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Tra(sh)gödie

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24.01.2004
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Tra(sh)gödie

„Absinth“, verlangte Jean und klopfte auf die Theke.
„Abwas?“
„Absinth“, wiederholte er.
Der Barkeeper starrte ihn an, als hätte er ein Glas Pinselreiniger bestellt.
„La Fée Verte. Sie wissen schon, dieses Zeug, das Van Gogh getrunken hat. Und die Dame auf dem Gemälde von Degas.“
Pinselreiniger wurde zu Gülle mit Eis.
„Die grüne Fee“, übersetzte Jean ungeduldig.
Der Barkeeper zerknüllte stirnrunzelnd ein Handtuch, dann schüttelte er den Kopf.
„Grüne Feen gibt’s hier nicht. Könnte Ihnen aber nen Roten Rammler anbieten. Spezialität des Hauses. Bier mit Tomatensaft.“
Jean schüttelte angewidert den Kopf.
„Haben Sie Rotwein?“, fragte er.
„Is frischer Tomatensaft.“ Der Barkeeper bohrte mit dem Zeigefinger Löcher in den Handtuchklumpen.
„Wenn es ihr Getränkefundus zulässt, hätte ich gern zwei Gläser Rotwein“, sagte Jean und fügte, als der Glatzkopf sich umdrehte, hastig hinzu: „Und bitte ohne Tomatensaft.“
„Wie Sie wünschen.“
Jean griff nach den Gläsern, die ihm der Barkeeper unter die Nase geschoben hatte, ging zu einem kleinen Tisch in der Ecke des Raumes und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Prost“, sagte er, nippte am Wein und verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Billiger Fusel.“
„Gibt Schlimmeres.“ Hans stellte das Glas ab und wischte sich über den Mund.
Jean seufzte. Vermutlich hätte er das auch gesagt, wenn in dem Glas tatsächlich Pinselreiniger gewesen wäre. Oder Gülle mit Eis. Es fiel Jean manchmal schwer, den schlechten Geschmack schlichter Gemüter zu tolerieren. Bei diesem schlichten Gemüt hatte er aber keine andere Wahl. Hans war schließlich sein Assistent und wahrscheinlich der einzige Mensch, der wirklich gerne mit ihm zusammenarbeitete.
„Lass mal die Themenvorschläge hören“, sagte er.
Hans kramte ein Stück Papier aus seiner Hosentasche, faltete es langsam auseinander und hielt es dicht vor seine Augen.
„Nun, wir hätten Killerfische, Zombieaffen, mutierte Metzger, Todesameisen und ...“ Hans senkte die Liste. „... Gurken.“
„Gurken?“ Jean rieb am Saum seiner Baskenmütze.
„Freds Idee“, sagte Hans und zuckte mit den Schultern.
„Mutierte Gurken. Klingt doch gar nicht schlecht.“
„Nur Gurken.“
„Keine Mutation?“
„Fred hält es für unethisch, mutiertes Gemüse zu thematisieren.“
Jean runzelte die Stirn. Der verschwommene Fleck, der vor seinem linken Auge geklebt und die Hälfte von Hans Gesicht verwischt hatte, löste sich auf, als sein Monokel den Halt verlor und herabfiel.
Ein erneutes Schulterzucken ließ Hans ohnehin kaum vorhandenen Hals verschwinden.
„Sie kennen doch Fred.“
Jean nickte und wickelte das Goldkettchen, an dem das Monokel hing, mit dem Zeigefinger auf. Ja, er kannte ihn, auch wenn er sich manchmal wünschte, es nicht zu tun.
Hab’ lange nach nem fähigen Kameramann gesucht, der für derartig wenig Kohle arbeitet, hatte der Produzent damals gesagt und dabei einen hageren Mann unter hektischem Schulterklopfen fast zusammenbrechen lassen. Das ist Fred.
Bald darauf hatte sich herausgestellt, dass er einfach aus seinem Büro gestolpert war und den Hausmeister des Studiogebäudes engagiert hatte.
„Verd...“ Er räusperte sich und klemmte das Monokel wieder vor sein Auge. „Sacrément, ich bin der Regisseur. Wenn ich es für richtig erachte, dass Gurken mutieren, dann mutieren Gurken.“
Hans tupfte sich mit der Liste den Schweiß von der Stirn.
„Bei allem Respekt, ich denke nicht, dass Gurken eine wirklich gute Idee sind.“
„Was du denkst, ist mir völlig egal“, rief Jean und versuchte unauffällig, einen Kugelschreiber vom Tisch zu wischen, der jedoch an der Kante liegen blieb, täuschte kurzentschlossen einen Hustenanfall vor, drehte Hans den Rücken zu, klopfte sich hastig Zornesröte ins Gesicht und fuhr herum. „Wie kannst du es wagen, mein Urteil in Frage zu stellen? Habe ich mich jemals geirrt? Jemals?“
„Nun ...“
„Weißt du, was dir fehlt?“ Er presste Hans den Zeigefinger auf die Stirn, glitschte über die durchfurchte Haut, riss die Hand zurück und wischte sie an seinem grünkarierten Sakko ab. „Dir fehlen Visionen, mein Lieber. Visionen.“
„Nun, ich denke trotz...“
„Silence“, zischte Jean und hob die Hand. „Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht verwerfe ich die Idee.“ Er griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug. „Aber nur, wenn mir etwas Besseres einfällt. Nur dann. Verstanden?“
„Ja, ich ...“
„Gut“, sagte Jean und knallte das Glas auf die Tischplatte.
Gurken, dachte er. Bescheuerte Idee. Typisch Fred.
Er brauchte frische Einfälle, originelle Monster, Mutanten oder andere Dinge, die einer Horde Laiendarsteller den Tag versauen konnten. Aber vorher brauchte er Wein.
„Noch ein Glas?“
„Gerne.“ Hans kippte sich den Rest der roten Plörre in den Mund.
„Garçon.“ Jean sah zur Theke. „Noch zwei Gläser, s’ il vous plaît.“
Der Barkeeper wischte unbeeindruckt den Tresen, während Hans sich über den Tisch beugte und flüsterte: „Ich glaub, hier ist Selbstbedienung.“
„Das werden wir ja sehen.“
„Machen Sie hier bitte keine Szene. Ich hol Nachschub.“
Hans schob die beiden Gläser zusammen und wollte aufstehen, doch Jean hielt ihn zurück.
„Hey.“ Er wandte sich wieder der Theke zu und winkte. „Muss man hier einen Dionysos-Schrein errichten, um Wein zu bekommen?“
Der Barkeeper wedelte lächelnd mit dem Trockentuch, dann stopfte er es in ein Glas und widmete sich seinem Kampf gegen die Nässe.
„Hey“, wiederholte Jean und schlug mit der Faust auf die Tischplatte.
Gebeugte Rücken lachten hustend. Ein Mann mit Hut drehte sich zu ihm um, schüttelte den Kopf, fiel kichernd von seinem Hocker und kroch in Richtung Klo.
Hans zupfte an Jeans Sakkoärmel, doch der Regisseur streifte die Hand seines Assistenten ab.
„Diese Crétins.“ Er stand auf, stapfte zur Theke und drängte sich zwischen zwei besetzte Barhocker.
„Dreckschuppen“, murmelte er.
„Hä?“ Die hohe Stirn des Barkeepers legte sich in Falten.
„Was für ein schäbiges Etablissement.“
„Zwingt Sie ja keiner, hier zu bleiben.“ Der Barkeeper füllte ein Bierglas nach.
„Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“
„Ein Spinner, der sich seit der letzten Faschingsparty nicht mehr umgezogen hat?“, vermutete jemand links neben ihm.
„Mein Name ist ...“, er machte eine Pause und wartete, bis der Trommelwirbel in seinem Kopf verstummt war, „... Jean.“
Eine Erdnussschale zischte klappernd zwischen zwei Händen hin und her, ein Hocker quietschte.
„Wie Jean Renoir. Jean Eustache. Jean Cocteau. Jean Vigo. Jean-Pierre Melville.“ Er klemmte beide Enden seiner roten Fliege zwischen seinen Fingerspitzen ein und drückte den Rücken durch. „Oder Jean-Luc Godard.“
Wasser tropfte aus dem Hahn in die Spüle, nikotingelbe Finger trommelten auf einem Bierdeckel.
„Der Typ aus Star Trek?“, fragte jemand.
„Nein, der Regisseur. Nouvelle Vague und so. Sie wissen schon.“ Er blickte über die Köpfe der Gäste hinweg ins Leere. „Oder auch nicht.“
Eine Klospülung rauschte gedämpft. Jean glaubte, irgendwo Grillen zirpen zu hören.
„Ich fand Außer Atem ganz gut“, sagte ein bärtiger Mann und nippte an seinem Bier. „Ziemlich innovativ. Auch wenn die Sache mit den Jump Cuts vermutlich nur Zufall ...“
„Ich bin ebenfalls Regisseur“, unterbrach Jean ihn hastig und stach mit dem Zeigefinger in die Luft. „Filmregisseur.“
Gläser klirrten, jemand rülpste. Der Barkeeper strich sich über die buschigen Augenbrauen.
„Filmregisseur“, wiederholte Jean und klopfte sich mit der Faust auf die Brust.
„Was denn für Filme?“, fragte der Bärtige, während er Bierkreise auf die Theke malte.
Jean grinste. Da er mit dieser Frage häufiger konfrontiert wurde, hatte er eine Standardantwort auswendig gelernt, die eindrucksvoll genug war, um die meisten Menschen davon abzuhalten, weitere Fragen zu stellen: „Günstig produzierte Filme, die sich der Eskapismusideologie Hollywoods konsequent verweigern, Filme, deren Illusion durch bewusst eingebaute Fehler und scheinbare Nachlässigkeiten, antimimetische Verfremdungseffekte in der Tradition des Dialektischen Theaters, dekuvriert wird, um den Zuschauer zur kritischen Reflexion zu zwingen.“
Jean holte tief Luft und blickte in die Runde. Niemand sah ihn an, niemand redete. Die gedämpften Geräusche der Nacht strömten in das Vakuum, das der Satz erzeugt hatte – die leisen Stimmen von Passanten, das Grölen von Betrunkenen, vorbeirauschende Autos, fernes Gehupe, Regen, der gegen die Fensterscheiben klopfte. Anscheinend hatte das Wortungetüm seinen Zweck erfüllt. Grade, als Jean das Schweigen brechen und seine Bestellung vortragen wollte, räusperte sich der Barkeeper.
„Welche Filme zum Beispiel?“, fragte er. „Kennt man da welche von?“
Es kam selten vor, dass Antwort A versagte, aber auch auf diesen Fall war er vorbereitet. Antwort B war zwar weniger ausgefeilt, dafür aber ein sicherer, rhetorischer Totschläger:
„Das geht Sie nichts an.“
Schultern schoben sich Ohren entgegen, Hände winkten ab, Finger trommelten, Gläser klirrten, die Erdnussschale klapperte. Jemand bezahlte und stand auf. Jean nickte zufrieden und zog sich die Baskenmütze in die Stirn. Antwort B versagte nie.
„Wein“, forderte er, ging mit den gefüllten Gläsern zu seinem Tisch zurück und setzte sich.
„Haben Sie schon darüber nachgedacht?“ Hans prostete ihm zu.
„Worüber?“
„Über die Sache mit den Gurken.“
„Ja, ich ... ich, meine nein, hab ich noch nicht.“
„Ich will Sie ja nicht hetzen, aber der Drehtermin steht bereits und ...“
„Man kann Inspiration nicht erzwingen. Wir reden schließlich über einen Film. Es geht hier nicht um ein Produkt, dass man einfach mal so hinrotzt“, sagte er, wusste aber, dass es in Wirklichkeit genau darum ging.
„Trotzdem sollten Sie sich etwas beeilen.“ Hans zog eine zusammengerollte Zeitschrift aus der Tasche seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing, erhob stich und leerte im Stehen sein Glas. „Der Wein will raus.“
Jean wartete, bis Hans gegangen war, dann kramte er ein Notizheft aus der Hosentasche und ersetzte das Monokel durch eine Hornbrille. Er kritzelte etwas auf das karierte Papier, strich es durch und trommelte mit dem Kugelschreiber auf dem Weinglasrand.
Es gab einfach keine originellen Ideen mehr, alles war irgendwann schon einmal mutiert, zum Leben erwacht, war aus Sümpfen oder Pfützen, aus Abflüssen, Kläranlagen und Klokästen gekrochen, aus der Erde gebrochen oder vom All ausgeschissen worden. Außerdem waren Innovationen das letzte, was man vom ihm erwartete. Er sollte Filme abliefern, für die der Plot genauso wichtig war, wie für durchschnittliche Pornos und lediglich irgendwie den Typen im Gummianzug rechtfertigen sollte, der sabbernd eine Gruppe Teenager filetierte. Er hatte diese ganze Scheiße satt.
„Guten Abend.“
Jean sah auf und erblickte beringte Finger, die auf der Lehne von Hans Stuhl trommelten und direkt aus zu langen Sakkoärmeln zu wachsen schienen, goldene Knöpfe auf grünem Stoff, die wie eine Leiter zu einem hageren, faltigen Gesicht führten, das von einer öligen Vokuhila, die auf dem Kopf des Mannes lag wie eine verendete Robbe, fast erdrückt wurde.
„Darf ich mich setzten?“
Jean senkte den Blick, kritzelte in seinem Notizbuch herum.
„Nein, ich ...“
Ein Stuhl quietschte über Parkettboden, etwas knallte auf die Tischplatte.
„Hören Sie ...“ Eine Flasche stieß gegen sein Notizbuch.
Jean warf den Kugelschreiber neben das Weinglas, lehnte sich zurück und musterte sein Gegenüber. Ein Grinsen hing wie angeklebt im Gesicht des Mannes.
„Franck“, sagte der Fremde. „Reinhold Franck.“
„Angenehm“, nickte Jean und meinte damit die Flasche. Er spielte schon seit längerem mit dem Gedanken, sich eine standesgemäße Alkoholsucht zuzulegen.
„Bedienen Sie sich.“ Das Grinsen des Fremden sackte träge zu einem Lächeln zusammen.
Jean drehte den Verschluss ab und warf ihn in den Aschenbecher. Wodka gluckerte spritzend in sein Glas, vom Glas in seinen Mund, dann wieder von vorne, diesmal ohne Umweg über das Glas.
„Ich kenne Sie. Sie sind Regisseur.“
Jean nahm einen Schluck aus der Flasche und ließ hastig einen weiteren folgen. Er hatte nie ernsthaft damit gerechnet, jemals erkannt zu werden und wusste nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte. Für einen Moment spürte er das Spotlight bescheidenden Ruhmes warm auf seiner Haut, doch dann wurde es heißer, verbrannte seine Kleidung, bis er nackt im grellen Licht stand und sich nichts sehnlicher wünschte, als Dunkelheit.
„Haben Sie nicht Das Tentakeltrio, Sumpfgas am Morgen, Die verwegenen Verwesenden und Der Schleimer gedreht?“
“Ja.“ Wodka tropfte von Jeans Kinn auf den Tisch. „Leider.“
„Sie drehen diese Filme nicht gerne, was?“
„Wer ... wer sind Sie eigentlich?“ Jean spürte, wie der Alkohol langsam in seinen Kopf nebelte.
„Franck. Reinhold Franck.“
„Das haben Sie schon gesagt. Ich ... ich meine, wer ... wer ...“ Er winkte ab. „Ach, scheiß drauf.“
„Sie drehen diese Filme nicht gerne, was?“, wiederholte Franck.
„Nein.“ Die Flasche knallte auf den Tisch. „Nein, verdammt. Hab damit angefangen, um irgendwie ins Filmdings einzusteigen. Aber wenn man einmal im Sumpf drin steckt, kommt man nicht mehr raus. Ein Teufelskreis. Un cercle vicidingsbums.“ Jean stopfte sich das Mundstück der Flasche zwischen die Lippen, kippte und schluckte. „Ich bin Künstler, sac... sacre... verdammt.“
„In der Tat ein Teufelskreis“, bemerkte Franck.
„Sie sagen es, Mann. Sie sagen es.“
„Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
„Wie wollen Sie ...“
„Ich bin Produzent.“
„Das kann ja jeder sagen.“
Franck zog eine kleine Karte aus seiner Sakkotasche und schnipste sie auf den Tisch. Jean griff danach und hielt sie vor seine Brillengläser.
„Reinhold Franck. Produzent“, las er und hoffte, dass der verschwommene Buchstabenbrei genau das bedeutete.
„Ich könnte Ihnen eventuell ermöglichen, die Filme zu drehen, die Sie wirklich drehen wollen. Künstlerische Freiheit. Nie wieder Trash.“
Der letzte Satz dröhnte wie ein Nebelhorn durch den trägen Dunst in seinem Kopf.
„Nie wieder ...“
„Natürlich müssen Sie auch etwas für mich tun, wenn ich Ihnen helfen soll.“
„Und das wäre?“
Francks rechte Hand verschwand unterm Tisch und tauchte mit einem Foto wieder auf, das er Jean entgegen schob.
„Mein Sohn“, sagte er. „Ludwig.“
Jean betrachtete das Bild, das ein gedrungenes, blaugeschupptes Wesen auf einer Wiese zeigte. Es hatte die Krallen der Linse entgegengestreckt, den Papageienschnabel weit aufgerissen und stierte glubschäugig in Richtung des Fotografen.
„Sieht Ihnen aber nicht ähnlich“, murmelte Jean.
„Er arbeitet als Monsterdarsteller. Hat sein eigenes Kostüm.“ Franck faltete die Hände und legte sein Kinn auf die Fingerknöchel. „Ehrlich gesagt läuft es für ihn momentan nicht optimal. Die Aufträge bleiben aus. Er ist gut. Wirklich gut. Leider ist er manchmal aber auch ein wenig schwierig. Die Meisten kommen damit nicht klar. Wer ihn einmal engagiert hat, engagiert ihn in der Regel nie wieder. Um es kurz zu machen: er braucht dringend einen Job.“ Der Produzent ließ das Foto wieder unter dem Tisch verschwinden, dann lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brunst. „Ich möchte, dass er in Ihrem nächsten Film mitspielt.“
„Die weibliche Hauptrolle?“ Jean lachte gluckernd in die Wodkaflasche.
Franck griff zwischen Sakko und Hemd, holte ein Stück Papier heraus, faltete es auseinander, lehnte sich ächzend über den Tisch, legte das bedruckte Blatt vor Jean auf die Holzplatte und strich es glatt.
„Unterschreiben Sie bitte.“
„Was ist das?“
„Ein Vertrag. Sie setzen meinen Sohn in Ihrem nächsten Film ein und im Gegenzug ziehe ich Sie aus dem Sumpf, in dem Sie stecken.“
Ein Regisseur, der ein Monster suchte, ein Produzent, der genau das zu bieten hatte und ein Vertrag, der direkt aus seinen Träumen zu stammen schien – Jean war noch nicht zu betrunken, um sich darüber zu wundern, aber betrunken genug, dass es ihm egal war. Er griff nach seinem Kugelschreiber, ließ ihn über das Papier kreisen, versuchte mehrmals erfolglos, die Spitze an den Anfang der gestrichelten Linie zu setzen und kritzelte seinen echten Namen schließlich halb über die schwarzen Striche, halb darunter, überlegte kurz, übermalte ihn und unterschrieb mit Jean.
Franck nickte, rollte den Vertrag zusammen und steckte ihn zurück zwischen Sakko und Hemd.
Jean prostete dem Produzenten mit der Flasche zu.
„Auf unsere Zusammenarbeit. Und die Selbstzerstörung“, sagte er, trank vier große Schlucke, stellte die Flasche irgendwo ab und lehnte sich zurück.
Der Stuhl schwankte, kippelte, kippte. Jean klammerte sich an der Tischplatte fest, die sich unwirklich anfühlte. Franck sagte etwas, das er nicht verstand. Der Produzent verschwamm, als würde er sich auflösen, mit dem Raum verschmelzen, mit den kreisenden Ventilatoren, den verschlierenden Tischen, den Stimmen, die wie durch Watte gedrückt klangen, dem Klirren, Klappern und Quietschen, mit dem Boden, der sich unter Jeans Füßen in Gummi zu verwandeln schien. Übelkeit traf ihn wie ein Schlag in den Magen, zertrümmerte die Euphorie.
„Tschuldigung ... ich ... ich ...“, stammelte er, presste sich die Hand auf den Mund, blähte die Backen, torkelte in Richtung Klo, stieß fast mit Hans zusammen und verschwand in der Damentoilette.

