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Meeresluft
Auf dem Weg zur Schule pfiff Herr Lemmel vor sich hin. Der Park lag im Halbdunkel und von der taufrischen Wiese stieg langsam der Dunst auf. Der Kies unter seinen Füßen knirschte fröhlich, ab und zu kamen ihm Jogger oder Fahrradfahrer entgegen. Zu seiner Linken säumten riesige Pappeln das Ufer des kleinen Flusses, welcher sich gemächlich neben ihm her schlängelte. Als Kinder hatten sie immer kleine Papierboote in das rauschende Wasser geworfen und sich ausgemalt, wo diese am Ende ankämen. Bei der Erinnerung daran musste Herr Lemmel lächeln.
Er atmete tief ein, spürte, wie die kühle Morgenluft in seine Lungen strömte und blickte hinauf zum eisgrauen Himmel. Dort war ein Vogel, der direkt über seinem Kopf segelte. Erstaunt blinzelte er. Das war doch eine Möwe – mitten in der Stadt? Das nächste Meer war mindestens dreihundert Kilometer entfernt, wie um alles in der Welt hatte sich eine Möwe hierher verirrt? Er sah dem Vogel nach, bis er ihn nicht mehr sehen konnte. Langsam bekam er seine Zweifel, ob er richtig gesehen hatte. Vielleicht war es ja auch nur eine Taube gewesen.
Ja, eine Taube. Und er drehte sich kopfschüttelnd um und setzte seinen Weg fort.
Ein Fahrradfahrer brauste an ihm vorbei, er konnte noch ein von braunen Locken umrahmtes Gesicht ausmachen, das sich zu ihm umgedreht hatte und ihm etwas zurief. „Guten Tag, Herr Lemmel!“
„Guten Tag, Benjamin“, grüßte er seinen Schüler zurück und nickte, obwohl dieser es wahrscheinlich nicht mehr hören konnte. Montag, vierte Stunde, Raum dreihundertneunzehn, Geographie. Herr Lemmel fragte sich, ob er ihn auch genauso grinsend gegrüßt hätte, wenn er wüsste, dass er seine Vier in der Aktentasche herumtrug.
Der Freitag war mit Abstand sein Lieblingstag. Er hatte nur vier Stunden zu unterrichten, zwei Stunden Englisch und zwei Stunden Geographie und er hatte schon mittags Feierabend. Außerdem besuchte er freitags seine Mutter, welche noch in dem kleinen Dorf abseits der Stadt lebte, in dem er aufgewachsen war. Sie pflegte dann immer extra zu kochen, für heute hatte er sich Fischstäbchen gewünscht. Mannomann, dachte er. Fischstäbchen, wie ewig hast du die nicht mehr gegessen.
Es war 12.15 Uhr, als er schon im Bus saß, der ihn in das Dorf seiner Mutter bringen würde. Die Fahrt dauerte immer eine gute halbe Stunde, genügend Zeit, um sich zurückzulehnen und zu entspannen. Der Bus verließ die Stadt, kam am Bahnhof vorbei, fuhr einen kleinen Berg hinauf und anschließend eine kleinere Strecke durch den Wald. Herr Lemmel schloss die Augen und döste vor sich hin. Er träumte vom Meer. Wie gern würde er mal wieder an die Ostsee fahren, rauschende Wellen, Sanddünen, morgendliche Spaziergänge am Strand ... Er nahm sich fest vor, in den Oktoberferien Urlaub an der Küste zu machen.
Das Quietschen der Bremsen ließ ihn aus seinem Tagtraum erwachen und er schlug die Augen auf. Sie standen mitten auf der Landstraße, welche bergab ins Dorf führte, doch hier war keine Haltestelle und sie konnten unmöglich schon da sein. Aufgeregtes Gemurmel erhob sich in den ersten Reihen und der Busfahrer machte eine Durchsage, die jedoch völlig unverständlich war, also stand er auf, lief nach vorn und reckte den Kopf, um etwas sehen zu können.
