Ihr wisst es nicht, so Ihr doch das Bett mehr als einmal mit ihm geteilt habt?“ Die Häme war nun offensichtlich. Doch bevor sie etwas entgegnen konnte fuhr Gish fort: „Der Ring! Der Ring von Agrinol, geschaffen durch den Erzmagier Pagaris. Einmal übergestreift lässt er sich nicht mehr entfernen, bis der Tod eintritt.“
Lady Jaran wirkte höchst überrascht, fasste sich mit der rechten Hand an die Brust und trat theatralisch einen halben Schritt zurück. „Der Ring?“
Gish nickte kurz und sein linkes Ohr zuckte.
„Der Ring ...“, konstatierte er tonlos, erhob dann aber die Stimme. „Nicht irgendein Ring! Nein, nein ... Der Ring von Agrinol.“
Applaus brandete auf, als der Vorhang fiel und damit den ersten Akt des Schauspiels beendete. Das Publikum tobte und viele der anwesenden Lin riefen Beifallsbekundungen durcheinander. Razzun war schwer beeindruckt von dem Detailreichtum in der Bühnenausstattung, den Gewandungen und der Maske, die einen Lin in die abscheuliche Kreatur Gish verwandelt hatte.
*****
Lin galten landauf landab als unzuverlässige Gauner und Betrüger, Diebe und Mörder, die in einer verwahrlosten und heruntergekommenen Stadt hausten, die man ihnen vor einer halben Ewigkeit einmal überlassen hatte. Der menschliche Arzt Razzun war – auf der Flucht vor einem nachtragenden Ehegatten, dessen Frau er nicht hatte retten können - vor fast drei Jahren in der Lin-Metropole Dahenn eingetroffen und sah sich einerseits in vielen bekannten Vorurteilen über die Lin bestätigt, musste aber seine Meinung deutlich ändern, denn in Dahenn ließ es sich deutlich einfacher leben, als er erwartet hatte. Zudem erwiesen sich die Lin alles andere als unzivilisiert, sondern waren in fast jeder Hinsicht auf dem aktuellen Stand der bekannten Wissenschaften. Da es einen deutlichen Mangel an Ärzten gab, hatte der brillante Razzun gute Karten, wurde schnell akzeptiert und hatte sich inzwischen in Dahenn eingerichtet. Inmitten einer Stadt von Meuchlern und Dieben fühlte er sich ziemlich sicher, auch wenn ihm klar war, dass seine Häscher, die im Auftrag des nachtragenden Witwers auf seiner Spur blieben, noch immer in der Stadt weilten. Für sie war es alles andere als einfach, denn mitten unter Lin fielen sie auf wie ein Fluss in der Wüste und die Daykîn, eine Schutztruppe der Lin, wachte auf Anordnung von Qwerlin ganz besonders über das Wohlergehen des Arztes.
Neben den vielen Dingen, die Razzun in Dahenn nie erwartet hätte, war auch die kulturelle Vielfalt an Musikanten und Erzählern, Komödianten und Kabarettisten und natürlich klassisches Theater in Hülle und Fülle. Eine der gelungensten Aufführungen, die er je gesehen hatte, war das an diesem Abend unter freiem Himmel aufgeführte Stück „Der Ring von Agrinol“ aus der Feder eines des musisch sehr vielseitig begabten Mirolin, der es während der großen Kriege, in einer Zeit höchster Not für alle Völker geschrieben hatte. An diesem Abend wurde es wundervoll und akribisch in Szene gesetzt.
Auch Razzun war völlig aus dem Häuschen und applaudierte heftig. Shiniia stand neben ihm und freute sich ebenfalls über die Abwechslung. Für den Menschen völlig unerwartet war sie nicht in ihrer Arbeitskleidung, sondern in einem weiten, kurzärmeligen Hemd aus cremefarbenem, seidenartigem Stoff und einer schlaksigen Hose aus einem rauen Material, die gut zwei Hand breit über dem Knöchel endete, bei ihm aufgetaucht, um ihn zu der Aufführung zu begleiten. Die Elfe schien sichtlich erfreut und ein wenig gelöster als sonst, trotzdem lugte unter dem langen Hemd immer mal wieder die Schneide des leicht gebogenen Kampfmessers hervor, das sie so bevorzugte. Razzun vermied es, sie darauf anzusprechen, obwohl für seine Sicherheit ausreichend gesorgt war, denn zwei andere Daykîn folgten dem Paar auf dem Weg zum Amphitheater der Stadt.
Der Abend war wunderschön und die tagsüber sengende Sonne verabschiedete sich langsam hinter den nordwestlichen Klippen des Schelfs, und der abendliche Wind vom weit tiefer gelegenen Meer trug ein wenig Kühlung heran. Am nahen Rand des Schelfs konnte man trotz der Entfernung mit bloßem Auge den Kampf der Elemente bewundern, denn die drastischen thermischen Unterschiede ließen gewaltige Wolkengebilde entstehen, die aber nicht weiter in die Wüste des Plateaus vordrangen. Am Rande des Schelfs mochte es regnen, bis nach Dahenn gelangten die Wolken jedoch nur selten. Wasserwagen fuhren, von Pehas langsam gezogen, durch die Straßen der Lin-Metropole und versprühten das kostbare Nass, um Schmutz und feinen Sand zu binden und in die Kanalisation zu spülen. Eine Maßnahme, die Razzun sich in so manch anderer Großstadt gewünscht hätte. Die Lin grüßten den ihnen inzwischen bekannten Arzt freundlich mit den üblichen Gesten oder blieben auch auf einen kurzen Schwatz stehen, ein anderes Paar schloss sich ihnen an, da sie ebenfalls auf dem Weg zur Vorstellung waren. Die in schwarz gekleideten und komplett verhüllten Daykîn blieben etwa zehn Schritte zurück und achteten aufmerksam auf die Umgebung, schon weil Shiniia dabei war, die selbst zu den Daykîn gehörte. Auch wenn dies offiziell niemand wissen sollte.