*

Fred stierte durch den Sucher der alten Kamera, die Jean vor Jahren auf einem Flohmarkt erworben hatte, und drehte am Objektiv herum.
„Lächeln Sie doch mal.“
Jean betrachtete seine Hände, die auf den gegeneinander gepressten Knien lagen und schüttelte den Kopf.
„Kannst du deine Probeaufnahmen nicht woanders machen? Ich fühle mich durch das Ding belästigt“, sagte er.
„Bin sowieso fertig.“ Fred löste sein Auge vom Sucher, drückte auf einen Knopf an der Kamera, steckte die Hände in die Hosentaschen und trottete davon.
„Eigentlich kannst du gleich hier bleiben, ich will mit dir die ...“, Jean unterbrach sich, als er bemerkte, dass Fred nicht reagierte und beendete den Satz trotzig, nachdem der Kameramann das Studio pfeifend verlassen hatte, „... Einstellungen durchsprechen.“
Jean lehnte sich zurück und starrte in die Linse der Kamera, die seinen Blick kalt erwiderte. Er glaubte, sein vages Spiegelbild in dem Objektiv erkennen zu können – das Spiegelbild eines Typen mit Monokel und Baskenmütze, der am Set eines billigen Monsterfilmchens hockte. Jean scharrte mit den Füßen, trommelte auf den Lehnen seines Regiestuhls herum und stand schließlich auf, packte die Kamera am Stativ und drehte sie weg von seinem Stuhl, hin zum Filmset, dann setzte er sich, zog eine Zigarre aus seiner Brusttasche, klemmte sie zwischen seine Lippen und lutschte am Mundstück herum, bis er schwere Schritte auf sich zupoltern hörte. Jean drehte den Kopf und sah Hans angerannt kommen. Für einen Augenblick musste er an die Steinkugel aus Indiana Jones denken.
„Ein Bericht über Sie.“ Sein Assistent wedelte mit einem Magazin, stolperte über Kabelstränge, schrammte an der Kamera vorbei und kam vor Jeans Regiestuhl zum Stehen.
„Im Monstermag. Über zwei Seiten“, keuchte er.
„Was steht denn drin?“ Jean spuckte die Zigarre in seine Hand. Teile vom zerbröselnden Umblatt blieben an seinen Lippen kleben.
„Na ja, dass Sie einen neuen Film drehen. Und ...“ Er blätterte wurstfingrig in dem Magazin. „Und sie werden mit Dick Digger verglichen.“
„Dick Digger?“ Jean schob seine Hand unter die Baskenmütze und kratzte sich über die Haarstoppeln. „Ist das gut oder schlecht?“
„Nun, ich würde Dick Digger in eine Reihe mit Leuten wie Peter Asbest und Joseph Schlaim stellen.“
„Peter Asbest und Joseph Wer?“
„Joseph Schlaim.“
„Ach so. Joseph Schleim. Natürlich.“
„Peter Asbest werden Sie wahrscheinlich unter seinem Pseudonym Monster Pete kennen.“
„Monster Pete?“
„Genau.“ Hans nickte und rollte breit lächelnd das Magazin zusammen.
„Ist das nun gut oder schlecht?“
„Er hat immerhin den Goldenen Tentakelkranz gewonnen.“
„Monster Pete?“
„Nein, Dick Digger.“
„Das ist gut, oder?“
„Nicht nur gut. Das ist großartig.“ Hans breitete die Arme aus, so, als wollte er davon fliegen oder einen Angler beeindrucken.
„Das ist wirklich ...“, Jean quälte verkrampfte Fröhlichkeit in sein Gesicht, „... formidable.“ Wenn er gewusst hätte, dass der Höhepunkt seiner Karriere ein Vergleich mit jemandem namens Dick Digger im Monstermag sein würde, hätte er damals nicht die Kamera gekauft und einen Experimentalfilm über das Leben und Sterben einer Schmeißfliege auf dem Schulklo gedreht. Dieses Projekt in der zwölften Klasse hatte seine gesamte weitere Karriere definiert – er hatte damals Scheiße gefilmt und tat es noch heute.
„Ach ja ...“ Hans Lächeln war zu einem Grinsen mutiert. „Man munkelt, dass sie in diesem Jahr ebenfalls ein Anwärter auf den Tentakelkranz sind.“
„Das ist ja ...“ Lächerlich, entwürdigend, katastrophal. „... großartig.“
„Ja. Es ist schön, wenn man für das, was man tut, anerkannt wird.“
Jean nickte zaghaft und rieb sich die Hände. In ein paar Jahren würde er in Cannes die Goldene Palme den neugierigen Objektiven der Kameras entgegen strecken und solche Demütigungen vergessen haben. Tentakelkranz. Wer immer diesen Spottpreis auch verlieh, sollte daran ersticken.
„Geh und hol Fred. Ich will mit ihm die Einstellungen durchsprechen.“
„Sofort.“ Hans salutierte grinsend mit dem Magazin und stolperte davon.
Jean lehnte sich zurück und schloss die Augen. Nur noch einen Film hinrotzen, dann war es endlich überstanden. Den Sohn des Produzenten ein paar Wochen lang das Monster spielen lassen und endlich aus dieser Jauchegrube kriechen. Dann konnte er Filme drehen, die seinem Talent angemessen waren. Die Parallele zu Kubrick würde dann nicht mehr nur darin bestehen, dass er in Lokusblues eine in der Schüssel ertrunkene und von den Toten auferstandene Klofrau zu den Klängen von Also sprach Zarathustra den Teller mit Trinkgeld in die Luft hatte schleudern lassen. Er würde in einem Atemzug genannt werden mit ...
„Sie wollten mich sprechen, nicht wahr?“
Jean hob die Lider und blickte in das starre Gesicht von Fred.
„Ja, ich möchte die Einstellungen besprechen. Szene ...“
„Acht. Frau 1 geht spazieren. Hört etwas im Gebüsch rascheln. Geht hin. Biegt die Zweige auseinander. Eine Katze springt kreischend heraus.“ Fred winkelte die Arme an, klemmte die Daumen hinter die Träger seiner Latzhose und starrte mit halb geschlossenen Augen über Jeans Kopf hinweg. „Ein billiges Klischee, wenn sie mich fragen, nicht wahr?“
„Bedauerlicherweise frage ich dich aber nicht. Außerdem fällt das Gebüsch weg, weil wir keine Katze haben. Eine echte können wir uns nicht leisten und die Requisite hatte nur noch ausgestopfte Meerschw...“
Frau 1 geht weiter. Entdeckt Leiche im Tümpel. Kreischt. Weicht zurück. Prallt gegen Maschendrahtzaun. Atmet hektisch. Schließt die Augen. Etwas schnauft hinter ihr. Sie ...“
„Das reicht, das reicht. Du kennst das Drehbuch, bon. Aber ich wollte eigentlich die ...“
„Einstellungen durchsprechen, nicht wahr?“
„Genau das hatte ich vor.“
Jean massierte sich die Augen. Manchmal fragte er sich, wie er es geschafft hatte, jahrelang mit diesem Team zu drehen, ohne eines Morgens mit blutigen Händen und dem guten Gefühl aufzuwachen, nie wieder mit diesem Team drehen zu müssen.
„Also?“ Fred dehnte die Träger seiner Hose und drückte den Rücken durch.
„Nun, ich habe mir überlegt, dass wir meine Kamera ins Bild stellen könnten, damit es so aussieht, als würden wir die Kamera filmen, die den Film filmt.“
„Warum sollten wir sowas tun?“
„Weil die Filmkamera ein rechteckiges Trugbild aus der Wahrheit stanzt. Sie muss gut lügen können. Meine Kamera kann das aber nicht, ohne rot zu werden.“
Jean hatte dieses Zitat kürzlich irgendwo gelesen und glaubte, dass es genau das sagte, was er sagen wollte.
„Und was hat das jetzt mit dem Filmen der Filmkamera zu tun?“ Fred schob sich einen Zahnstocher zwischen die Zähne.
„Na ja, es erschafft eine zweite Ebene der Fiktion. Diese ganze Merde hier verwandelt sich von einer kläglich gescheiterten Illusion zurück in ein Filmset. Ein fiktives Filmset. Euer realer Dilettantismus wird fiktionalisiert. Die Anwesenheit der fiktiven Filmkamera entbindet die reale Kamera von der unerfüllbaren Pflicht zur Perfektion.“ Jean schloss die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken und atmete Tief durch die Nase ein, sog seine Worte, Sternenstaub, der in der Luft schwebte, wie Kokain auf; ästhetische Konstrukte gossen sich aus Himmelsblau, gedankenblitzende Wolken fetzten durch die sich verästelnden Streben, der Boden brach auf, dampfende Wasserfontänen ejakulierten aus Erdspalten auf wuchernde Wiesen der Ideen, die sich bis zum Horizont erstreckten, an denen Visionen schemenhaft flirrten, wie Nebel waberten und ...
„Perfektion erwartet doch sowieso niemand von Ihnen, nicht wahr?“
Jean hob langsam die Lieder und ließ seinen Kopf nach vorne sinken. Sein Nacken schmerzte und die Punkte, die vor seinen Augen tanzten, sahen nicht nach Sternenstaub aus.
„Aber ich will wenigstens ein kleines Stück Würde vor den Klauen des Trash retten.“ Jean rieb am Mundstück der Zigarre, das über den Rand seiner Tasche lugte. „Außerdem ist so was Kunst.“
„Vielleicht.“ Fred legte seinen Kopf schräg und kratzte sich hinter dem Ohr. „Der Haken an der Sache ist, dass wir nur eine Kamera haben.“
„Und was ist mit deiner Handkamera?“
„Kaputt und verschrottet.“ Fred spuckte den halbzerkauten Zahnstocher auf den Boden. „Aber ich könnte vielleicht kurz durchs Bild laufen und winken. Würde doch das Gleiche bei rauskommen, nicht wahr?“
Jean tat so, als würde er über den Vorschlag nachdenken und schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Nein, das lassen wir lieber.“
Fred zuckte mit den Schultern.
„Sonst noch was?“
„Ja. Geh mit der Kamera bitte am Tümpel in Stellung. Ich möchte mit einer Aufnahme durch das Schilf beginnen.“
Fred nickte, steckte seine Hände in die Taschen und schlenderte zur Kamera.
„Und nimm die Plane mit“, rief Jean ihm nach. „Es wird regnen.“
Natürlich würde es das. In solchen Filmen musste es immer regnen, stürmen oder gewittern. Am besten alles zusammen. Und alles in der Nacht. Schreckliche Dinge geschahen immer bei schrecklichem Wetter. Und in der Nacht. Aber Jean hatte sich dem bisher widersetzt, indem er seine Filme immer nur tagsüber hatte spielen lassen. Einigen Konventionen des Genres musste er sich natürlich beugen, dennoch achtete er stets darauf, Regeln bewusst zu brechen, um kein Sklave des Klischees zu werden. Außerdem stand ihm kein Day-for-Night-Filter zur Verfügung, aber das betrachtete er eher als eine Bestätigung, denn als Grund.
„Sieht der nicht zu echt aus?“, fragte Hans, der neben den Regiestuhl getreten war.
Jean sah zu Eddie Calzone hinüber, dem Mann, der seit HeuSchrecken in jedem seiner Filme für die schwierigen Rollen zuständig war und schüttelte den Kopf.
„Was sieht daran zu echt aus? Er hat sich noch nicht mal rasiert, die Perücke sieht aus wie ... wie ... eine Perücke und die Stöckelschuhe sind mindestens ...“
„Nein, ich meine dieses ... Ding.“ Hans deutete auf die mannshohe Mischung aus Reptil und Papagei, die neben dem künstlich angelegten Tümpel stand.
„Hat halt ein ausgezeichnetes Kostüm, der Junge. Was ist an echt schlecht?“, fragte Jean und freute sich über den Reim.
„Na ja, Sie wissen doch, was Ihre Fans von Ihnen erwarten.“
Jean beobachtete Ludwig dabei, wie er am Waldmeisterwackelpudding schnüffelte, der aus einer mit einem Biogefährdungssymbol bemalten Regentonne glibberte.
„So?“
„Nun, Monster sollten nicht aussehen wie Monster, sondern wie ...“, Hans stockte, als Ludwig sich ein Stück Stacheldraht in den Schnabel schob, „... wie Schauspieler in Monsterkostümen. Oder wie billige Modelle. Glauben Sie wirklich, jemand würde sich Godzilla ansehen, wenn ... Hey, lass das.“ Hans fuchtelte mit den kurzen Armen, aber Ludwig, der eine der mickrigen Baumattrappen ausgerissen hatte und sie gegen die blaubemalte Sperrholzplatte schlug, die wie ein Himmel wirken sollte aber immer wie eine blaubemalte Sperrholzplatte aussah, achtete nicht auf ihn, sondern knallte die Äste weiter gegen das bebende Firmament, bis ein Plastikvogel auf den mit Sand und Schutt bedeckten Setboden fiel.
Jean seufzte. Es schien ein ganz normaler Drehtag zu werden.
„Ecoutez“, rief er und klatschte in die Hände. „Attention. Wir beginnen mit Szene acht. Bitte alle auf ihre Positionen.“
Niemand bewegte sich. Jean sah auf seine Uhr. Bis zum Abend mussten alle Szenen hier im Kasten sein, denn ab Morgen war das Studio an eine Pornoproduktion vermietet. Der Rest des Machwerkes würde in Privatwohnungen oder irgendwo im Freien gefilmt werden. Natürlich ohne Drehgenehmigung.
„Na los. Na los. Allez.“ Jean pfiff. „Hans. Hol Victor und sag ihm, er soll sich ein wenig Kunstblut über den Bauch gießen und das Gesicht weiß pudern. Er soll aussehen wie ... wie eine zerfetzte weiße Seerose im Morgenlicht.“
Hans nickte und eilte in Richtung Garderobe, während Eddie durch den Schutt stöckelte und den Szenenbildner wüst beschimpfte, Fred im Schlamm kniete, mit dem Kameraobjektiv durch das Schilf pflügte und Rainer, der Tontechniker, irgendwelche Kabel verlegte.
„Beeilt euch. Wir haben keine Zeit. Wir ...“ Jeans Blick fiel auf Hans, der bleich und zitternd aus der Garderobe schlich, aussah, als könnte er jeden Augenblick auseinander fallen wie eine alte Porzellanpuppe.
„Sie müssen ... Sie müssen sich das ansehen. Vic... Victor ... es ist schrecklich. Ganz schrecklich.“
„Was ist denn los?“, fragte Jean, Hans hatte sich aber bereits wieder umgedreht und torkelte davon.
„Schrecklich“, murmelte er. „Einfach schrecklich.“
Jean stand langsam auf und folgte ihm. Hans wurde bereits hysterisch, wenn sich jemand in den Finger schnitt, allzu schlimm würde das, was ihn aus der Fassung gebracht hatte, vermutlich nicht sein.