Dort, wo normalerweise knorrige Pflaumenbäume die Dorfstraße säumten, war Wasser. Viel Wasser. Tatsächlich war überall rauschendes Meer! Vom Dorf war nichts zu sehen, Wellen schwappten den Asphaltweg hinauf, so selbstverständlich, als wären sie schon immer dagewesen.
Herr Lemmel schloss die Augen, zählte bis vier (die vier war seine Glückszahl) und schlug sie dann wieder auf. Nichts hatte sich geändert.
Nun begannen die Leute, aus dem Bus zu drängen. Der Fahrer rief noch, sie sollten vorsichtig sein, doch keiner beachtete ihn weiter. Er selbst sah auch recht verdattert aus und schien nicht so recht zu wissen, was zu tun war.
Herr Lemmel bewegte sich in Zeitlupe. Es schien, als wäre die Welt in ihm unbekannten Farben gemalt. Die Tasche in seiner Hand war plötzlich zentnerschwer, seine Schuhe mit Blei gefüllt. Nach einigen Minuten, Stunden wie es ihm schien, schaffte er es endlich, sich zur mittleren Tür hinauszubewegen. Er sah die Leute, wie sie am neuen Ufer standen und dreinblickten wie die ersten Menschen. Langsam näherte er sich ihnen und stellte sich nah an das Wasser, so nah, dass nur eine mittelkleine Welle hätte kommen müssen und schon hätte er nasse Füße gehabt.
Sein Gehirn arbeitete ungewöhnlich schwerfällig und doch schien es noch zu wissen, dass es ein Gehirn und zum Denken geschaffen worden war, also dachte es nach, quietschend und knatternd zwar, doch es dachte. Ihm fiel ein, dass er Lehrer für Geographie war und über das Vorhandensein und das Nichtvorhandensein von größeren Gewässern innerhalb von Deutschland eigentlich Bescheid wissen müsste. Er war verwirrt. Sie befanden sich mindestens dreihundert Kilometer von der nächsten Küste entfernt, zweihundert Meter über dem Meeresspiegel. Hier konnte kein Ozean sein!
Herr Lemmel ging in die Hocke, hielt zögernd seinen Zeigefinger in das Wasser und kostete es. Eindeutig Salzwasser. Er schaute hinauf gen Himmel. Eine Möwe kreiste über ihm.
Abrupt stand er wieder auf und wandte sich den übrigen Leuten zu, von denen sich inzwischen einige angeregt unterhielten.
„... unmöglich ...“
„... kann ja wohl nicht wahr sein ...“
„... wohne dort ...“
„... meine Mutter ...“
Es versetzte ihm plötzlich einen Stich in der Herzgegend. Meine Mutter, fuhr es ihm durch den Kopf. Er zwang sich, später darüber nachzudenken, was mit ihr passiert war, zu einem vernünftigen Schluss würde er ja doch nicht kommen.
Er räusperte sich. „Was passiert hier? Weiß einer der Anwesenden etwas über, ähm ... unser neues Meer?“
Ein älterer Mann wandte sich ihm zu. „Wir sind genauso schlau wie Sie, mein Herr. In der Zeitung haben sie nichts darüber gesagt und im Fernsehen auch nicht. So lange kann das also noch nicht hier sein, das hätte ja mal einer gemerkt. Die Busse fahren schließlich jede Stunde diese Strecke.“
Herr Lemmel nickte wohlwollend, als diskutierten sie hier einen absolut logischen Fall. „Aber wissen Sie, ich unterrichte Geographie, und ich bin mir sicher, dass der Meeresspiegel nicht innerhalb von einer Stunde über zweihundert Meter ansteigen kann. Das ist einfach unmöglich, verstehen Sie?“
Der Mann nickte bedächtig und stützte sich auf seinen Gehstock. Eine Weile sagte niemand etwas.