Die Daykîn schützten die Lin und opferten sich im Notfall für das Wohl der Schutzbefohlenen oder auch aller anderen Lin. Shiniia war die einzige Nicht-Lin unter den Daykîn, soweit Razzun wusste, und die beiden hatten schon sehr früh eine mindestens freundschaftliche Beziehung geschlossen. Ihre Bekanntschaft zum Anführer der Schutztruppe machte sie zu etwas Besonderem, nicht nur für die ihnen folgenden Daykîn, sondern auch für Razzun, der darüber Bescheid wusste, da er sie vor dem sicheren Tod gerettet hatte, als sie sich eine massive Wundinfektion zuzog. Selbstverständlich sprach er nicht darüber, wenn er auch nicht verstand, warum die Daykîn unbedingt eine Geheimorganisation sein mussten, da sowieso so ziemlich jeder Bescheid zu wissen schien, wer dazugehörte.
Solange er auch schon in Dahenn weilte, hatte er doch nur einen Bruchteil von dem erfasst, was es ausmachte, ein Lin zu sein. Nicht selten führte das zu Auseinandersetzungen mit Shiniia, die von klein auf unter den Lin in Dahenn aufgewachsen war. Aber heute Abend war Unterhaltung angesagt, im Amphitheater der Stadt wurde ein Stück aus der Feder eines Lin gegeben und Razzun war außerordentlich neugierig. Es war nicht davon auszugehen, dass irgendwo sonst das Stück eines Lin aufgeführt werden würde und Razzun hatte auch noch nie vorher von „Gish und der Ring von Agrinol“ gehört.
***
Langsam schritten sie über die Allee der Schatten hinunter in Richtung Altstadt, wo sich das große Amphitheater befand. Die Gebäude ragten hier bis zu vier Stockwerke hinauf und die in hellen Tönen gehaltenen Farben der Fassaden erinnerten Razzun an so manche reiche Hafenstadt in den Ländern der Elfen weiter südlich. Jedes der herrschaftlich anmutenden Häuser mit Simsen und Verzierungen, Wasserspeiern der unterschiedlichsten Arten, bei denen man gelegentlich nur hoffen konnte, dass sie nur einer Fabel entsprungen sein mochten, war mit Stangen ausgestattet, die an den Bugspriet der Schiffe erinnerten. Daran befestigten die Bewohner Sonnensegel, welche die Fassade vor den sengenden Strahlen schützten und später am Tag dann auch Schatten auf die Straße warfen, um die noch jungen Bäume zu unterstützen.
Ein leichter Wind bewegte die noch immer flirrende Hitze und verursachte ein dezentes Rascheln in den rispenähnlichen Blättern der Nari-Bäume. Einige der Sonnensegel bewegten sich träge und gaben dumpfe, klatschende Geräusche von sich. Hier und dort hörte man Stimmen, aber es waren erst sehr wenige Lin auf den Straßen unterwegs. Es war auch für die Einheimischen eine große Herausforderung, sich im Sommer tagsüber auf die Straße zu wagen, wenn die Temperaturen unerträgliche Höhen erklommen und die sengenden Strahlen der Sonne alles Leben ausgelöscht zu haben schienen.
Trotz der noch immer anhaltenden Hitze war es heute anders. Auf verschiedenen Straßen näherten sich zahllose Lin und andere Bewohner der Stadt sowie Besucher dem im Norden der Altstadt gelegenen Amphitheater, um dem Spektakel beizuwohnen. Die Aufführung begann erst gut eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit, und so war ausreichend Zeit, sich Darbietungen von Schaustellern oder den zahlreich dargebotenen Leckereien zu widmen. Viele zogen es auch vor, ein kleines Abendessen zu sich zu nehmen, andere frönten erneut dem einen oder anderen Weine. Es herrschte ein munteres Treiben wie auf einem Jahrmarkt.
Zu den hinter Shiniia und Razzun befindlichen Daykîn hatten sich zwei weitere gesellt, um die Beiden zu flankieren. Argwöhnisch beobachteten sie die Menge und hatten mindestens eine Hand an der Waffe. Razzun hatte in seiner Begeisterung beinahe vergessen, dass noch immer zwei – vielleicht auch mehr – Gestalten in Dahenn unterwegs waren, die ihn im Auftrag eines ehemaligen Kunden aus dem Weg schaffen sollten. Insgeheim hatte er sich immer die Frage gestellt, warum die Daykîn oder andere der Lin-Banden den Häschern nicht sowieso schon den Garaus gemacht hatten, um Kleidung und mitgeführte Gegenstände anderweitig zu verwerten. Shiniia hatte auf diese Frage hin einmal mit den Schultern gezuckt und dann die unter Lin übliche eindeutige Geste gemacht, die bedeutete, dass wohl Geld im Spiel sein mochte. Allerdings konnte der Betrag nie so hoch sein, dass sich ein Lin gegen die Anweisung des alten Qwerlin selbst um Razzuns Ableben gekümmert hätte. Offensichtlich hatten die Kopfgeldjäger aber mindestens so viele Lin bestochen, dass sie sich noch immer einigermaßen frei in Dahenn bewegen konnten. Razzun hatte Schwierigkeiten damit, sich vorzustellen, dass die Daykîn bestechlich waren. Aber der gesamte Zusammenhang war eines der vielen Mysterien, die sich dem Arzt noch nicht erschlossen. Und so genoss er den Abend, insbesondere, da Shiniia ihn begleitete, und legte all seine Hoffnung und sein Vertrauen in die Tatsache, dass seine Häscher nicht so verrückt sein würden, ihn in Begleitung von Daykîn anzugreifen.