*

Mit Victor hatte es bisher nie Probleme gegeben. Für gewöhnlich war er gekommen, hatte sich geschminkt, seine Rolle gespielt und war wieder verschwunden, ohne mit jemandem ein Wort gewechselt zu haben. Einer der besten Leichendarsteller, mit denen Jean je gearbeitet hatte – und wie es schien, war er noch besser geworden.
„So eine Scheiße“, flüsterte Hans heiser und kotzte auf das halbverdaute Frühstück, das Jean kurz zuvor auf den Boden gewürgt hatte. „Was solln wir jetzt machen?“
„Keine Ahnung.“ Jean stützte sich am Türrahmen ab und starrte in den kleinen Raum. Victor hing schlaff auf einem alten Bürostuhl vor dem Schminkspiegel, in dem ein bleiches Gesicht hinter einem Vorhang aus Blut hervorlugte, der langsam fiel, dem Rahmen entgegen sank.
„Wir müssen einen Krankenwagen rufen.“
„Den braucht er wohl nicht mehr.“
„Oder ... oder die Polizei.“
Jean wendete sich ab, ging ein paar Schritte, lehnte den Rücken gegen die Wand und begrub sein Gesicht zwischen den Händen. Er hatte während Dreharbeiten schon eine Menge Scheiße erlebt, aber noch nie ...
Etwas piepste. Jean ließ die Hände sinken und sah Hans auf der Tastatur eines Mobiltelefons herumdrücken.
„Was machst du da?“, fragte er.
„Die Polizei anrufen. Was denn sonst?“
„Die Po...“ Jean massierte sich die Schläfen. „Die Polizei? Aber ...“
Hans hob das Handy ans Ohr, wartete, blickte auf das Display, fluchte leise und wählte ein zweites Mal.
Die Polizei? Was sollte aus dem Film werden? Polizei, Ermittlungen, Verzögerung der Dreharbeiten, vielleicht sogar Abbruch. Und kein Film bedeutete ...
„Hey“, rief Jean. „Leg sofort auf.”
Hans starrte ihn verständnislos an, ließ die Hand mit dem Handy aber sinken und drückte auf eine Taste.
„Warum ...“
„Diese verdammte Geschichte könnte das Ende des Films bedeuten und du weißt doch, was für mich auf dem Spiel steht.“
Hans sah ihn an, als würde er in komplexen mathematischen Gleichungen sprechen.
„Wenn ich meinen Vertrag nicht erfülle, dann ... dann ...“ Er riss sich die Baskenmütze vom Kopf und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. „Die Sache ist nie passiert, hörst du? Ich drehe diesen Film, auch wenn es das letzte ist, was ich tue.“
„Aber was ...“
„Schick die Leute weg. Sie sollen vom Set verschwinden. Alle.“
„Was soll ich ihnen denn ...“
„Was weiß ich? Sag ihnen, es ist Mittagspause.“
„Um halb neun?“
„Verdammt, dann halt Frühstückspause.“
„Aber die war doch schon.“
„Sag ihnen meinetwegen, dass draußen jemand steht und Talent verschenkt, aber sorg verdammt noch mal dafür, dass die Leute für ein oder zwei Stunden verschwinden.“
„In ... in Ordnung.“ Hans schlich zögernd davon, während Jean sich seine Baskenmütze wieder auf den Kopf setzte und versuchte, sich zu beruhigen. Es war ein normaler Drehtag, ein ganz normaler Drehtag.

*

„Sieht das nicht zu echt aus?“
Eddie Calzone beugte sich vorsichtig über den Tümpel, in dem Victor zwischen Schilf und Plastikseerosen trieb.
Jeans Finger krampften sich um die Lehnen des Regiestuhls.
„Du weißt doch, wie sehr Victor auf ... Perfektion achtet“, rief er.
„Aber diese Halswunde sieht total ...“
„Wir drehen jetzt“, brüllte Jean. „Alle auf ihre ... weg da, hau ab.“
Fred ließ den Schilfhalm fallen, mit dem er Victor im Ohr gebohrt hatte und zuckte mit den Schultern.
„Sonst hat ihn das immer aufgeregt, nicht wahr?“, sagte er und griff nach der Kamera.
Jean zog eine kleine, silberne Flasche aus seiner Hosentasche, schraubte den Verschluss ab und setzte sie an die Lippen. Ein normaler Dreh. Ein völlig ...
„Warum muss ich wieder diese dreckige Perücke tragen?“ Eddie hatte die Hände in die trotz des Korsetts breiten Hüften gestemmt und scharrte mit den Stöckelschuhen im Kies.
Jean leerte die Flasche und zitterte den Verschluss wieder auf das Mundstück.
„Weil eine Frau mit Glatze einfach ...“
„Du weißt genau, was ich meine.“
Jean lehnte sich zur Seite und sah an Eddie vorbei zum Tümpel, an dessen Ufer Ludwig kniete. Er hatte sich über das Wasser gebeugt und schnupperte an Victors linkem Arm.
„Also?“
„Jemand muss es tun.“
„Ich hab es satt, in fast jedem Film diese bescheuerten Kleider zu tragen. Ich meine, wenn es wenigstens schöne Kleider wären ...“
„Du weißt doch, dass das einfach dazu gehört. Die Zuschauer wollen ...“
„Scheiß auf die Zuschauer.“
„Es ist doch nur für eine Szene. Außerdem hat das doch schon Tradition.“
Seit Jean Eddie vor Jahren einmal in einer weiblichen Nebenrolle eingesetzt hatte, weil die Schauspielerin, die ursprünglich dafür vorgesehen war, den Fehler gemacht hatte, vorher das Drehbuch zu lesen, war es ein Merkmal seiner Filme, Eddie kurz in Frauenrollen auftreten zu lassen. Den Zuschauern gefiel es anscheinend, aber Jean interessierte die glotzende Masse genauso wenig, wie sie Eddie interessierte. Er hatte beschlossen, in diesen kurzen Auftritten ein Symbol für Jungs Anima zu sehen. Zumindest erzählte er das jedem, der es wissen wollte. Und denen, die es nicht wissen wollten.
„Und was ist mit den anderen Rollen? Haben die auch Tradition? Wollen mich die Zuschauer als den Mann aus der Mülltonne sehen? Oder als den heliumabhängigen Luftballonverkäufer aus Szene dreiunddreißig?“
„Ja .... ich meine nein. Ich weiß nicht ... vielleicht“, stammelte Jean, ohne die Frage verstanden zu haben.
Ludwig hatte sich inzwischen einen von Victors Fingern in den Schnabel geschoben und knabberte daran herum. Jean sah sich hastig am Set um – Fred war damit beschäftigt wild gestikulierend auf die Kamera einzureden, Rainer hatte sich wieder seinen Kabeln gewidmet und der Szenenbildner reparierte den Plastikbaum. Niemand schien Ludwig zu beachten.
„Du hörst mir überhaupt nicht zu.“
„Was?“
„Du tust es schon wieder nicht.“
„Was tu ich nicht?“
„Mir zuhören.“
Blut tropfte von Ludwigs Schnabel, etwas knackte leise. Jean holte ruckartig aus und warf die Flasche in Richtung Tümpel, wo sie platschend ins Wasser fiel. Der Monsterdarsteller sah auf, wobei ihm der Finger aus dem Schnabel rutschte, dann erhob er sich und wich auf Jeans Handwedeln hin einige Schritte zurück. Eddie blickte sich um, runzelte die Stirn und sah dann wieder zu Jean, der mit Hakenfingern seinen Kragen lockerte.
„Da war ne Mücke auf Victors Stirn und da dachte ich, ich nehm die ... die Flasche und ...“
„Du wolltest doch nur wieder ablenken. So, wie du es immer tust. Wenn ein Gespräch dem Herrn Regisseur zu unangenehm wird, dann ...“ Eddie ballte die Faust und schlug sie auf ein imaginäres Objekt. „... zack. Aus und vorbei.“
„Eddie, ich versteh dich ja, aber würdest du jetzt bitte ...“
„Alles, was ich verlange, ist ein wenig Respekt. Hörst du?“ Er sah an sich herab und zupfte grob an seiner Bluse. „Und vielleicht schönere Klamotten. Wer will denn schon in solchen Fetzen rum laufen?“
„Meinen Respekt hast du jetzt schon, die Kleider gibt es später.“
„Meinst du das ehrlich?“
„Natürlich meine ich das ehrlich. Jetzt mach dich bitte bereit. Wir wollen ...“
„Das klingt aber nicht so, als würdest du es ehrlich meinen.“
„Jetzt beweg deinen beschissenen Arsch zum Zaun und mach dich bereit“, brüllte Jean und sprang auf.
Seine Hand verkrampfte zur Faust, wollte Eddie den erschrockenen Ausdruck aus der geschminkten Visage prügeln, stattdessen lockerte sie sich und klopfte ihm auf die Schulter.
„Geh jetzt bitte auf deine Position. Wir wollen drehen“, sagte er und versuchte, freundlich zu klingen, doch die Worte entwichen ihm wie Luft einem Überdruckventil.
Eddie nickte verunsichert, ging ein paar Schritte zurück, drehte sich dann um und eilte zum Maschendrahtzaun.
„Fred, die Schilfaufnahme ist gestrichen. Ich will eine Totale. Rainer, versuch das Mikro bitte nicht zu oft ins Bild zu halten.“ Jean klatschte in die Hände. „Regen, bitte.“
Leitungen ächzten, als würde man Kartoffelbrei hindurch pumpen, dann platschten vereinzelte Wassertropfen von der Decke.
„Ich wollte Regen und kein undichtes Hallendach.“
„Das ist Regen. Mehr ist nicht drin.“
Jean winkte ab. Er hatte weder Zeit noch Lust, sich über Kleinigkeiten aufzuregen. Wichtig war nur, hier so schnell wie möglich fertig zu werden.
„Eddie, du gehst langsam zum Tümpel. Ganz natürlich. Bewege dich so, als würde dich ein Frühlingswind sanft schubsen, dir den Rücken streicheln.“ Jean verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Und Action.“
Eddie stakste und stolperte los, interpretierte den Frühlingswind als Schaufelradbagger, der Regen prustete stotternd vom Hallendach, Fred schien unter einer Totalen das Filmen durch seine gespreizten Finger zu verstehen und Rainer verlegte immer noch Kabel.
Jean schloss die Augen, zählte langsam bis zehn und rief: „Très bien. Ausgezeichnet.“
„Aber ...“
„Ich sagte ausgezeichnet. Wir machen kurz Pause und danach geht’s mit Nummer fünfzehn weiter.“
Es war Jean völlig egal, ob die Szene gelungen war, oder nicht. Wichtig war nur, dass sie im Kasten war. Ein toter Leichendarsteller ließ einen unkritischer werden, als man aus Budgetgründen sowieso schon zu sein hatte.
„Alle Mann raus hier.“