Plötzlich zerriss ein Schrei das aufgeregte Gemurmel und etwa zehn Meter von ihm entfernt rannte eine Frau hysterisch schluchzend den kleinen Hang hinauf in Richtung Bus. Dort brach sie zusammen, ein Häufchen Elend, direkt vor den Füßen des Busfahrers, welcher leicht grün im Gesicht geworden war und nicht zu wissen schien, ob er wachte oder träumte.
Die Leute beobachteten hilflos das Geschehen. Dann, endlich, fasste sich jemand ein Herz, eilte zu der wimmernden Frau und versuchte, ihre Panik zu beruhigen.
Herr Lemmel wandte sich stumm und ruhig atmend wieder dem Meer zu. Die Luft roch nach Salz, genau wie echte Meeresluft. Einen absurden Moment lang war Herr Lemmel glücklich.
Er spürte Wasser in seinen Schuhen und blickte hinab auf seine Schuhe. Erneut umspülte eine kleinere Welle seine Knöchel, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Im selben Moment ertönte ein weiterer Schrei, dieses Mal von mehreren Personen.
„Es steigt! Das Wasser, es steigt!“
Herr Lemmel rührte sich nicht. Die Leute um ihn herum liefen aufgeregt brabbelnd umher und strömten zurück in Richtung Bus. Herr Lemmel beachtete sie nicht. Sie alle waren ihm plötzlich furchtbar lästig.
„He, Sie!“, rief jemand und er drehte sich widerstrebend um. Es war der alte Mann mit dem Stock, mit dem er sich einige Minuten zuvor unterhalten hatte. „Wollen Sie nicht mitkommen? Wir fahren zurück. Das Wasser steigt, haben Sie das nicht gemerkt?“
Wie hätte er es nicht merken sollen, schließlich stand er mittlerweile bis zu den Waden im kalten Nass. Herr Lemmel schüttelte bedächtig den Kopf. „Nein. Ich bleibe hier, irgendwer muss ja das Wasser im Auge behalten.“ Es kam ihm zwar unsinnig vor, auf das Meer aufzupassen – wenn es stieg, dann stieg es, wenn nicht, dann eben nicht, was sollte er schon groß unternehmen? – aber er hatte keine besondere Lust, in die Stadt zurückzufahren.
Der Mann starrte ihn einige Sekunden lang mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann zuckte er die Schultern, murmelte: „Wie Sie meinen“, und stapfte zum Bus.
Herr Lemmel hatte sich schon wieder umgedreht. Er hörte den Bus grollen und schnaufen als er endlich davonfuhr. Nun war er allein. Er schloss die Augen und atmete die frische, salzige Luft tief ein. Plötzlich war ihm alles egal, seine Familie, sein Beruf, die Stadt und auch dieses kleine Kaff, das hier einmal gewesen war, einfach alles. Was kümmerte es ihn, dass die Welt ersoff? Er ließ ohnehin nichts zurück. Seine Mutter war tot, eine Frau oder gar Kinder hatte er nicht und um seinen Beruf tat es ihm auch nicht sonderlich Leid.
Herr Lemmel stapfte langsam aus dem Wasser. Unweit von ihm war ein kleiner Baumstumpf. Er zog bedächtig seinen Mantel aus, faltete ihn ordentlich zusammen und legte ihn auf dem Stubben ab. Dasselbe tat er mit seinem Hemd, seiner Hose, seinem Unterhemd, seinen Schuhen und seinen durchnässten Socken. Die Unterhose behielt er an.
Das Meer rauschte als wolle es ihn rufen. Der Gedanke belustigte ihn und mit einem Lächeln auf den Lippen marschierte er los, lief immer tiefer in das Wasser hinein, bis es ihm schließlich bis zum Nabel reichte.
Herr Lemmel zählte bis vier und tauchte kopfüber in die Fluten.