*****
In Grüppchen und laut schwatzend begab man sich in der Pause zu den rings um das Theater errichteten Verkaufsständen, um Erfrischungen oder einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen. In dem Durcheinander kam man sich zwangsläufig näher und die Daykîn um Razzun und Shiniia hatten alle Hände voll zu tun, ein wenig Abstand zwischen Arzt und Umfeld zu erhalten. Außer, dass viele Lin die Nähe Razzuns suchten, da dies natürlich auch mehr oder weniger eine gewisse Nähe zu dem einflussreichen Qwerlin herstellte, gab es außer kleineren Streitereien keine besonderen Ereignisse, bis es – kaum zwei Schritte von der Gruppe um Razzun entfernt - jemanden von den Beinen riss. Mit einem dumpfen Krachen schlug ein Pfeil in den Kopf eines älteren Lin ein. Der Einschlag war so heftig, dass der Schädelknochen nachgab und Blut und Hirnmasse auf die Umstehenden verteilte wurde. Der tödlich getroffene Halilin hatte mit Sicherheit nichts mehr gespürt und wurde in die umstehenden Personen geworfen, wo er dann zusammenbrach.
Inmitten des Gekreisches und der entstehenden Panik versuchte Razzun zunächst, nach dem getroffenen Lin zu sehen, wurde aber von Shiniia schroff zurückgerissen. Sie legte den linken Arm um seine Schulter und drückte ihn in die Knie, damit er nicht mehr so ein deutliches Ziel bildete. Die Elfe hatte keinen Zweifel, wem der Pfeil eigentlich gegolten hatte. Zwei weitere Daykîn hatten sich um die Beiden postiert und boten mit ihren Körpern Deckung, während sie gleichzeitig die Dächer der umliegenden Häuser mit ihren Blicken absuchten. Shiniia brüllte völlig überflüssige Befehle, denn die anderen Daykîn waren bereits im Sprint durch die Menge in die Richtung unterwegs, aus welcher der Pfeil ziemlich wahrscheinlich gekommen war. Viele Lin hatten sich hinter Ständen oder an Häusern, unter Bäumen oder neben Statuen in Sicherheit gebracht, eine Panik blieb jedoch aus. So unüblich war die Aktion dann doch wieder nicht und weitere Pfeile blieben aus.
Qwerlin schritt mit drei Begleitern durch den freien Kreis, der sich um den toten Halilin gebildet hatte und betrachtete die Leiche eine Weile, während sich die anderen Lin betont lässig umsahen. Sie bildeten dort ein wundervolles Ziel, aber auch ihnen war klar, dass der Anschlag einerseits sicherlich nicht dem völlig verkalkten und harmlosen Halilin gegolten hatte und andererseits der Schütze nicht so verrückt sein konnte, seine Position zu halten und weitere Pfeile abzufeuern. Ein wenig Ungewissheit blieb, aber Lin gingen damit entspannter um, als dies bei anderen Völkern üblich war.
Qwerlin holte tief Luft und atmete ebenso betont aus, während er weiter auf Halilin starrte. Dann zupfte er sein flammrotes, weites Hemd aus leichtem Soff zurecht. Mit einem „Schafft ihn fort!“ drehte er sich um und wanderte wieder den Sitzen zu, die auf einem kleinen Podest errichtet worden waren. Eine Art Loge, die nur den wichtigen Lin vorbehalten war. Es wurde weiter getuschelt und über den Anschlag spekuliert, aber man fand auch sehr schnell andere Themen. Nur wenige Lin, die Halilin sehr nahe gestanden hatten, drückten eine Träne weg.
Zwei Bühnenarbeiter machten sich murrend an die Arbeit, den Körper in ein Tuch einzuschlagen und zu entfernen, während weitere sich darum kümmerten, herumliegende Teile des Hirns aufzusammeln und das Blut mit Wasser wegzuspülen.
Inzwisch hatte Shiniia Razzun bis an eine Hauswand geschoben und baute sich vor ihm auf, um die Umgebung genau zu inspizieren und ihn mit ihrem Körper zu schützen. Dabei kam sie ihm so nah, wie das sonst nur sehr selten geschah. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Razzun lächelte, ergriff sie vorsichtig an den Unterarmen, um sie noch ein wenig näher heranzuziehen und flüsterte ihr ein „Danke“ ins Ohr, worauf sie sich umdrehte und den Arzt ansah. Für einen ganz kurzen Augenblick huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, bevor es wieder der Konzentration wich.
„Kein guter Zeitpunkt“, kommentierte sie mit einem leichten Kopfschütteln. „Und überhaupt ist das Berühren der Daykîn verboten ...“
Er ließ sie schnell los und wunderte sich ohnehin, dass sie ihn nicht sofort mit einer schroffen Geste abgeschüttelt hatte.