*

Jean knallte den Kofferraumdeckel zu und stützte sich schweratmend auf das verbeulte Blech.
„Was wollen Sie mit der Leiche anstellen?“, fragte Hans, während er in einem Metalleimer herum stocherte, in dem blutige Putzlappen verbrannten.
„Weiß nicht. Ich mach das auch zum ersten Mal.“
Hans rundes Gesicht glühte im knisternden Feuerschein, der die Gasse mit zuckenden Schatten füllte.
„Wollen Sie die Sache wirklich durchziehen? Ist es Ihnen das wert?“
„Ich drehe diesen Film. Koste es, was es wolle.“ Jean hörte seine Stimme kaum. Es war ein anderer, der sprach, ein anderer, dem das alles passierte.
„Sie haben eine Leiche im Kofferraum und einen Mörder in der Crew.“ Hans riss die Stange aus dem Eimer und fuchtele damit herum. „Glauben Sie nicht, dass all das diesen bescheuerten Film mehr behindern könnte, als wenn Sie einfach die Polizei rufen würden? Glauben Sie nicht, dass die ganze Geschichte irgendwann sowieso auffällt?“ Er deutete mit zitternder Eisenstange auf Jean. „Man wird Sie verdächtigen, verdammt. Weil Sie einen beschissenen Mord vertuschen und eine beschissene Leiche in Ihrem beschissenen Kofferraum durch die Gegend kutschieren.“ Er warf die Stange auf den Boden und fuhr wild gestikulierend fort: „Und was ist mit mir? Ich bin genauso angeschissen wie Sie, weil ich auch noch so bescheuert bin und Ihnen dabei helfe.“
Jean suchte verzweifelt nach beruhigenden Worten, kam aber über ein heiseres „Stimmt“ nicht hinaus.
„Wir sollten wirklich die Polizei einschalten.“
Jean stieß sich von der Karosserie ab, ging ein paar Schritte bis zum Ende der Gasse, stopfte seine Hände in die Hosentaschen, hörte das ferne Rauschen der Autobahn, das kühl durch das verlassene Gewerbegebiet wehte, starrte mit hochgezogenen Schultern in die von Straßenlaternen ausgebleichte Nacht.
Er war schon zu weit gegangen, um den Schwanz einzuziehen. Zu spät, um das Drehbuch zu ändern.
„Wir machen weiter.“
„Und was ist, wenn er wieder zuschlägt? Wollen Sie Fred ans Kamerastativ binden und erzählen, er hängt einfach total an dem Ding? Oder Eddie als Frau verkleidet in einen Schaukelstuhl setzen und es als Hommage an Psycho verkaufen?“ Hans’ Schritte hallten durch der Gasse. „Vielleicht erwischt es auch mich oder ... oder Sie.“
„Es war bestimmt nur ein ... Unfall.“
„Ein Unfall? Er hat sich also versehentlich beim Schminken den Hals aufgerissen, was? Wahrscheinlich hat er den Pinsel mit einem Käsehobel verwechselt.“
Jean starrte schweigend auf seine Schuhe. Er hatte Tränen immer für ein Requisit aus Melodramen gehalten, doch jetzt hätte er am liebsten geheult.
„Ich hab das hier beim Saubermachen gefunden.“ Hans packte Jean an der Schulter, drehte ihn herum und hielt ihm seine geöffnete Hand unter die Nase.
„Was ist das?“, fragte er und stupste den kleinen blauen Fleck an, der an Hans Haut klebte.
„Eine Schuppe. Von Ludwigs Kostüm.“
„Das hat nichts zu bedeuten.“
„Jemand muss es getan haben.“ Hans patschte mit dem Zeigefinger auf der Schuppe herum. „Er ist der Neue. Er verhält sich seltsam. Verdammt seltsam sogar. Und dann diese Schuppe in der Garderobe.“
„Hör zu. Ludwig mag seltsam sein. Die ganze Sache mag seltsam sein. Aber so eine Chance bekomme ich nie wieder. Ich kann endlich zeigen, was ich wirklich drauf habe. Ich bin Künstler und muss so einen Scheiß drehen. Das, was ich tue, entspricht einfach nicht dem, was ich bin.“
„Man ist, was man tut“, sagte Hans und rieb sich dabei die tränenden Augen.
„Aber man kann nicht immer das tun, was man wirklich will. Dieser Vertrag reißt endlich die Mauern nieder, die mich die ganze Zeit eingeschränkt haben.“ Jean stieß Hans beiseite und eilte an ihm vorbei zum Seiteneingang. „Wir ziehen das jetzt durch.“

*

„Sieht das echt genug aus?“
Jean betrachtete sich im Garderobenspiegel, krempelte die zu langen Ärmel von Victors Jeansjacke um und strich mit den Fingern durch das verfilzte Perückenhaar, das wie schwarze Wolle auf seinen Schultern lag.
„Ich hoffe es“, sagte Hans, der an einem Kleiderständer lehnte und sein Zittern auf die Bügel übertrug, die nervös klapperten.
„Muss ja nur von hinten halbwegs überzeugend aussehen.“ Jean betrachtete sich im Profil. „Darf mich halt nicht umdrehen. So wie Theseus.“
„Orpheus.“
„Was?“
„Das mit dem Umdrehen war Orpheus und nicht Theseus.“
„Kann sein.“ Jean zuckte mit den Schultern und kehrte seinem Spiegelbild, das sich in eine schlechte Victorkopie verwandelte, den Rücken zu. „Was heute passiert ist, bleibt unter uns, klar? Ich muss mich hundertprozentig auf dich verlassen können.“
„Das konnten sie doch immer.“ Hans versuchte sich an einem Lächeln, doch in seinem bebenden Gesicht fand es keinen Halt.
„Gut.“ Jean klopfte ihm auf die Schulter.
„Sie wissen, dass ich nie etwas tun würde, das ...“ Hans stöhnte und verdrehte die Augen. Der letzte Rest an Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Er packte Jeans Arm und sackte zusammen, hing an ihm wie ein Betonklotz, zwang ihn in die Knie, dann löste sich sein Griff. Er sank auf den Hintern und legte seinen Rücken gegen die Wand.
„Das ist einfach alles zuviel für mich. Ich ...“
Jean zischte und presste sich den Zeigefinger gegen die Lippen.
„Hast du das auch gehört?“, fragte er.
Sein Assistent nickte schwerfällig und sah zur Tür.
Jean wandte sich wieder dem Spiegel zu, zupfte an seinem Kragen herum, wischte sich Haarsträhnen aus dem Gesicht und lugte dann vorsichtig auf den Gang hinaus.
„Sie kommt“, flüsterte er.
Eine Frau mit blauem Kittel und rotem Kopftuch schlurfte um die Ecke, zog einen Wagen mit Putzutensilien hinter sich her, kam schnaufend näher. Ihren weißstieligen Mopp hielt sie wie eine Lanze.
Jean riss seinen Kopf zurück, eilte zu Hans und half seinem Assistenten auf die Beine. Das Rumpeln war verstummt und einem feuchten Schmatzen gewichen.
„Geht es wieder?“
Hans machte dicke Backen, drückte die Handballen auf seine Augen, ließ sie kreisen und schob sie dann zu den Schläfen.
„Es muss“, keuchte er. Seine herabsinkenden Hände hinterließen rote Spuren auf seinen Wangen.
„Du packst das schon.“ Jean tätschelte ihm den Hinterkopf und ging zurück zur Tür.
Der Wagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Die Putzfrau summte die Melodie von Charles Aznavours Tu t'laisses aller.
Jean gab Hans ein Handzeichen, dann schob er sich seitlich aus dem Raum und blieb auf dem Gang stehen. Das Rumpelgesumme hinter seinem Rücken verstummte.
„Auf Wiedersehen“, rief Hans pflichtgemäß, verschwieg aber das Victor.
Jean verdrehte die Augen und soufflierte unauffällig mit der rechten Hand, während er auf das Stichwort für seinen Abgang wartete. Hinter ihm hustete die Putzfrau trocken und räusperte sich.
„Sind Sie nicht Rex Cumlord?“, fragte sie.
Victor schüttelte den Kopf, während Jean sich gegen die Brust tippte, mit den Fingern ein energisch zitterndes V formte und hoffte, dass Hans seine Zeichen bemerken würde.
„Tschuldigung. Dachte nur wegen der Frisur und so.“ Der Mopp matschte wässrig. „Ach, die Pornoleute kommen ja erst morgen. Heute waren ja diese Monsterheinis dran.“ Sie klang enttäuscht
Jean lehnte sich vorsichtig zur Seite und klopfte gegen den Türrahmen.
„Auf Wiedersehen, Hans“, rief er.
„Auf Wiedersehen.“ Die Kleiderbügel klapperten.
„Sind Sie etwa einer von diesen Monstertypen?“
„Ja“, sagte Jean vorsichtig. Er hatte nicht mit einer Sprechrolle gerechnet und spielte kurz mit dem Gedanken, seine Stimme zu verstellen, verwarf diese Idee aber gleich wieder. „Leichendarsteller.“
Wasser pladderte auf den Fußboden.
„Leichendarsteller? Und ich dachte schon, mein Job wär beschissen.“
Jean schielte in die Garderobe und sah aus den Augenwinkeln, dass sein Assistent aus dem Bild, das der Türrahmen eingrenzte, verschwunden war. Er seufzte leise. Wenn Hans Eli Wallachs Clint Eastwood gewesen wäre, dann wäre Zwei glorreiche Halunken vorbei gewesen, bevor er richtig angefangen hätte.
„Sind Sie eigentlich Rückenredner oder einfach nur unhöflich?“
„Ich ...“ Jean scharte mit den Füßen. „Eine seltene ... psychische Störung. Angst vor ... vor dem Umdrehen. Wissen Sie? Das Theseussyndrom.“
„Orpheus, verdammt“, rief eine Stimme aus dem Off, die Hans gehörte. „Der Kerl heißt Orpheus.“
Jean ballte die Fäuste und fügte seiner imaginären To-Do-Liste ein fettes Hans totschlagen hinzu. Die Putzfrau schnaubte.
„Seh ich etwa aus wie Eurydike?“, fragte sie.
„Wer?“
„Die Tussi von Orpheus.“ Ein leichtes Nuscheln, das sich in ihre Aussprache geschlichen hatte, ließ vor Jeans innerem Auge das Bild eines Kinns entstehen, das auf einem handbedeckten Mobstiel ruhte. „Der Typ war einfach zu gierig, wenn Sie mich fragen. Wollte nicht warten, bis die Tore der Unterwelt hinter ihnen gelegen hätten. Nein, er wollte Eurydike, die Tote, das Wunschbild, die Erinnerung, die Idee, durch seinen Blick zu Fleisch werden lassen. Orpheus, der hochmütige Künstler, wollte ihr Schöpfer sein und diesen Akt nicht der Gnade der Götter überlassen. Er wollte sehen und damit das erschaffen, was er zu sehen hoffte. Orpheus hat seine Macht überschätzt. Und dafür musste er bezahlen.“ Ihre Stimme klang nach halbgeschlossenen Augen, die ins Leere blickten. „Tja, die Kunst, die Autoapotheose der Sterblichen, kann Sisyphos zwar für einen Moment seinen Stein vergessen lassen und Ixions Rad anhalten, aber nicht den Tod besiegen. Tragisch.“ Ihr Kittel raschelte energisch. Jean dachte an Vögel, die, plötzlich aufgeschreckt, in den trägen Morgenhimmel stoben. „Und die Kunst wird auch nicht verhindern können, dass ich Ihnen meinen Mob in den Arsch ramme wenn Sie nicht endlich den Weg frei machen. Ich will heute noch fertig werden.“
Jean kratzte sich am Kopf und verschob dabei versehentlich seine Perücke. Er zupfte unauffällig an den Zotteln herum, bis er das Gefühl hatte, dass der künstliche Haarschopf wieder einigermaßen gerade saß.
„Wird’s bald?“ Die Putzfrau knurrte bedrohlich.
Jean machte zwei stolpernde Schritte und blieb dann wieder stehen.
„Ich bin übrigens Victor“, sagte er. „Victor Pasadelsky.“
„Schön für Sie.“ Der Mob stieß gegen seine Hacken. „Soll ich Ihnen ne rituelle Fußwaschung verpassen?“
„Bin ja schon weg.“ Jean setzte sich in Bewegung und hob zum Abschied flüchtig die Hand.
„Wussten Sie eigentlich schon, dass Meister Propper ein Faschist ist?“, rief ihm die Putzfrau hinterher.
Jean verspürte keinerlei Bedürfnis, sich auf eine Diskussion über das politische Weltbild von fiktiven Putzmittelpersonifikationen einzulassen, ignorierte die Frage und beschleunigte seine Schritte, hetzte über das Neonlicht, das wie breitgetreten auf dem Boden klebte, bog ab, eilte zur Haupttür und legte seine Hand auf die Klinke.
„Auf Wiedersehen.“
Er zuckte zusammen und widerstand dem Reflex, sich umzudrehen, erkannte die Stimme, die irgendwo aus dem Dämmerlicht der Nachtbeleuchtung zu ihm drang, jedoch sofort. Es war die von Eddie.
„Auf Wie...“ Jean unterbrach sich, als ihm bewusst wurde, dass es ein Fehler gewesen war, überhaupt den Mund aufzumachen.
Er stieß die Tür auf, eilte hinaus, bog in die Seitenstraße ein, in der sein Auto stand, riss sich die Perücke vom Kopf, zog die Jacke aus, knüllte sie zusammen, öffnete die Fahrertür und ließ das Knäuel fallen. Ludwig hockte auf dem Beifahrersitz und nickte ihm zu.
„Guten Abend“, sagte er.
Jean nickte zurück, knallte die Tür zu und stürmte aus der Gasse auf die Hauptstraße, wo er mit Eddie zusammenstieß, der fluchend vom Bordstein stolperte und auf seine Tasche trat, die ihm aus der Hand gerutscht war.
„Pass doch auf, verdammt.“
Jean zog seine zerknüllte Baskenmütze aus der Hosentasche und bedeckte sein Haupt.
„Na, noch hier?“, fragte er, nur um irgendetwas zu sagen.
„Da du mich grade umgerannt hast, ist die Wahrscheinlichkeit dafür recht hoch.“ Eddie griff nach seiner Tasche.
„Ich muss jetzt ...“, sagte Jean und deutete in die Gasse. „Also, man sieht sich.“
„Eigentlich könntest du mich auch ein Stück mitnehmen.“
„Ich ... das ist schlecht, weil ... ich muss ...“
„Danke“, flötete Eddie, klopfte Jean auf den Rücken, schlenderte an ihm vorbei in Richtung Auto und warf sich seine Tasche über die Schulter. „Ist der Kofferraum offen?“
„Ja, der ...“ Jean riss die Arme hoch und hetzte Eddie hinterher. „Nein, ist er nicht.“
Er überholte ihn, stellte sich vor den Kofferraum, überprüfte, ob er tatsächlich abgeschlossen war, tastete sich an der Karosserie entlang zur Fahrertür und schob mit dem Fuß Perücke und Jeansjacke unter den Wagen.
„Hör zu, ich kann dich wirklich nicht ...“
„Wir haben doch sowieso fast den selben Weg“, sagte Eddie, zog die Beifahrertür auf, stutzte, murmelte etwas, schlug sie wieder zu und stieg hinten ein, folgte seiner Reisetasche, die er auf den Rücksitz geworfen hatte.
Jean legte die Arme auf das Autodach und seine Stirn auf die Hände. Wenn er darauf hätte wetten können, in eine Polizeikontrolle zu geraten oder in einen Unfall verwickelt zu werden, er hätte sein letztes Geld bereitwillig einem Buchmacher auf den Tisch geschmissen.
Jean hob den Kopf und kramte ein Schlüsselbund aus seiner Hosentasche. Wenn es sich bei den paar Kröten und der niedrigen Quote überhaupt gelohnt hätte.
Er bückte sich, zog Jacke und Perücke unter dem Auto hervor und verstaute sie hastig im Kofferraum.

*

„Wohin willst du eigentlich?“, fragte Jean und blickte auf die Tachonadel, die an der Fünfzig klebte.
„Du weißt doch genau, wo ich ...“
„Ich meinte Ludwig.“
„Ich will da hin, wo Sie hin wollen.“
„Was soll das heißen?“
„Genau das, was ich gesagt habe.“
Jean betrachtete Ludwig aus dem Augenwinkel. Der Schein von Straßenlaternen huschte über sein starr auf die Frontscheibe gerichtetes Gesicht, das auf Jean alles andere als bedrohlich wirkte. Mit der spitzen Nase, den abstehenden Ohren und den eingefallenen Wangen erinnerte er ihn ein wenig an die Koboldhandpuppe, die er in Der Satanszwerg tanzt Limbo eingesetzt hatte, und er hätte den Gedanken wohl erheiternd gefunden, wenn der Gedanke an die blaue Schuppe in Hans’ Hand nicht weitaus weniger erheiternd gewesen wäre.
„Dein neuer Monsterfreund ist ganz schön anhänglich, was?“ Eddie kicherte und schlug gegen Jeans Rückenlehne.
„Ich meine, du ... du musst doch irgendwo hinwollen. Irgendwo wohnen, oder so.“
„Natürlich.“
„Und wo?“
„Da, wo Sie wohnen.“
Jean setzte den Blinker, bog ab und beschleunigte vorsichtig. Der Wagen brummte durch die tote Vorstadtnacht. Häuser lagen wie weggeworfen und vergessen am Straßenrand, gelbes Ampellicht tropfte auf den Asphalt und aus den Autolautsprechern drang das Jaulen von Kojoten. Vielleicht waren es auch Wölfe. Jean drehte das Radio leiser, als ein Presslufthammerstakkato das Geheul zerdröhnte, das kurz darauf auch noch von dissonantem Fiepen überlagert wurde, welches in das Rauschen des Windes, in das Rauschen von Blättern überging, unterlegt von flüsternden Sägen, die stetig lauter wurden, lauter, lauter, lauter, bis ihr Kreischen die Boxen zerschnitt, dann verstummten sie und eine Stimme rezitierte dumpf ein Gedicht über den Winterwald.
„Was ist denn das für eine Scheiße?“, fragte Eddie, der an den Schlägen gegen Jeans Rückenlehne inzwischen Gefallen gefunden zu haben schien..
„Das ist keine Scheiße, das ist eine avantgardistische Soundcollage.“
„Und was soll das bedeuten?“
„Das bedeutet, dass ... dass ...“ Jean rüttelte am Schaltknauf und tat so, als würde er klemmen, bemerkte, dass er tatsächlich klemmte und würgte ihn in den vierten Gang. „Das bedeutet, dass sie avantgardistisch ist.“
Eddie schlug noch einmal gegen Jeans Rückenlehne, dann ratschte ein Reißverschluss. Kurz darauf zischte der Gestank vaporisierter Tannennadeln ins Wageninnere.
„Fichtenwinter“, sagte Eddie. „Passt doch gut zu deinem komischen Klangmüll.“
Jean hustete und kurbelte das Fenster herunter. Hereinströmende Nachtluft verdünnte den Dunst.
„Wenn du noch einmal eines dieser widerlichen Duftsprays hier drinnen benutzt, dann fliegst du raus.“ Jean wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum.
„Gilt das Verbot auch für Zimt-Zitronen-Brise?“
Jean hörte Mischkugeln in einer Dose klappern.
„Ja, es gilt auch für Zimt-Zitronen-Brise.“
„Und was ist mit ...“
„Halt die Klappe.“
Jean fühlte sich, als würde er Leim schwitzen; das Lenkrad klebte an seinen Händen, die Hose an den Beinen, das Hemd am Rücken. Er kurbelte das Fenster weiter herunter und sog die kalte Luft ein.
„Lebst du eigentlich im Aquarium oder im Terrarium? Obwohl man ein Leben im Wasser bei diesem Gestank eigentlich ausschließen kann“, murmelte Eddie kaugummischmatzend, klopfte gegen Ludwigs Kopfstütze und lachte über seinen eigenen Witz.
„Halt die Klappe“, wiederholte Jean und schaute in der Rückspiegel.
„Ok, ok. Bin ja schon ruhig.“
„Dein Sprühzeug riecht schließlich auch nicht besser.“ Jeans Blick huschte zu Ludwig, der sein Kinn auf die Brust gepresst und die Augen geschlossen hatte. „Ich meine ... ich meine, nicht, dass du stinkst. Das meinte ich damit nicht. Ich ... ich ... du weißt schon.“
„Natürlich.“ Ludwigs Stimme klang gelangweilt, ohne die geringste Spur von Missmut, Ärger oder gar Zorn.
Jean riss seine Mütze vom Kopf, wischte sich damit über das Gesicht und stopfte sie in die Seitenablage. Er durfte Ludwig auf keinen Fall provozieren, musste jedes Wort nicht nur in Watte packen, sondern auch noch ein Schleifchen darum binden. Wer wusste, was für eine Kleinigkeit der Auslöser dafür gewesen war, Victor den Hals aufzuschlitzen. Wenn er es überhaupt getan hatte. Aber wer sollte es sonst gewesen sein? Vielleicht wirklich nur ein Unfall. Ein Unfall. Passierte doch ständig. Er hatte sich beim Schminken irgendwie ...
Jean schluckte ein abgekautes Nagelstück herunter und schob sich den nächsten Finger in den Mund. Der Gedanke war sogar absurd, wenn man mit aller Macht versuchte, daran zu glauben. Sich beim Schminken den Hals aufzureißen war in etwa so wahrscheinlich, wie sich während einer Partie Mikado versehentlich mit den Stäbchen an die Wand zu nageln.
„Wie wird man eigentlich Monsterdarsteller. Gibt es Castings? Mit Jury und so, die bewertet, für wen so ein Kostüm optisch die größte Verbesserung darstellt?“
„Halt deine Kla...“
„Wie wird man Frauendarsteller?“, retournierte Ludwig ruhig und fasste sich in die linke Hosentasche.
„Ich spiele nicht nur Frauenrollen.“ Eddie hatte seinen Kopf zwischen den Vordersitzen hindurch gestreckt. „Ich spiele auch ...“
„Halt endlich deine verdammte Fresse.“
„Aber ...“
„Klappe“, keifte Jean und starrte dabei auf Ludwigs Hand, die langsam aus der Tasche glitt, auf die nach oben kriechende Beule im braunen Cordstoff und als die Knöchel über den Saum lugten, scheuchte ein Hupen seinen Blick wieder auf die Straße. Der Mittelstreifen hing wie ein Abschleppseil an der Motorhaube, zog den Wagen durch die Nacht. Jean riss das Steuer herum, lenkte das Gefährt zurück auf die rechte Fahrbahnseite.
„Besoffen?“, fragte Eddie und ließ den Sicherheitsgurt klickend einrasten.
„Nervös?“, fragte Ludwig und vergrub seine Nase in einem Taschentuch.
„Warum?“, fragte Jean, steuerte den Wagen in eine Hauseinfahrt, würgte den Motor ab, stieg aus und kotzte in die nächstbeste Mülltonne.

*

„Wo liegt das Problem?“ Francks Stimme blechte aus dem Handylautsprecher.
„Er will anscheinend bei mir wohnen“, flüsterte Jean leiser, als es die Entfernung zu Ludwig, der einige Straßenlaternen weiter vor einem Hauseingang stand und auf die Klingelschilder starrte, erfordert hätte.
„Auch wenn ich mich wiederhole: Wo liegt das Problem?“
„Wo das ...“ Jean schielte zu Ludwig hinüber und sprach leiser weiter. „Wo das Problem liegt? Ich will ... ich kann ihn nicht bei mir wohnen lassen.“
„Und warum nicht?“
„Die Wohnung ist zu klein für ...“
„Es ist Ihr Film und es ist Ihr Monster. Sie haben ihn engagiert, bis zum Ende der Dreharbeiten gehört er Ihnen. So steht es im Vertrag.“
„Aber ...“
„Ich habe ihr Drehbuch gelesen.“
Jean kratzte sich schweigend am Kopf. Der plötzliche Themenwechsel hatte ihn aus der Spur geworfen.
„So?“, fragte er schließlich.
„Ja.“
„Und?“
„Ich verstehe es nicht.“
„Das tut niemand. Aber um noch mal auf Lud...“
„Außerdem ist es etwas zu kurz. Dreißig Seiten reichen wohl kaum für einen Spielfilm.“
„Dafür sind aber viele lange Einstellungen vorgesehen.“ Jean drehte Ludwig den Rücken zu und gestikulierte mit der freien Hand, als wollte er Fliegen verscheuchen. „Die bringen den Film auf ungefähr dreieinhalb Stunden Laufzeit. Zum Beispiel soll allein die erste Einstellung ja schon fünf Minuten dauern. Man sieht eine Schaufensterpuppe, die wie ein Maler angezogen ist. Froschperspektive. Im Sekundentakt wechselnde Farbfilter. Dann wird das Bild für weitere fünf Minuten schwarz, man hört, wie Glas zerbricht. Und dann ...“
„Und dann sieht man einen echten Maler, der vor dem zerbrochenem Schaufenster kauert, auf einer Leinwand herumpinselt und dabei ...“, Jean hörte ihn blättern, „... apathisch in die Kamera starrt, während ein Harlekin, der mit dem Rücken zum Zuschauer steht, singend die vierte Szene von Sartres Geschlossene Gesellschaft vorträgt. Wie gesagt: Ich hab das Drehbuch gelesen.“
„Genau. Und dann ruft eine Stimme aus dem Off ...“
„Sie scheinen ja ganz wild darauf zu sein, das Ding endlich zu verfilmen.“
„Nein, das ruft sie nicht, sondern ...“ Jean ließ die Hand sinken und war froh darüber, dass eine Stimme nicht erröten konnte. „Natürlich will ich ...“
„Dann kümmern Sie sich verdammt noch mal um meinen Sohn.“
„Aber ...“ Ein Knacken unterbrach die Verbindung.
Jean klappte das Handy zu und steckte es langsam in seine Hosentasche. Hinter ihm pfiff Ludwig irgendeine Melodie, die schief in der Nachtluft hing. Jean glaubte, Griegs In der Halle des Bergkönigs zu erkennen.
Er presste seine Schulter gegen die Straßenlaterne, als könnte er sich hinter dem schmalen Metallpfosten verstecken, zog das Handy wieder aus seiner Tasche, wählte Francks Nummer und lauschte dem monotonen Freizeichen, das wie verzweifeltes Klopfen klang, lauschte, bis er das Geräusch nicht mehr ertragen konnte, dann ließ er die Hand sinken.
Den Vertrag zu brechen, war das letzte, was er wollte, aber die Vorstellung, mit diesem Monster unter einem Dach zu leben, war etwas, das ihn zwangsläufig an Szenen aus seinen Filmen denken ließ – Szenen, in denen Victor häufig eine tragende Rolle gespielt hatte.
Jean stieß sich von der Laterne ab, schlich zur Haustür, stellte den rechten Fuß auf den Trittstein, hauchte in seine hohlen Hände, rieb sie aneinander und räusperte sich.
„Ich würde dich ja wirklich gerne bei mir unterbringen, aber .... weißt du, die Wohnung ist verdammt klein und ...“ Er zupfte an seinen Augenbrauen herum. „Vielleicht könntest du während der Dreharbeiten ja im Hotel ...“
„Schließen Sie auf“, sagte Ludwig und griff nach dem Knauf der Glastür.
Jean steckte seine Hände in die Hosentaschen und blickte am Monsterdarsteller vorbei in die Nacht. Eine Reihe defekter Straßenlaternen hatte den Fußweg vor ihm dem trüben Licht eines Mondes überlassen, der wie eine wässrige Brandblase über den dreistöckigen Mietskasernen hing.
„Nun machen Sie schon.“ Ludwig scharrte mit den Füßen.
Jean kramte den Hausschlüssel aus seiner Tasche, ließ ihn von Hand zu Hand wandern und verbarg ihn schließlich in seiner Faust.
„Ist dein Kostüm noch im Auto?“, fragte er.
„Nein.“ Ludwig deutete auf eine kleine Reisetasche, die zwischen seinen Füßen stand.
„Da drin?“
„Haben Sie ein Problem damit?“
„Nein.“ Jean schüttelte seine klimpernde Faust wie eine Rassel. „Nein, natürlich nicht. Dachte nur, das Ding würde mehr Platz brauchen.“
„Spezielle Falttechnik“, sagte Ludwig und demonstrierte mit trägen Gesten, was darunter zu verstehen war.
Jean nickte zähneklappernd, richtete seinen Kragen auf und schabte mit der Fußsohle über die Kante des Trittsteins.
„Die Wohnung ist wirklich grade groß genug für zwei Personen“, beteuerte er und kratzte sich mit der Schlüsselfaust am Kinn. „Du müsstest auf einer kleinen Couch schlafen. Im Hotel dagegen hättest du ein Zimmer für ...“
„Ich bin nicht anspruchsvoll.“
„Aber ...“ Jean verstummte. Er wusste nicht, was er noch sagen und noch weniger, was er tun sollte. Wenn Heike nicht wäre, wenn nur er das Risiko zu tragen hätte, dann ...
Ein Geräusch im Gebüsch neben ihm riss Jean aus seinen Gedanken. Die dürren Zweige zitterten, Blätter rieben sich raschelnd aneinander, rieselten auf Rindenmulch. Ein gequälter Schrei drang aus der immergrünen Buchsbaumhölle, Äste brachen, bogen sich auseinander. Etwas wühlte sich dem Gehweg entgegen, der gelbsüchtigen Laternennacht, kreischte, sprang heraus, huschte als glutäugiger Schatten über die Straße und verkroch sich hinter den krummen Beinen eines in Lumpen gehüllten Greises, der an einem Zigarettenautomaten lehnte und zu ihnen herüber glotzte.
„Eine Katze“, sagte Jean und lachte nervös. Sein Herz schlug einen Speedcorebeat.
„Anscheinend sind Sie ein Kenner der einheimischen Fauna. Wirklich beeindruckend.“ Ludwig klopfte gegen die Glastür. „Und jetzt machen Sie endlich auf.“
Die Katze miaute, schoss zwischen löchrigen Hosenbeinen hindurch und jagte die Straße hinauf, bis ihr nachtschwarzes Fell mit der nachtschwarzen Nacht verschmolz, während der Alte in einen schmutzigen Stoffbeutel griff, der an seinem Handgelenk baumelte und ein Buch hervor holte. Er schlug es auf, blätterte wie ein Berserker darin, riss einige Seiten aus, die windgetragen davon flatterten. Irgendwann hielt er inne, verzerrte sein Gesicht zu einer faltigen Fratze, bewegte stumm vorlesend die Lippen und schleppte sich zum Bürgersteig, wo er schwankend stehen blieb.
„Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht“, brüllte er und deutete mit gichtgekrümmten Fingern auf Ludwig. „Siehe, er hat Böses im Sinn; mit Unglück ist er schwanger und wird Lüge gebären. So steht es geschrieben. Buch der Psalmen, Kapitel sieben, Vers fünfzehn. Er trägt das Mal des Tieres. Er ist der Teufel. Der Teufel. Teufel. Teufel. Teufel.“ Sein aufstampfender Fuß traf auf eine Pfütze, teilte das Wasser, ließ es bis zu seinem verwitterten Prophetenbart spritzen. Er legte den Kopf in den Nacken, streckte die Arme dem trauertragenden Himmel entgegen und lachte hysterisch, dann drehte er sich um, schlurfte zum Automaten zurück und pisste in den Ausgabeschacht.
Jean schloss langsam den Mund, als er die nagende Kälte an seinen Zähnen spürte und öffnete seine schmerzende Faust.
„Ich frier mir den Hintern ab“, quengelte Ludwig, der die Stirn gegen das Glas gelegt hatte und durch die Augen seines geisterhaften Spiegelbildes hindurch in das Dunkel des Treppenhauses starrte.
Jean befühlte den tiefen Abdruck, den der Schlüssel in seiner Handfläche hinterlassen hatte und sah wieder zum Obdachlosen hinüber, der umständlich seinen Hosenstall schloss. Ein herannahendes Auto ließ ihn herum fahren und zurück an die Bordsteinkante schwanken. Der Wagen rollte vorbei, verfolgt von der Gichtklaue, die einen Bogen beschrieb, wie angeschossen durch die Nacht schlingerte und den Alten hinter sich her zog, bis er gegen eine Laterne stieß, dann erhob sie sich drohend gegen die verblassenden Rücklichter.
„Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas los werden aus seinem Gefängnis und wird ausfahren in seinem ehernen Wagen, zu verführen die Heiden an den vier Enden der Erde und Donner wird ihn begleiten und übelriechender Odem. Also seit wachsam und achtet auf sein Zeichen, das da sein wird ein hundsförmiger Götze mit wackelndem Haupte. So steht es geschrieben. Buch Doppelkorn, Kapitel zwanzig, Vers neun“, schrie der Obdachlose, holte aus und versuchte, sein Buch dem Auto, das nur noch ein leises Rauschen in der Nacht war, hinterher zu schleudern. Es fiel vor seinen Füßen in eine Pfütze. Der Alte winkte ab und umarmte leidenschaftlich die Straßenlaterne, dann schlurfte er zurück zum Zigarettenautomaten und steckte eine Münze in den Geldschlitz.
„Hier, mein Junge. Lauf los und hol mir ne Flasche Schnaps. Den Rest kannste behalten“, lallte er, klopfte dem Automaten gegen die Flanke, sank zu Boden, zerknüllte die Plastiktüte, legte seinen Kopf darauf und fing augenblicklich an zu schnarchen.
„Könnten wir jetzt vielleicht reingehen oder wollen Sie sich zu ihm legen und die Nacht auf der Straße verbringen?“ Ludwig war von der Haustür zurückgetreten und hatte sich gegen die Wand gelehnt.
Jean seufzte, steckte den Schlüssel ins Schloss und drückte die Tür auf. Manchmal musste man dazu bereit sein, auch große Opfer zu bringen. Das hatte schon Abraham gewusst.