„Ich dachte, du hast heute frei?“ Er hob erst mit einer kurzen abwehrenden Geste die Hände und nickte dann kurz zu einem der anderen Daykîn in schwarzer Kluft hinüber.
„Tu einfach so“, erwiderte Shiniia mit leicht sarkastischem Unterton und versetzte Razzun einen spielerischen Knuff mit der Faust in die Magengegend, „als wäre ich im Dienst oder soll ich mich erst umziehen, wenn jemand auf dich schießt?“
Er krümmte sich und verzog das Gesicht in gespieltem Schmerz.
„Komplett in Schwarz gibt’s auch mehr auszuziehen ...“ Das für einen kurzen, wirklich sehr kurzen, Moment unverschämte Grinsen auf Razzuns Gesicht wich einer erstaunlich schnell aufsteigenden und umfassenden Röte. Hatte er das jetzt wirklich gesagt?
Jemlin, einer der beiden Daykîn, die nahe genug standen, um die Unterhaltung zu hören, war heilfroh, dass er unter der Kapuze sein Grinsen nicht verbergen musste, sagte aber keinen Ton. Shiniia drehte sich langsam wieder zu dem Arzt und sah ihm direkt in die Augen. Razzun war noch immer knallrot und brachte kein Wort heraus. Die Elfe legte ihm vorsichtig den Finger auf den Mund, sagte aber nichts. Mit einem tonlosen ‚Nicht jetzt.’ drehte sie sich wieder um und konzentrierte sich auf den Platz und die hin und her laufenden Besucher des abendlichen Spektakels.
„Ein Wort, Jemlin“, wandte sie sich mit drohendem Unterton an den anderen Daykîn, ohne sich zu ihm umzudrehen, „und du wirst an unvorstellbaren Qualen sterben und das Letzte, was du zu Gesicht bekommst, wird die Schaufel sein, mit der ich dich in den Sand der Wüste vergraben habe und noch die Nase abschlage.“
„O süßer Schmerz“, murmelte Jemlin und bereute seinen Spruch in der Sekunde, in der er ihn unvorsichtigerweise von sich gegeben hatte.
Shiniia wirbelte herum und hieb mit der gestreckten, linken Hand auf die Stelle direkt oberhalb der Achsel. Nun war der Lin nicht untrainiert und er kannte durchaus das Temperament seiner Kollegin, blockte aber einen Wimpernschlag zu spät und der Schlag traf den rechten Oberarm mit voller Wucht. Er versuchte, ihren Arm zu greifen, kam aber auch hier zu spät und aus der leichten Hocke fuhr sie nach oben und die Rechte war an seiner Gurgel. Ohne weitere Gegenwehr und leise röchelnd hatte sie ihn gegen die Hauswand gerammt und dabei so weit nach oben gezogen, dass er auf den Zehenspitzen stand. Ihr dezentes Grinsen unterstrich den Sieg, von Häme war da aber keine Spur. Daykîn betrachteten das allenfalls als Training.
Razzun hatte sich an solche Aktionen gewöhnt und mischte sich ebenso wenig ein, wie die andere, schwarz vermummte Gestalt rechts von dem Arzt. Auf irgendein, dem Menschen verborgenes Zeichen oder eine Geste der Aufgabe hin, ließ sie von Jemlin ab, und widmete sich wieder dem eigentlichen Problem. Auch Jemlin nahm ohne irgendeinen Kommentar seine Position wieder ein.
Die beiden anderen Daykîn hatten ihre Positionen gewechselt, um so weitere mögliche Schussbahnen abzudecken und ebenfalls den Platz sowie auch die weiter entfernten Häuser im Auge zu behalten.
Razzun wollte gerade noch etwas sagen, als sie ein Geräusch hörten, ganz so als würde Porzellan über Stein geschoben. Shiniia spannte die Muskeln und katapultierte sich seitlich gegen Razzun, der durch die Aktion völlig überrascht wurde. Die Luft entwich aus seinen Lungen und während er seitlich unsanft auf den Boden flog und sich dabei den Arm verletzte, rauschte ein großer Krug vom Dach des Hauses herunter.
„Scheiße!“ Shiniia wurde ein wenig blasser, als sie das brennende Tuch oben im Krug sah. „Weg, weg, weg!“
Sie griff sich Razzun, der sich noch nicht erholt hatte und auch nicht so recht wusste, wie ihm geschah, und zerrte ihn weiter nach rechts und in einen Eingang hinein. Bevor sie den rettenden Hauseingang erreichten schlug der Krug mit einem lauten Krachen auf und der Rest des jetzt umherspritzenden Öls entzündete sich. Die beiden anderen Daykîn hatten die Flucht nach vorne und zur andern Seite angetreten, bekamen aber auch etwas von der brennenden Flüssigkeit ab, die dann auch die Kleidung in Brand setzte. Fluchend, aber dennoch professionell wälzten sie sich auf der Straße, um die Flammen zu ersticken.
Razzun hatte Öl an die Hose bekommen und das rechte Bein stand am Unterschenkel in Flammen. Shiniia riss sich das weit geschnittene Hemd vom Körper und erstickte die Flammen schnell, dann zerrte sie den totenbleichen Arzt weiter in den Hauseingang. Nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte sie ihre Waffe in der Hand, vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass es Razzun gut ging, und sprang auf. In dem dünnen Unterhemd wirkte sie noch attraktiver, die Arm- und Schultermuskulatur zeichnete sich deutlich ab und unterstrich, dass Daykîn zur Elite der kämpfenden Lin gehörten. Aus Razzuns Perspektive unterstrich dies noch etwas anderes, aber daran konnte er gerade nicht denken.