*

„Guter Kaffee“, murmelte Ludwig in seine Tasse, trank einen Schluck und knallte sie auf den Küchentisch.
Jean fuhr zusammen und legte das Messer beiseite, mit dem er sein Brötchen zum zweiten Mal mit Butter beschmiert hatte. Er griff nach der Zeitung, blickte auf das zitternde Papier und überflog irgendeinen Artikel, ohne auf den Inhalt zu achten.
„Marmelade?“
Jean lugte über den Rand der Zeitung. Heike hielt ihm ein halbvolles Glas hin.
„Nein, danke.“
„Heute also nur Brötchen mit Butter und Butter?“
„Was?“ Jean sah auf seinen Teller. „Äh ... ja, genau.“
Heike zog die Brauen hoch und schüttelte den Kopf. Die Make-up-Schicht verdeckte die Müdigkeit, die sich in ihrem Gesicht spiegelte, nicht, sondern ließ sie wie aufgeschminkt wirken.
Jean widmete sich wieder der Zeitung. Kaffeeduft hing in der trägen Morgenluft, Ludwigs Gestank schweißig im Kaffeeduft und Heikes Parfum plastikblumig in der schweißkaffeeduftenden Morgenluft. Besteck klapperte nervös, Brötchen knirschten, der Kühlschrank brummte und die Kaffeemaschine gurgelte, als würde sie verrecken.
„Hast du den Tisch eigentlich schon reserviert?“ Heike gähnte.
„Welchen Tisch?“, fragte Jean in seine Zeitung.
„Im Restaurant.“
„Ist der Monat schon wieder rum?“ Jean schielte auf das Datum am oberen Rand der Zeitung. „Tut mir leid, aber mich muss heute Abend noch weg.“
„Ist heute nicht drehfrei?“
„Vielleicht hab ich auch ein Leben jenseits dieser bescheuerten Filme.“
„Kein Grund, sich gleich aufzuregen.“
„Ich reg mich doch gar nicht ...“ Jean faltete die Zeitung zusammen und warf sie auf den Tisch. „Ich muss einfach noch was erledigen.“
Eigentlich hatte er das schon in der Nacht tun wollen, hatte sich ins Bett gelegt und gewartet, dass Heike einschlafen würde, hatte die Augen geschlossen und sie erst wieder geöffnet, als der Staubsauger durchs morgendliche Schlafzimmer gedröhnt war und seine Frau ihn mit dem üblichen Hab ich dich geweckt? begrüßt hatte.
„Wahrscheinlich können wir es uns mal wieder nicht leisten, was?“ Heike ließ Marmelade von der Messerspitze tropfen und strich sie glatt.
„Natürlich können wir es uns leisten. Mit Geld hat das nichts zu tun.“
„Nichts, was du machst, hat etwas mit Geld zu tun.“
„Jetzt tu nicht so, als wenn ich nichts verdienen ...“ Jean verstummte, starrte für einige Sekunden aus dem Fenster und deutete dann mit dem Kopf auf Ludwig, der damit beschäftigt war, seinen Teelöffel zu verbiegen. „Können wir nicht später darüber reden?“
„Meinetwegen müssen wir auch gar nicht darüber reden. Es ist nun mal dein Beruf, billige Filmchen zu drehen. Damit muss ich leben.“
„Filme zu machen ist kein Beruf. Es ist eine Berufung.“
„Das glaub ich dir sogar. Für einen Beruf wird man nämlich bezahlt.“ Heike schob die Unterlippe vor und pustete sich gefärbte Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Das ändert sich bald. Wenn ich erst mal ...“
„Kaffee“, verlangte Ludwig und schob seine Tasse in die Tischmitte.
Heike warf ihr Brötchen auf den Teller und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nicht in diesem Ton.“
„Kaffee“, wiederholte Ludwig mit verstellt hoher Stimme.
„Kommt sofort.“ Jean sprang auf und griff nach der Tasse des Monsterdarstellers.
„Klebt sein Hintern etwa am Stuhl fest, oder was? Was glaubt er eigentlich, wer er ...“
„Er ist unser Gast und Gäste werden bedient“, sagte Jean und stellte die gefüllte Tasse vor Ludwig ab, der sich grinsend das letzte Brötchenstück in den Mund stopfte.
Heike schüttelte ihren Kopf, senkte den Blick, drehte schweigend an ihrem Ehering, sah plötzlich auf, lehnte sich zurück und lächelte schmallippig.
„Deine Mutter hat gestern übrigens angerufen“, sagte sie.
„Was wollte sie denn?“
„Sie hat sich deinen letzten Film angesehen.“
„Wie ...“ Jean verschluckte sich an einem Brötchenstück, hustete, wehrte Ludwigs Hand ab, die ihm auf den Rücken klopfen wollte, holte tief Luft und räusperte sich. „Wie zum Teufel hat sie davon erfahren?“
„Was weiß ich? Wahrscheinlich durchs Internet, oder so“, sagte Heike, schlug ihre Beine übereinander und schob die Hände in die Taschen ihres Morgenmantels. „Ihr hat der Film natürlich gefallen. So, wie ihr alle deine Filme gefallen haben. Außerdem soll ich dir wieder ausrichten, dass sie sehr stolz auf dich ist.“ Sie zog den rechten Mundwinkel hoch, legte ihren Kopf in den Nacken und musterte Jean schlitzäugig.
„Das würde sie auch behaupten, wenn ich Skulpturen aus Hundescheiße schnitzen würde. Auf Respekt, der ein verdammtes Geburtsrecht, kann ich verzichten.“ Jean erwiderte Heikes Blick, suchte sich in ihren trüben, blassblauen Augen, fand aber nichts außer verkrustetem Schaf. „Meine Filme sieht man sich aus dem selben Grund an, aus dem man sich diese dämlichen Heimvideosendungen reinzieht. Die Leute wollen über Missgeschicke lachen. Über Katastrophen. Über Dilettantismus. Das ist der einzige Grund. Darum wird dieser Müll produziert. Kein normaler Mensch hält diese Scheiße ernsthaft für Filme, geschweige denn für gute.“
„Ich schon“, sagte Ludwig.
„Er hat ja auch von normalen Menschen gesprochen.“
„Was soll das heißen?“
„Nichts.“ Jean rückte instinktiv mit seinem Stuhl ein Stück zur Seite, weg von Ludwig. „Sie ... sie hat das nicht ernst gemeint. Das war nur ein Scherz. Ein Witz.“
„Das war kein Witz.“ Heike leckte sich Brötchenkrümel von der Oberlippe. „Ich will diesen Kerl nicht in meiner Wohnung haben. Weder an meinem Tisch, noch auf meiner Couch, noch in meinem Badezimmer.“
„Wieso?“ Ludwig rutschte auf seinem Stuhl herum.
Jean hielt ihm hastig den Brötchenkorb unter die Nase.
„Noch eins?“, fragte er.
Ludwig nickte und nahm sich zwei.
„Wieso?“, wiederholte der Monsterdarsteller.
„Weil Sie ein unhöflicher und verkommener ...“
„Er ist mein wichtigster Darsteller“, fiel ihr Jean ins Wort und stellte den Korb auf der Butter ab. „Mein bester Mann.“
„Er zwängt sich in einen Gummianzug und hampelt ein wenig herum. Was soll daran so schwer sein? Das kann jeder Trottel.“
„Das ist viel schwieriger, als es aussieht. Man muss ... man muss mit dem Kostüm verschmelzen, es zum Leben erwecken, der Kreatur einen ... individuellen Ausdruck verleihen, sich auf dem schmalen Grat zwischen Bestie und Mensch bewegen. Das ist eine hohe, anspruchsvolle Kunst. Das kann nicht jeder. Ganz und gar nicht.“ Jean warf Ludwig, der bedächtig nickte und den Daumen über die Schneide seines Messers gleiten ließ, einen verstohlenen Blick zu, dann lenkte er Heikes Aufmerksamkeit mit hüpfender Nasenspitze auf seine Handfläche und kritzelte mit dem Zeigefinger darauf herum. „Er ist das Herzstück dieses Films. Er ist wichtig. Unersetzlich.“
Heike legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn, dann öffnete sie den Mund, sah zur Decke und schnaufte verächtlich.
„Ach ja, der Vertrag.“ Sie trank schlürfend einen Schluck Kaffee. Ihre schweren Augenlider hingen fast in der dampfenden Flüssigkeit, dennoch blickte sie Jean weiterhin aufmerksam an. „Glaubst du wirklich, dass du nur deine Unterschrift auf ein Stück Papier schmieren musst und dich plötzlich in einen seriösen, begabten und erfolgreichen Filmemacher verwandelst? Für so naiv hätte ich selbst dich nicht gehalten.“
„Aber ...“ Jean senkte den Blick auf seinen Teller, sah durch ihn hindurch, tastete nach dem Brötchen, hielt es vor seine zitternden Lippen und legte es irgendwann wieder zurück.
„Ich mach das alles doch auch für dich“, sagte er, ohne Heike anzusehen.
Schweigen füllte die Küche wie Giftgas. Das Radio auf dem Kühlschrank rauschte leise, ein Stuhl knarrte, die Küchenuhr tickte wie in einem Bergman-Film. Draußen hatte der Berufsverkehr eingesetzt; Autotüren schlugen, Motoren starteten stotternd, Fahrzeuge rollten vorbei. Ein einsamer Vogel trieb krächzend im Frühnebel, der über den Dächern klebte, sich im Fliegengitter vor dem Küchenfenster verfangen hatte. Unverständliche Gespräche wanderten murmelnd die Straße entlang, wurden plötzlich von einer lauten Stimme verscheucht, die aus der Nachbarwohnung drang. Herr Ullmann hatte sein allmorgendliches Ritual begonnen, seinen verzweifelten Monolog; theatralisch rief er nach Gott. Doch Gott schwieg, denn Gott war tot. Vor knapp einem Jahr an Kropfentzündung verreckt. Seitdem war Herr Ullmann ein wenig wunderlich. Wunderlicher, als es jemand, der seinem Papagei den Namen Gott gegeben hatte, sowieso schon gewesen sein musste.
Jean gähnte und stützte den schmerzenden Kopf auf seine Hände. Das alles war unwirklich genug, um ein Traum sein zu können. Ein verdammter Alptraum. Er wollte aufwachen und das Licht der Morgensonne sehen. Aufwachen. Aufwachen. Aufwachen ...
Ludwigs Messer knallte auf den Tisch.
„Das Ding ist stumpf“, sagte der Monsterdarsteller. „Ich will ein neues.“
Jean beugte sich nach vorne, schob mit seinem Hintern langsam den Stuhl zurück, erhob sich, schlurfte zum Küchenschrank, kramte ein Messer aus der Schublade, legte es neben Ludwigs Teller und setzte sich wieder.
Heike kaute auf ihrer Unterlippe herum und sprang auf. Eine Aderbeule war auf ihrer Stirn gewachsen.
„Ich esse im Wohnzimmer weiter“, sagte sie gepresst und verschwand mit Teller und Tasse aus der Küche.
Jean sah ihr nach, dann grabschte er nach seinem Brötchen, lehnte sich zur Seite und warf es in den Mülleimer, der neben der Tür stand.
„Keinen Hunger?“ Ludwig ließ die Messerspitze über goldgelbe Kruste wandern.
„Nein“, sagte Jean.
„Sie sind doch hoffentlich nicht krank?“ Der Monsterdarsteller rammte den Stahl in die Krume, bohrte ein Loch hinein und zog die Klinge heraus. Krümel rieselten auf den Teller.
„Nein. Alles in Ordnung.“
„Schön.“ Ludwig packte das weidwunde Backwerk mit beiden Händen, stopfte seine Daumen in das Loch und riss den Hefeteigkorpus langsam auseinander.
„Dein ... dein Kostüm gefällt mir“, sagte Jean. Seine Finger schlossen sich um den Henkel der Kaffeetasse, von der Che Guevara heroisch über den Küchentisch hinweg ins Leere blickte. „Sieht wirklich sehr ... echt aus.“
„Das ist mehr als ein Kostüm.“ Ludwig säbelte ein Stück von der Butter ab. „Das Ding ist ein Ausdruck meiner Persönlichkeit.“
„Das merkt man aber gar nicht.“
„Was merkt man nicht?“ Ludwig stieß das Messer ins Marmeladenglas, fischte rote Glibberklumpen heraus und zerquetschte sie auf der Butterschicht.
„Dass deine Persönlichkeit ... monströs ist. Ich meine, du bist ein Mensch wie du und ich. Ein ganz normaler Mensch und ...“ Jean ließ den Satz unvollendet im Schweigen versinken. Er wusste, dass es Zeit war, die Klappe zu halten und beschloss, aufzustehen, bevor die Nervosität seinen Mund völlig aushaken würde.
„Wenn Sie meinen“, sagte Ludwig und grub die Zähne in sein Brötchen.
Jean kippte sich hastig einen Schluck Kaffee in den Mund und merkte zuerst, dass er bereits kalt und dann, dass es kein Kaffee, sondern Kondensmilch mit Zucker war, stand auf, blieb am Stuhlbein hängen, wackelte zur Spüle und goss den Inhalt der Tasse in das Becken.
„Ich bin dann mal im Wohnzimmer“, sagte er heiser, rührte sich aber nicht von der Stelle, so als würde er darauf warten, dass Ludwig ihm die Erlaubnis erteilte.
Er tat es mit einem matten Kopfnicken. Jean eilte aus der Küche und schloss die Tür hinter sich.

*

Es regnete in dem Stück Herbstnacht, das die Autoscheinwerfer in die Dunkelheit zu projizieren schienen, Nebel lag wie Watte auf dem See und wenn es in der Nähe Käuzchen gegeben hätte, so hätten sie vermutlich geschrieen, während Jean im nassen Laub kniete und versuchte, eine Müllsackmumie, die aus dem flachen Wasser ragte, mit einem Ast weiter in den See hinein zu schieben.
Wie dumm eine Idee war, erkannte man häufig erst dann, wenn sie an der Realität zerbrach. Er hätte Victor einfach irgendwo verscharren sollen. Oder Schreddern, wie es Hans unter Berufung auf Fargo vorgeschlagen hatte. Eine Idee, die Jean aus drei Gründen abgelehnt hatte – erstens besaß er keinen Schredder, zweitens hielt er den Film in dieser Hinsicht für ein eher schlechtes Vorbild und drittens hasste er Komödien. Sie waren nichts weiter als Lachgas, das den einfachen Pöbel für anderthalb bis zwei Stunden ruhig stellte. Er hatte nie verstanden, wie sich ein Schauspieler dazu herablassen konnte, den Clown zu spielen, um den Menschen die Illusion zu vermitteln, dass es jemanden gab, der noch ungeschickter, dümmer oder erfolgloser war, als sie selbst.
Er erhob sich mit knackenden Kniegelenken, versuchte fluchend, den Stock zu zerbrechen, warf ihn schließlich über seine Schulter und hörte, wie er krachend aufschlug – es klang nach Dach oder Motorhaube. Jean seufzte und bückte sich, zog Schuhe und Strümpfe aus, krempelte die Hose hoch und tauchte seine Füße, die Zehen voran, zögernd ins Wasser.
Trotz der Bedenken gegen die Schredderidee – alles wäre ihm momentan lieber gewesen, als mitten in der Nacht in dunklem Seewasser zu stehen, das ihm mit gefühlten minus zwanzig Grad die Beine schockfrostete und in Wirklichkeit vermutlich noch viel kälter war.
Jean ging in die Hocke, grub seine Finger in die Plastikfolie, die im dunstigen Licht der Scheinwerfer glänzte wie die Schuppen eines toten Fisches und zerrte an Victors Leiche, bis ihm das Wasser in den Schritt schwappte und seine Füße keinen Halt mehr im sandigen Seeboden fanden, dann ließ er los und sah zum Ufer. Die Stelle war nicht tief genug. Genauso gut hätte er Victor in einem Planschbecken versenken können. Aber sogar ein Planschbecken wäre ein besseres Versteck gewesen, als der Kofferraum seines Wagens.
Jean sah auf die Uhr. Es war viertel nach eins. Um zwei schloss die Bar, in der er Ludwig abgesetzt hatte, um Heike nicht mit ihm alleine in der Wohnung zurückzulassen. Er musste sich beeilen.
Jean stieg über Victors Leiche, blieb mit dem Fuß hängen und fiel der Länge nach ins Wasser. Als er sich triefend erhob, sah er im Wald, der den See umzingelte, plötzlich einen Lichtpunkt, der wie ein Irrlicht hin und her zuckte. Schritte knackten durchs Unterholz, eine Frauenstimme kreischte. Jean glaubte, irgendwo hinter sich Murphys Gelächter zu hören. Das Licht kam näher, eine weitere Stimme hatte sich mit den hysterischen Frauenlauten vermischt. Das Rascheln und Knacken klang nach Laufschritt.
Jean hetzte zum Ufer, packte seine Schuhe, stopfte die Füße hinein, steckte seine Socken in die Manteltasche. Der Jeansstoff klebte kalt an seiner Haut, die Boxershorts in seinem Schritt und Schweiß windgekühlt auf seiner Stirn, während er steif zu seinem Auto hetzte und die Hosentaschen nach dem Wagenschlüssel abklopfte.
Das Licht trieb eine Gestalt aus der Dunkelheit, die zwischen den Bäumen klebte wie Teer. Sie rannte dem Seeufer entgegen, verfolgt von einer hüpfenden Taschenlampe und einer weiteren Person, die als vager Schemen durch die Nacht huschte.
Jean durchsuchte seine Hosentaschen erfolglos nach dem Schlüssel, riss die Wagentür auf, tastete nach dem Schloss, wischte über die Sitze, patschte auf den Fußmatten herum und überprüfte wieder seine Taschen. Der Kofferraum. Jean schaltete die Scheinwerfer aus und stürmte zum Heck seines Wagens.
Ein Jaulen bohrte sich in das Kreischen der Frau, die das Ufer erreicht hatte. Der Verfolger verlangsamte seine Schritte. Sein seltsam klobig wirkender Kopf senkte sich, dann stützte er die Hände auf die Knie.
„Cut“, rief jemand.
Jean drückte auf dem Kofferraumschloss herum und trat fluchend gegen den Hinterreifen. Wie es schien, war ihm seine Angewohnheit, nach dem Öffnen der Klappe abzuschließen und den Schlüssel herauszuziehen, zum Verhängnis geworden – wenn er das Teil nicht irgendwo zwischen seinem Wagen und Victors Leiche verloren hatte.
Stimmen redeten durcheinander, wurden lauter. Die Frau und ihr Verfolger, der anscheinend mit einer Papiertüte maskiert war und mit einem Ding herumfuchtelte, das an eine Pistole erinnerte, gingen Seite an Seite, schräg hinter ihnen starrte ein junger Mann auf den Ausklappmonitor einer Kamera, der sein Gesicht beleuchtete.
Jean stakste zur Fahrertür, legte seinen Arm auf das Autodach und beobachtete die drei Gestalten über seinen Wagen hinweg.
„Nabend“, sagte die Frau, der Maskenmann nuschelte etwas, das zum größten Teil in der Papiertüte hängen blieb und der Dritte im Bunde riss sich kurz von seiner Videokamera los und tippte mit einem Finger gegen den Schirm seiner Baseballkappe.
„Nabend.“ Jean lächelte verkrampft.
Als die Gruppe seinen Wagen passierte, hob der Maskierte seine Waffe und lies sie kurz aufjaulen. Jean erkannte, dass es keine Pistole war – das Geräusch verschmolz mit dem Gerät zu einer Akkubohrmaschine und diese mit dem Kofferraumschloss zu einer Lösung seines Problems.
„Entschuldigung“, sagte Jean.
Der Mann ließ die Kamera sinken und sah ihn an.
„Ja?“
„Könnte ich mir vielleicht kurz Ihr Ding ... Ihre Bohrmaschine ausleihen?“
„Arumdassen?“, fragte die Tüte.
„Ich glaube, dass ich meinen Schlüssel im Kofferraum ... und da dachte ich, Sie könnten vielleicht ...“
Der Eingetütete drehte seinen Kopf knisternd in die Richtung des Kameramannes, der mit den Schultern zuckte und den Monitor einklappte.
„Aubon?“, fragte der Tütenmann.
Jean vermutete, dass er Aufbohren gesagt hatte und nickte.
„Dagehabadaschlossaput.“
Jean verstand Schloss und Bahnhof, lächelte, sagte „Ja“ und hoffte, dass seine Antwort irgendwie zu dem passte, was der Tütenmann gemurmelt hatte. Gleichzeitig deutete er zum Kofferraum und nickte.
„Meietegn.“ Der Papierkopf drückte der Frau die Taschenlampe in die Hand und folgte ihr zum Heck des Wagens.
„Ich glaube, du kannst das Ding jetzt abnehmen“, sagte sie.
Der Bohrmaschinenmann nuschelte etwas Unverständliches, zog sich die Tüte vom Kopf und warf sie aufs Autodach.
„Seid vorsichtig damit. Das ist unsere Letzte.“ Der Kappenträger legte seine Kamera auf der Motorhaube ab, während die Bohrmaschine aufheulte.
„Was machen Sie eigentlich hier? Mitten in der Nacht.“
„Spazieren gehen.“
„Im See?“
„Im See? Warum sollte ich ...“
„Sie sind nass.“
Jean spreizte die Arme ab und sah an sich herab. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass er völlig durchgeweicht war.
„Ein kleiner Wettstreit mit der Schwerkraft. Und die Schwerkraft hat gewonnen“, sagte er.
„Tja.“ Der Kameramann drehte den Schirm seiner Mütze nach hinten und wieder zurück.
Die Bohrmaschine kreischte.
„Und Sie machen hier einen Film?“, fragte Jean und betrachtete seine Finger, die unrhythmisch auf dem Wagendach trommelten.
Der Mann nickte.
„Amateurfilm?“
„Wir bevorzugen den Ausdruck Independent.“
Die Bohrmaschine verstummte abrupt, der Demaskierte fluchte, dann setzte das Jaulen stotternd wieder ein.
Der Amateurfilmer deutete zum Kofferraum.
„Das ist Detlef. Spielt nen Bohrmaschinenvampir.“
„Bohrmaschinenvampir?“ Jeans Augenbrauen wanderten dem Haaransatz entgegen. Ein kleines Stück weiter und er hätte sie als Perücke tragen können.
„Es geht um nen zahnlosen Vampir, der mit ner Bohrmaschine auf die Jagd geht.“ Der Amateurfilmer streckte den Zeigefinger aus, drückte ihn auf die Motorhaube und imitierte Bohrgeräusche, die im Vergleich zu den realen Bohrgeräuschen, die seine Darbietung begleiteten, wenig beeindruckend waren. „Bohrt seine Opfer einfach an und säuft sie leer.“
„Das klingt ... interessant.“
„Werde vielleicht ne Reihe draus machen. Hat Potenzial.“ Der Independentamateur grinste breit. „Ne gute Figur muss man ausbeuten. Man muss sie aussaugen wie ein ... wie ein ...“
„Bohrmaschinenvampir?“, schlug Jean vor.
„Sie sagen es. Wär ja schließlich nicht meine erste erfolgreiche Reihe.“ Er zog einen kleinen Plastikbeutel aus seiner Hosentasche, griff hinein und reichte Jean ein Pappkärtchen. „Vielleicht haben Sie schon mal was von mir gehört.“
Jean öffnete die Autotür, setzte sich auf den Fahrersitz, schlug mit der Faust gegen die Lampe am Wagenhimmel, die wackelkontaktig flackerte und betrachtete das Kärtchen.
„Jäsus Maria Pärvärso Satanas dä la Bastardo”, las er vor.
„Jesus Maria Perverso Satanas de la Bastardo.“ Der Amateurfilmer hob beide Zeigefinger. „Die Äs spricht man wie Es aus.“
Jean ließ die Hand mit der Karte auf seinen Oberschenkel sinken. Natürlich. Darauf hätte er auch selber kommen können.
„Und?“
„Nein, tut mir leid. Ich glaube, an so einen Namen würde ich mich erinnern“, sagte er.
„Macht nichts.“ Der Amateurfilmer kam einen Schritt näher, legte seinen Arm auf das Autodach, beugte sich herunter und hielt die Hand auf. „Die Karte, bitte. Das ist meine letzte in Eitergelb. Und ich mag Eiter...“ Er ließ seine Hand sinken und kniff die Augen zusammen. „Ich kenne Sie doch irgendwoher.“
„Das bezweifel ich.“
Der Amateurfilmer rieb am Schirm seiner Mütze, während sein Gesichtsausdruck nach Verstopfung aussah.
„Ich könnte schwören, dass ...“ Er richtete sich ruckartig auf und klatschte in die Hände. „Natürlich. Im Monstermag. Ihr Bild war im Monstermag.“
„Ich glaube, Sie verwechseln mich.“ Jean ließ die Innenraumbeleuchtung durch einen Schlag mit der flachen Hand verlöschen.
„Hey“, rief Jäsus Maria Pärvärso Satanas dä la Bastardo über das Autodach in das angestrengte Jaulen der Bohrmaschine hinein. „Wisst ihr eigentlich, wer das ist?“
„Was?“, brüllte die Frauenstimme.
„Häh?“ Detlef, der bohrende Bohrmaschinenvampir klang genervt.
„Ich habe Günther gemeint.“
„Ich doch auch.“
„Ach so.“
„Jäsus.“ Der Amateurfilmer schlug aufs Autodach.
„Was?“ Die Frau klang so schrill wie der Bohrer.
„Jäsus“, brüllte Günther. „Es heißt Jäsus. Jäsus Maria Pärvärso Satanas dä la Bastardo.” Das Autodach ächzte blechern. „Ich meine Jesus. Die Äs spricht man wie Es aus.“ Er räusperte sich. „Das da ...“ Sein Zeigefinger stocherte ziellos im Wageninneren herum. „Das ist Jean.“
„Was?“, rief der Vampir, dann monologisierte die Bohrmaschine für einige Sekunden, bevor sie verstummte. „So, das hätten wir.“
Jean sah im Rückspiegel, wie der Kofferraumdeckel die Heckscheibe schwärzte.
„Das ist Jean“, wiederholte der Amateurfilmer.
„Wer?“
„Jean. Na, ihr wisst schon. Der Typ aus dem Monstermag. Der Regisseur. Die Dschungelfestung der Zeckenmeschen, Professor Bondage, Lord Sados Blockhütte der geschändeten Seelen und so weiter.“
Schritte knirschten vom Kofferraum zur Fahrertür, das Licht der Taschenlampe flutete den Innenraum.
„Das ist er ja wirklich.“
„Sag ich doch.“
Jean kniff die Augen zusammen und wandte sein Gesicht von den drei Gaffern ab, die sich vor der Fahrertür zusammengerottet hatten.
„Freut mich wirklich, Sie kennen zu lernen“, sagte der Vampir. „Der Satanszwerg tanzt Limbo ist einer meiner Lieblingstrashfilme. Ohne Scheiß.“
„Aber der ist doch gar nicht von ihm.“
„Von wem soll das Ding sonst sein?“
„Von Dick Digger. Glaub ich.“
„Schwachsinn. Gottlose Gnome im Nonnenkonvent ist von Dick Digger.“
Jean wäre am liebsten im Fahrersitz versunken. Er beneidete die unaussprechlichen Dinge, die irgendwo gut versteckt in den Tiefen zwischen Lehne und Sitzfläche steckten. Es mussten mindestens fünf Euro in kleinen Münzen und eine ganze Packung Kekse in Krümelform sein.
„Warum fragt ihr Trottel ihn nicht einfach?“
„Wen? Dick Digger? Aber wie ...“
„Nein, verdammt. Ihn hier.“
Die Gaffer verstummten. Kopfkratzen, Fußscharren und verlegenes Hüsteln füllten die Türöffnung.
„Ist ... ist Der Satanszwerg tanzt Limbo von Ihnen oder von Dick ...“
„Nein, der ist nicht von mir.“ Jean schwang die Beine aus dem Wagen, schob den Bohrmaschinenvampir beiseite und eilte zum Kofferraum. Er beugte sich herunter und tastete mit der Hand suchend herum.
„Brauchen Sie Licht?“, fragte die junge Frau.
„Nein. Hab ihn schon.“ Jean wedelte mit dem Schlüssel. „Vielen Dank.“
„Freut mich, dass wir Ihnen helfen konnten.“ Günther griff nach seiner Kamera. „Vielleicht könnten Sie uns ja auch nen kleinen Gefallen tun. Ich meine, wenn Sie zufällig schon mal hier sind, da könnten Sie doch vielleicht ...“ Er klappte den Monitor aus. „Vielleicht ne kleine Rolle spielen. Als Stargast.“
„Nein, danke. Kein Interesse.“ Jean ging zur Fahrertür.
„Nur ne ganz kleine Rolle. Sie haben hier ne Panne, fummeln am Motor rum und plötzlich taucht hinter ihnen der Vampir auf und ...“
„Nein.“
„Aber Sie wären auch in guter Gesellschaft. Bela B, der Typ von Die Ärzte, hat auch nen kleinen Gastauftritt. Spielt das erste Opfer. Nen Bohrmaschinenvertreter.“ Die Kamera piepste. „Und dabei haben wir ihn noch nicht mal darum gebeten. Stand plötzlich einfach vor der Tür und hat gemeint, dass er grade zufällig in der Nähe gewesen wäre und einfach mal reinschauen und Hallo sagen wollte.“
„Das lassen wir lieber“, sagte Jean, stieg ein und steckte den Schlüssel ins Schloss.
„Sie können auch einfach nur in die Kamera lächeln und winken. Das schneiden wir dann einfach irgendwo rein.“
„Nein, vielen Dank.“ Jean startete den Motor. „Ach ja.“ Er hob den Hintern und griff unter sich. „Hier, Ihre Karte.“
„Die können Sie natürlich behalten.“ Der Amateurfilmer hauchte gegen die Linse der Kamera und wischte seinen Atem mit dem Jackenärmel ab. „Wollen Sie nicht vielleicht doch noch irgend...“
Die zuschlagende Autotür unterbrach ihn. Jean legte den Gang ein, fuhr auf den Waldweg, hielt an und wartete, bis die Gruppe in der Dunkelheit verschwunden war, dann rollte er zurück zum Ufer und stieg aus.