„Jetzt reicht’s“, brummte sie und der wachsame Blick eines Raubtieres kehrte in Gesicht zurück. Sie rief den anderen Daykîn etwas zu und drehte sich zu Razzun um. „Alles in Ordnung?“
„Ja ...“, kam es stockend. Razzun nickte kurz zur Bestätigung. „Alles in Ordnung ...“
„Bleib hier.“ Dann drehte sie auf dem Absatz um und sprintete auf den Platz hinaus, wo mehrere Lin damit beschäftigt waren, den Brand zu löschen, und andere sich erst einmal in Sicherheit brachten. Inzwischen war doch ein Tumult entstanden, denn bei allem Verständnis für Meuchelmord und sonstige Kapriolen, ging den Lin Brandstiftung dann doch zu weit. Viele der ganz alten Gebäude in Dahenn waren noch komplett aus Holz errichtet und niemand mochte sich vorstellen, was passieren würde, wenn eines davon in Brand geriet.
Razzun setzte sich mit dem Rücken an die Wand und warf einen Blick auf sein lädiertes Bein. Er diagnostizierte schnell eine leichte Verbrennung und warf dann mit Leidensmiene einen Blich auf die herumliegenden, kokelnden Stoffreste. Durch die Ruhe bemerkte er jetzt den Schmerz, auch wenn die Verletzung kaum der Rede wert war. Kopfschüttelnd stand er auf und sah vorsichtig auf den Platz hinaus, an dessen anderem Ende sich das Amphitheater befand. Der Tumult hatte sich zu einem umfassenden Durcheinander ausgeweitet und es schien nicht so, als würde die Aufführung bald fortgesetzt werden können. Das wiederum führte zu weiterem Unmut, aber viele der Lin und anderen Anwesenden fühlten sich auf der offenen Fläche alles andere als sicher. Halblinks sah er Shiniia und dann und wann einen der schwarz gewandeten Daykîn. Mit einem erleichterten Seufzer wagte sich der Arzt hinaus auf den Platz, blieb aber an der Hauswand. Er fühlte sich sicher genug, um den Heimweg anzutreten und sich eine Salbe anzurühren, die den Schmerz linderte.
Immer wieder wurde Razzun von besorgten oder neugierigen Lin angesprochen. Es war ein offenes Geheimnis, dass irgendwelche Häscher hinter ihm her waren. Dass die sich allerdings erdreisteten, mitten in eine Versammlung von Lin zu feuern und dabei den armen Halilin vom Leben zum Tode zu befördern, war dann doch ziemlich starker Tobak. Selbst für Lin. Razzun blieb höflich und antwortete so ausführlich es ging, wies dann aber doch auf seine Verletzung hin, um den geschwätzigen Lin endlich zu entkommen und den Heimweg antreten zu können.
Leicht humpelnd betrat er die wenig frequentierte Lammeger Gasse, die annährend parallel zur Allee der Schatten, während sich die Lin noch berieten, ob sie denn die abendliche Veranstaltung fortsetzen sollten oder nicht. Qwerlin sprach schließlich ein Machtwort und sah absolut nicht ein, warum man auf dieses besondere Ereignis verzichten sollte, zumal sich Daykîn ja um die Attentäter kümmerten. Also beruhigte sich die Menge nach und nach und begab sich schulterzuckend und schwadronierend wieder zu den Ständen mit Getränken und Leckereien, um sich weiter die Zeit zu vertreiben.
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Shiniia wurde im Vorbeilaufen kurz von einem anderen Daykîn informiert, dass der Schütze auf dem Dächern der Häuser am westlichen Ring zu entkommen suchte und sein Komplize in einem unbewohnten Haus festgesetzt worden war. Im Laufschritt war die Elfe auf dem Weg dorthin, stieß mit knappen Kommandos im Weg stehende Lin beiseite und erreichte schließlich das von schwarz gekleideten und vermummten Daykîn umstellte Gebäude. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, lief sie in den Eingang, sprang vor der ersten Türöffnung hoch, rollte sich in der Luft und kam jenseits der Tür in der Hocke auf dem Boden auf, während aus dem Raum der Bolzen einer kleinen Armbrust schoss und gegenüber in die Wand einschlug. So konzentriert sie auch war, konnte sie sich doch ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
„Ich zieh dir die Haut ab, du Bastard“, knurrte sie gerade laut genug, dass derjenige im Raum sie verstehen konnte.
„Leck mich!“, konstatierte der Umzingelte in der Sprache der Lin. Da war nicht der Hauch von Furcht in seiner Stimme.
„Erst“, kommentierte die Elfe, „wenn du schön blutig bist. Wie bescheuert muss man sein, um so eine Aktion zu starten?“
Nahlin, ein anderer Daykîn, schob sich in den Gang und musterte Shiniia. Dann gab er ihr mit knappen Gesten zu verstehen, dass er mit ihrer Aktion alles andere als einverstanden war. Die Elfe reagierte überhaupt nicht, sondern konzentrierte sich auf ihr Opfer, das im Nebenraum hockte und keinen Ausweg mehr hatte.
„Ich kapier nicht“, kam es aus dem Zimmer, „was der Aufstand soll. Hat doch alles bestens funktioniert. Gut ... der Aufruhr war nicht gewollt, aber es sollte dramatisch aussehen, damit es alle kapieren.“
„Was?“ Shiniias Blick verfinsterte sich. Gedanken schossen ihr durch den Kopf, aber sie ordneten sich noch nicht zu völliger Klarheit.
Nahlin zog lediglich die Schultern kurz in die Höhe, den fragenden Gesichtsaudruck verbarg die Maske.
„Hast du was an den Ohren, Shin?“ Ein feixender Unterton hatte sich in die Stimme des Eingekreisten geschlichen. „Es hat alles bestens geklappt. Der olle Halilin hat Staub gefressen und das war’s.“
„Oh, Scheiße!“, fluchte die Elfe. „Die waren nicht hinter Razzun her!“ Wütend hieb sie mit der Linken auf den Boden ein, dass es krachte.
Glucksendes Gelächter drang auf den Flur und trieb Shiniia die Zornesröte ins Gesicht.
„Was sollte die Sache mit dem Öl?“
„Was für’n Öl?“
„Vergiss es.“ Die Elfe stand auf und war mit einem Satz an der Türöffnung vorbei, aus der diesmal kein Bolzen geflogen kam. In der Haustüre stehend, wies sie zwei Daykîn an, Nahlin zu helfen, und instruierte den Rest, nach Razzun zu sehen und den Platz im Auge zu behalten.
„Sieh zu, dass du den da drinnen lebend kriegst“, befahl sie, ohne sich extra zu Nahlin umzudrehen. Dann war sie wieder unterwegs. Auf dem Weg zur Praxis, denn sie hatte eine Ahnung, dass Razzun nicht im Hauseingang gewartet hatte. Leise vor sich hin fluchend rannte sie, was ihre Kondition hergab, durch die dunkler werdenden Straßen Dahenns und hoffte insgeheim, dass er doch im Schutze des Hauseingangs geblieben war.
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Rami bewegte sich mit der Anmut eines Fahanrar über die niedrigen Dächer Dahenns. Endlich bestand eine gute Chance, dass er seinen Auftrag würde erledigen können. Sein Geldgeber würde sich auf eine saftige Nachzahlung einrichten können, denn es war alles andere als leicht, als Mensch in einer Stadt voller Lin zurechtzukommen, geschweige denn gegen den Willen der Mächtigen in Dahenn irgend jemanden umzubringen.
Die Lammeger-Gasse lag im Halbdunkel und die Sonnensegel verdunkelten einige Bereiche komplett. Vorsichtig lehnte sich der Kopfgeldjäger über die Brüstung und erkannte nur zwei Etagen tiefer eine humpelnde Gestalt. Razzun! Weit und breit kein Daykîn und erst recht nicht diese lästige Elfe. Er hatte schon früh erkannt, dass sie eine wirklich ernst zu nehmende Bedrohung darstellte. Daykîn waren an und für sich schon etwas Besonderes, aber auch unter ihnen gab es nur wenige, die – nach Ramis eigener Einschätzung – in der Lage sein würden, länger als eine Minute zu überleben, wenn sie sich mit ihm anlegten.
Knapp hinter dem leise fluchenden Razzun glitt Rami langsam auf eines der Sonnensegel und dann daran herab bis auf den Boden. Nicht unerwartet hatte der Arzt, der mit seinem Schmerz beschäftigt war, nichts von der Aktion bemerkt. In einer leichten Brise schlugen die Segel, und zum Trocknen aufgehängte Wäsche verursachte zusätzliche Ablenkung für Auge und Ohr. Mit einem hämischen Grinsen ergriff Rami einen Kessey-Dolch, bevor er – von sich aus gesehen – zwei weitere Gestalten in der Gasse bemerkte. Einer von Beiden hatte einen kleinen Bolzenwerfer auf den Arzt gerichtet. Genau in diesem Augenblick bemerkte auch Razzun die zwei ihm gegenüberstehenden Kopfgeldjäger, die es auf ihn abgesehen hatten. Hastig schaute er sich nach Deckung um, aber außer den Hauseingängen gab es da nichts und es war fraglich, ob eine der Türen in dieser Gasse offen sein würde.
„Eh!“, rief Rami an seinem Opfer vorbei seinen Kollegen zu. „Der gehört mir!“
Razzun fuhr erschrocken herum und sah sich einer gut einen Kopf größeren Gestalt gegenüber, in deren rechter Hand locker und sehr professionell ein Kessey-Dolch lag. Der Arzt wusste, dass nur sehr wenige in der Lage und willens waren, sich dieser unförmigen Waffe anzunehmen. Das sprach für die Profession des dritten Häschers und es machte Razzun keineswegs zuversichtlicher oder glücklicher. Er humpelte an die Seite, während sich die zwei recht zerlumpten Gestalten in seine Richtung in Bewegung setzten. Rami tat es ihnen gleich, auch wenn er aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der gegenüberliegenden Hauswand wahrnahm.
Sicher ein verängstigter Bewohner, der sich an der Wand entlangdrückte. Die Daykîn oder Shiniia konnten unmöglich jetzt schon hier sein. Viel Zeit blieb allerdings nicht und das Auftauchen der Konkurrenz machte Rami auch nicht zuversichtlicher.
Während die Häscher auf ihn zustürmten, schloss Razzun mit seinem Leben ab. Er hatte keine Möglichkeit, den professionellen Söldnern etwas entgegenzusetzen, und die Daykîn waren weit entfernt. Er kannte den Codex gut genug, um gar nicht erst zu versuchen, mit seinen Mördern zu reden. Mit einem Seufzer rutschte er die Hauswand hinunter und blieb auf dem Boden sitzen. Razzun schüttelte den Kopf. Dass es so enden musste ...
Rami schien wesentlich agiler und kam neben seinem Opfer zu stehen, bevor die beiden anderen ihn erreichten.
„Hör zu“, wisperte der Kopfgeldjäger leise in Richtung Razzun. „Ich hab die Regeln nicht gemacht. Es ist an der Zeit für dich. Ich hab nicht die Absicht, dich zu quälen. Wenn du dich fügst wird es schnell gehen.“
„Ich bin Arzt ...“, flüsterte Razzun verständnislos und stierte auf den Boden vor sich. „Ich helfe Leuten ... das hab ich nicht verdient.“ Er schluckte, verkniff sich aber die Träne und sah seinem Mörder in die grünen Augen. Da war keine Mordlust oder Gier zu erkennen. Passion vielleicht, es interessierte Razzun nicht mehr.
Rami fuchtelte mit dem Kessey herum und rammte ihn kurz vor Razzun in den Boden. Erneut trafen sich ihre Blicke für den Bruchteil einer Sekunde, dann richtete sich der Kopfgeldjäger auf und hatte zwei kurze Schwerter in der Hand, um seine Konkurrenten aufzuhalten.
Lässig und selbstsicher stand er zwischen den zerlumpten Gestalten und Razzun.
„Was glaubt ihr“, verlangte er mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme zu wissen, „was hier passiert, wenn ihr noch näher kommt?“
Nach all den Strapazen fühlten sich Henandri und Jokil ihrer sicheren Beute beraubt und gingen mit Wutgeheul und gezogenen Waffen auf ihren Gegner los. Rami wich der von Henandri von unten eingebrachten Klinge aus und hatte Mühe, den von der Seite hinzukommenden Hieb Joklis zu parieren. Das war alles andere als ungeschickt und Ramis Hemd tränkte sich am linken Oberarm mit Blut. Weder kommentierte er dies, noch lies er erkennen, dass er den Schmerz wahrnahm, sondern wich zunächst weiter aus, bevor er selbst seine beiden Schwerter ins Spiel brachte. Rami erkannte schnell, dass die Beiden sich wundervoll ergänzten, aber das steigerte nicht ihre Geschwindigkeit. Er beschränkte sich im Tanz der Waffen darauf, seine Gegner näher kennen zu lernen, um sie dann austricksen zu können. Es war völlig klar, dass sie nur zusammen so gut funktionierten. Mit einem nach vorn angedeuteten Schritt ging Rami in die Hocke und erwischte Jokil eiskalt. Keine Deckung verhinderte den Stich und der junge Kopfgeldjäger röchelte, spuckte Blut und ging in die Knie, während sich Henandri mit Geheul auf Rami stürzte und alle Vorsicht vergaß. Die Schwerter wirbelten umher, durchtrennten die Sehnen im Kniegelenk und schickten Henandri blutend und vor Schmerz schreiend zu Boden. Rami beendete das Geschrei mit einem raschen Hieb.
Razzun schüttelte den Kopf, während Rami vor ihm auf die Knie sank.
„Ich habe keine Ahnung, was die mit dir angestellt hätten“, flüsterte der Kopfgeldjäger freundlich, „aber ich werde dich sicher nicht quälen. Hast du noch was zu ...“
Rami zuckte zusammen, während Razzun ihn noch immer verständnislos anstarrte. Die Pupillen des Jägers umwölkten sich, dann sackte er zusammen und kippte langsam, sehr langsam, zur Seite um. Der Arzt bemerkte einen gefiederten Pfeil im Nacken des Meuchlers und er rückte ein wenig zur Seite. Schweiß rann ihm aus allen Poren.
Bevor Razzun sich richtig besinnen konnte, huschte aus dem Schatten eine in schwarz vermummte Gestalt heran, die vor ihm zu stehen kam. Zunächst dachte Razzun, die Daykîn wären ihm endlich zu Hilfe gekommen, aber die Kreatur war kleiner als andere Lin und die blassen Stickereien auf der Robe hatte Razzun noch nie zuvor gesehen. War dies jetzt ein Retter oder nur ein anderer Meuchler? Seine Gedanken fuhren Achterbahn.
Razzuns Gegenüber blickte rasch in beide Richtungen der Gasse und schien anderen Zeichen zu geben. Dann griff er in seine schwarze Weste und zog eine Schriftrolle hervor. Er kniete sich umständlich hin und hielt Razzun die recht große Schriftrolle mit gesenktem Kopf entgegen. Der Arzt streckte seine Hand langsam aus und ergriff zitternd das andere Ende. Die Gestalt nickte kurz und ließ los, erhob sich und drehte sich zum Gehen.
In diesem Augenblick sprang Shiniia in Begleitung eines weiteren Daykîn aus dem Eingang eines Hauses, das sehr heruntergekommen wirkte und sich nach vorn in die Gasse neigte. Sie atmete schwer und schien wirklich überrascht, als sie die Leichen vor Razzun und die schwarz gekleidete Gestalt sah. Es blieb noch genug Luft für ein weiteres „Scheiße!“, dann setzte sie sich voll konzentriert in Bewegung. Insgesamt acht weitere Gestalten traten aus den Schatten der Häuser, aus Eingängen und schmalen Gassen zwischen den Gebäuden und zielten mit Pfeil und Bogen auf die Elfe.
Der Daykîn in Shiniias Begleitung hielt sie an der Schulter zurück und sie blieb stehen. Ein, zwei Pfeilen konnte sie möglicherweise ausweichen, zwei weitere mochten sie nicht tödlich treffen, aber acht? Sie kochte vor Wut und man sah es ihr an.
„Hört auf.“ Razzun jammerte mehr, als er sprach. Er erhob sich umständlich und musste sich an der Hauswand abstützen. Die vermummte Gestalt drehte sich kurz zu dem Arzt um, dann ging sie langsam auf die andere Seite der Gasse. So schnell wie die Gestalten scheinbar aus dem Nichts erschienen waren, verschwanden sie auch wieder.
Shiniia setzte sich wieder in Bewegung, blieb auf Höhe des Arztes stehen und stierte für einen Moment wütend hinter den Gestalten her und auch Razzun war klar, dass sie sich nur mit Mühe zurückhalten konnte. Der ganzen Truppe in die Dunkelheit der verwinkelten Nebengassen, Hinterhöfe oder vielleicht sogar in Gebäude hinein zu folgen, war schlicht Selbstmord. Also eilte sie zu Razzun, stieg über die am Boden liegenden Körper der Kopfgeldjäger und stützte den Arzt.
„Gehen wir“, sagte sie lediglich und warf die Waffe zu Boden, während sie einen kurzen Blick auf die Schriftrolle in Razzuns rechter Hand warf.
„Ich bin froh, dass du hier bist ...“
„Ich bin froh, dass du noch lebst“, stellte Shiniia sachlich fest. „Es war keine gute Idee, hier alleine herumzulaufen.“
„Ja ... Diese Gestalten haben mir geholfen. Das sind keine Daykîn ...?“
„Nein. Ganz sicher nicht!“, antwortete Shiniia gereizt.
Razzun fragte noch nach, wer das gewesen sei, aber weder auf diese noch auf subtilere Art war aus der Elfe etwas herauszubekommen. Als sie endlich Razzuns Haus erreichten, waren die Daykîn bereits damit beschäftigt, die Leichen der Kopfgeldjäger wegzuschaffen. Andere Lin waren ihnen dabei behilflich, die Habe der Getöteten zu „entsorgen“, wobei es noch zu Streitigkeiten über die Zuständigkeit in der Gasse kam. Neben Geschrei und Geschubse gab es jedoch keine handgreiflichen Auseinandersetzungen, da nicht klar war, ob die anwesenden Daykîn eingegriffen hätten.
Razzun ließ sich ächzend auf einen Stuhl nieder, entzündete die Lampe auf dem Tisch und legte die Schriftrolle daneben, löste die ledernen Bänder und wickelte eine Menge lose zusammengerollter Blätter auseinander. Shiniia stellte sich hinter ihn und legte gedankenverloren beide Hände auf seine Schulter.
„Woher hast du das?“, fragte sie den Arzt und warf einen Blick auf die Blätter mit Zeichnungen und schier endlosen Texten in einer Schrift, die sie nicht kannte und die doch so vertraut wirkte.
„Der Vermummte, der vor mir stand“, erwiderte Razzun, „hat es mir gegeben. Nachdem sie mir das Leben gerettet haben.“
Er sah zu er Elfe hoch.
„Kannst du das lesen, Shin?“
„Keine Chance ... Obwohl ... Irgendwie sieht es nach Linid aus. Aber anders. Vielleicht eine veraltete Form? Die Blätter sehen nicht gerade neu aus.“ Sie ging um den Tisch herum und setzte sich ebenfalls. „Wenn du mich fragst, gib es Qwerlin. Der wird so oder so alles andere als begeistert sein, wenn er von der Geschichte erfährt.“
„Wieso?“ Razzun versuchte einmal mehr an Informationen über seine Retter zu gelangen, aber die Elfe schüttelte den Kopf.
„Wenn der Alte dir was darüber sagen will, soll er es tun. Das geht mich nichts an ... Kümmere dich um dein Bein, ich muss zurück.“
Shiniia informierte die Wachen vor und hinter dem Haus über die Vorkommnisse, war sich jedoch auch sicher, dass es nun ruhiger werden würde, da alle Kopfgeldjäger, die hinter Razzun her waren, das Zeitliche gesegnet hatten.
Der Arzt legte einen bemalten Stein, der ihm als Briefbeschwerer diente, auf die Unterlagen, drehte den Docht der Lampe herunter und humpelte zu einem Schrank mit Salben, getrockneten Kräutern und fertigen Arzneien. Er wählte eine Salbe aus, reinigte die Wunde mit einem sauberen Tuch, das er mit frischem Wasser aus einem Krug benetzte, und bestrich die Verbrennung mit der Salbe. Im Nu entspannte sich die Stelle und der Anteil an Nexis-Kraut betäubte die Schmerzen. Langsam ging er nach oben und fiel auf sein Bett.
Morgen würde er Qwerlin die Unterlagen zeigen. Ein Gedanke blitzte auf, sich an Kjerlin zu wenden. Die magisch begabte Lin mochte sich besser auf alte Schriften verstehen. Shiniia hatte gesagt, Qwerlin würde nicht begeistert sein ... Der Schlaf übermannte Razzun und gnädigerweise war er erholsam, tief und traumlos.
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