*

Füße stolperten über fabrikschlotbeschatteten Beton, ein Rücken prallte gegen roten Backstein. Klauen gruben sich in helle Haut, Finger krampften sich um blaue Handgelenke. Augen starrten in Glubschaugen, Sabber tropfte aus einem Mund, Schleim aus einem Schnabel und Röcheln verkroch sich hinter hysterischwütendem Gekreische.
„Cut“, rief Jean und zerschnitt mit der Handkante die Luft. „Très bien.“
Fred ließ die Kamera sinken, Rainer das Mikrofon und Ludwig stellte sein Gekreische ein, während er weiter versuchte, Klaus zu erwürgen.
„Cut“, brüllte Jean und sprang auf. „Cut. Cut.“
Ludwig glubschte Jean an, öffnete langsam die Klauen und trat einen Schritt zurück. Klaus hustete, würgte und spuckte, griff sich an den Hals, während Jean zurück auf seinen Stuhl sank und sich ein halbes Röhrchen Baldriankapseln in den Mund kippte. Er hatte oft genug mit Klaus zusammen gearbeitet, um zu ahnen, was gleich folgen würde.
„Alles in Ordnung?“, fragte er leise.
Klaus fiel röchelnd auf die Knie, umschlang seinen Hals mit beiden Händen, flatterte mit den angewinkelten Armen, als wollte er einen verreckenden Vogel imitieren, hielt kurz inne, sah sich hektisch um, schien zu dem Schluss zu kommen, dass man ihm zu wenig Beachtung schenkte und kippte zur Seite, wälzte sich laut keuchend auf dem rissigen Betonboden herum.
„Pause.“ Jean klatschte in die Hände und winkte Hans zu sich heran. „Sorg dafür, dass dieser Knallkopf sich beruhigt. Bemitleide ihn ein wenig, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“
„Der kriegt sich doch sowieso irgendwann wieder ein.“
„Er soll sich nicht irgendwann einkriegen, sondern sofort. In seiner Freizeit kann er sich solange im Dreck wälzen, wie er will, aber hier hat er sich zusammen zu reißen.“
„Wie Sie wünschen.“
Hans wandte sich widerwillig um, ging neben Klaus in die Hocke und redete auf ihn ein, während Baldriankapseln klappernd in Jeans Mund kullerten. Er schluckte und warf das leere Röhrchen über seine Schulter.
Die Dreharbeiten würden ihn zugrunde richten, völlig kaputt machen. Der Weg zum Herzinfarkt wäre ein weitaus passenderer Titel für diesen Film gewesen, als Im Bann der Schuppenflechte.
„Einen Spiegel. Einen Spiegel.“ Klaus schlug Hans Hand weg, die hilfsbereit über seiner Brust schwebte und stand schwankend auf.
Fred, der aufgrund seiner früheren Hausmeistertätigkeit im Umgang mit Pinsel und Farbe einigermaßen geübt war und sich deswegen in der Regel auch um die Maske kümmerte, kramte in der mit Schminkutensilien gefüllten Reisetasche und warf Klaus einen kleinen Spiegel zu.
„Mein Hals. Sieh dir meinen Hals an. Rot. Alles rot.“ Er eilte zu Jean, hielt ihm den Spiegel vor die Nase und patschte mit dem Zeigefinger auf dem Glas herum. „Ich bin entstellt. Entstellt.“
Jean schob sein Abbild beiseite, das ihm aus dem Spiegel heraus anstarrte und betrachtete flüchtig die rötlichen Fingerabdrücke auf Klaus Hals.
„Keine Sorge, die verschwinden ...“
„In diesen Hals hat schon Christopher Lee gebissen. Der große Christopher Lee. Graf Dracula. Und jetzt haben ihn die Gummipranken dieses scheußlichen Untieres entweiht.“ Er deutete mit geballter Faust auf Ludwig, der auf dem Boden hockte, den Rücken gegen die Fabrikmauer gelehnt. „Entweiht“, wiederholte Klaus und watschelte rückwärts zum Geräteschuppen, der als Garderobe diente, während er seine Haare mit Spucke befeuchteten Fingern wirr in sein Gesicht klatschte und versuchte, ebenso wirr zwischen den Strähnen hindurch zu stieren.
Jean hörte ihn „Entweiht“ rufen, bis die rostige Schuppentür schwerfällig quietschend ins Schloss fiel.
„In diesen Hals hat schon Christopher Lee gebissen.“ Hans machte mit der rechten Hand vor seinem Mund Schnappbewegungen. „Blöder Spinner.“
Jean winkte ab. Klaus behauptete schon seit Jahren, in einem der späteren Dracula-Filmen eine tragende Opferrolle gespielt zu haben, aber niemand wusste, ob es wirklich stimmte. Und niemand interessierte sich ausreichend dafür, um es zu überprüfen.
Hans zog ein zerknittertes Drehbuch aus seiner Hosentasche, schlug es auf, sah hinein und beugte sich zu Jean herunter.
„Haben Sie die Leiche entsorgt?“, flüsterte er und blätterte die Seite um.
„Was willst du mit dem Drehbuch?“
„Wir sprechen die nächste Szene durch.“
„Ich dachte, es geht um die ... um Victor.“
Hans seufzte.
„Es soll so aussehen, als ob“, raunte er.
„Du bist paranoid.“
„Warum?“ Hans sah ihn verwundert an.
„Was soll an einem harmlosen Gespräch ...“
„Man kann nie vorsichtig genug sein.“
„Meinetwegen.“ Jean winkte resigniert ab.
„Also?“
„Natürlich hab ich sie entsorgt.“
Schritte näherten sich.
„Ich denke, wir sollten diese Dialogzeile abändern. Verspeise Plumbum klingt selbst aus dem Munde eines adligen Monsterjägers zu hochgestochen“, sagte Hans und wartete, bis Fred vorüber gegangen war. „Und wo? Im See?“
„Nein, nicht ganz.“ Jeans Finger spielten mit dem Monokel, das in seiner Sakkotasche steckte. „Im Straßengraben.“
„Im Straßen...“ Eddie umkurvte den Regiestuhl und schlenderte in Richtung Fabrikhalle „Ich denke wirklich, dass ein konventionelles Friss Blei passender ist.“ Hans sah ihm nach, dann legte er den Zeigefinger auf eine Drehbuchseite und flüsterte: „Im Straßengraben? Ich dachte, Sie wollten ihn im See versenken?“
„Es ist etwas dazwischen gekommen.“
„Und was?“
Jean griff in seine Hosentasche, zog ein zerknicktes Kärtchen heraus und reichte es Hans.
„Du kennst den Typen wahrscheinlich. Ist ja dein Metier.“
„Jäsus Maria Pärvärso Satanas dä la Bastardo?“.
„Jesus Maria Perverso Satanas de la Bastardo. Die Äs spricht man wie Es aus.“
„Nie gehört. Wer soll das sein?“
„Nicht so wichtig.“ Jean nahm Hans das Kärtchen aus der Hand und stopfte es zurück in seine Tasche. „Jedenfalls musste ich auf den Straßengraben ausweichen.“
„Wir sind geliefert.“ Hans ließ das Drehbuch fallen und zog eine Wasserflasche aus der Kühlbox, die neben dem Regiestuhl stand. „Wir können einpacken.“
Jean angelte das Drehbuch vom Boden und legte es auf seinen Schoß.
„Niemand kann uns etwas nachweisen. Er hat das Studio bei bester Gesundheit verlassen. Was danach passiert ist, ist nicht unser Problem“, sagte er leise.
Hans drehte den Verschluss der Plastikflasche ab, kippte etwas Wasser in seine hohle Hand und klatschte es sich ins Gesicht.
„Wir sollten den Dreh abbrechen“, sagte er, während Tropfen über sein Gesicht liefen wie Tau über eine reife Tomate.
„Ich habe gesagt, wir machen weiter und dabei bleibt es.“
„Mein Gott, was soll denn noch alles passieren? Er hätte Klaus fast erwürgt.“
„Jetzt tu nicht so, als wenn das was Schlimmes gewesen wäre.“
Hans beugte sich zu ihm herunter und betropfte das Drehbuch.
„Das ist nicht witzig, verdammt.“
„Es wird schon alles glatt gehen“, murmelte Jean.
„Und was, wenn nicht?“
„Dieses Risiko muss ich eingehen, wenn ich nicht für den Rest meines Lebens diesen wertlosen Müll fabrizieren will. Du weißt, dass ich zu Höherem berufen bin.“
Hans drückte den Rücken durch und legte seine Hand in den Nacken.
„Meinen Sie nicht ...“ Er sah zu Boden und bohrte mit der Schuhspitze in einem der Unkrautbüschel, die aus den Löchern in der Betonschicht wucherten. „Meinen Sie nicht, Sie überschätzen sich ein wenig?“
„Ich überschätze mich?“ Jean wog ab, ob er einen Wutanfall vortäuschen oder Hans einfach eine runter hauen sollte, entschied sich aber dafür, es bei einem gleichgültigen Gähnen zu belassen. Was kümmerte ihn die Meinung seines Assistenten? Dieser Trottel würde Talent noch nicht einmal erkennen, wenn es ihm ins Gesicht spucken würde. Außerdem war er zu erschöpft, um sich über die Ignoranz von Kleingeistern aufzuregen.
„Willst du das hier etwa für den Rest deines Lebens machen?“, fragte er und bemühte sich, möglichst abfällig zu klingen.
„Das hier ist mein Leben. Ich will ...“
„Darf ich dich kurz sprechen?“ Eddie war neben Hans getreten und grinste Jean an.
„Natürlich.“
„Unter vier Augen.“
„Wie du meinst.“ Jean wedelte mit der Hand, als wollte er Fliegen verscheuchen; Hans drehte sich um schwirrte davon.
„Was willst du?“
Eddie ging neben Jean in die Hocke und legte den Arm um seine Schulter.
„Was ich will? Ich werde dir sagen, was ich will“, flüsterte er.
Jean versuchte, Eddies Arm abzuschütteln, doch Finger gruben sich in seine Schulter, verankerten ihn.
„Ich will die Hauptrolle.“ Seine Worte wehten warmfeucht in Jeans Ohr.
„Du willst was?“
Eddie lockerte seinen Griff, richtete sich auf, schlenderte hinter den Stuhl.
„Ich lass mich von dir nicht länger mit diesen miesen Rollen abspeisen.“
Jean drehte sich um und blickte an Eddie hoch, der seine Hände auf die Rückenlehne gelegt hatte. Das Grinsen war aus seinem Gesicht gefallen.
„Du willst mich verarschen“, sagte Jean. „Du weißt ganz genau, dass das nicht geht. Du kannst nicht einfach zu mir kommen und erwarten, dass ich Klaus rauswerfe und dir seine Rolle überlasse.“
„Und was ist, wenn ich es doch tue?“ Eddie fuhr sich mit ausgestrecktem Zeigefinger langsam über den Kehlkopf, während er weiter sprach: „Machst du dann mit mir das gleiche, was du mit Victor gemacht hast?“
Die Frage sprang Jean an wie ein Raubtier. Er versuchte, seine Gedanken zu sortieren, legte sich die Worte im Mund zurecht, doch als er ihn öffnete, fiel nur ein gestammeltes „Vic... Victor?“ heraus.
Eddie nickte.
Jean war sich nicht sicher, wie viel Eddie wirklich wusste, aber ihm war klar, dass es der Glaubwürdigkeit von allem, was er ab jetzt noch sagen würde, nicht zuträglich wäre, wenn er weiterhin mit erhobenem Finger dasitzen und den Schauspieler offenmündig anstarren würde.
„Jean“, rief Hans hinter seinem Rücken.
„Was ist?“ Er drehte sich um und war dankbar, für einen Augenblick aus Eddies Bann gerissen zu werden.
„Fred will wissen, ob ...“
„Verschwinde“, brüllte Eddie.
„Aber ...“
„Hau ab.“
Hans hob abwehrend die Hände und trottete davon.
Der Stuhl wackelte, als Eddie sich von der Rückenlehne abstieß.
„Ich weiß nicht genau, was für eine Scheiße du da abgezogen hast.“ Seine Stimme umkreiste Jean. „Ich weiß aber genau, dass es ein verdammt großer Haufen ist.“
„Ich ... ich weiß nicht, wovon du redest. Was für eine Scheiße soll ich abgezogen haben?“
Eddie stoppte vor Jean und drückte ihm seinen Zeigefinger auf die Brust.
„Hör auf, mich zu verarschen. Ich habe gesehen, dass die Wunde echt war. Ich habe Victors Stimme gehört, die verdammt nach deiner klang. Ich habe gemerkt, wie nervös du im Auto warst. Also versuch bitte nicht, hier den Idioten zu spielen.“
„Den ... den Idioten?“ Jean fühlte sich, als wenn seine Baskenmütze schmelzen und heiß an seinem Gesicht herab fließen würde.
„Die Hauptrolle.“ Eddie löste seinen Zeigefinger von Jeans Brust.
„Das geht nicht so einfach. Sei doch vernünftig.“
„Wenn ich vernünftig wäre, würde ich die Polizei anrufen.“
Jean rieb sich die Brust, die schmerzte, als wenn Eddies Zeigefinger ein Lötkolben gewesen wäre. Oder die Bohrmaschine eines Bohrmaschinenvampirs.
„Die Rolle ist perfekt. Sie passt einfach zu mir. Der große Monsterjäger, der die Häupter von Scheußlichkeiten über seinen Kamin hängt und sich auch nicht von der Vermutung abschrecken lässt, überhaupt nicht real zu sein. Das bin ich. Dieser Charakter ist quasi mein Abbild“, ereiferte sich Eddie und deutete fuchtelnd auf den Geräteschuppen. „Meinetwegen kann diese peinliche Diva die entwürdigenden Rollen übernehmen. Ich bin länger dabei, als er. Ich bin der bessere Schauspieler. Ich verdiene es, endlich mal im Mittelpunkt zu stehen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen. Ein klares Zeichen dafür, dass das Gespräch beendet war.
„Ich werde sehen, was ich machen kann“, sagte Jean und stand auf. „Warte hier.“
Er schlich zur Garderobe, legte die Hand auf die Klinke und blickte über seine Schulter. Eddie hatte auf dem Regiestuhl Platz genommen und zerrte das Drehbuch unter seinem Hintern hervor.
Das Todesschiff hatte einen neuen Kapitän.

*

Klaus sprang auf, als Jean den Geräteschuppen betrat, schleuderte ein Magazin auf den Boden und stellte den Fuß darauf, schaffte es jedoch nicht, den Titel zu verdecken.
Der Fingerfarbenfreund“, las Jean vor.
Klaus starrte ihn an, dann ließ er seinen Blick langsam, fast wie in Zeitlupe, dem Magazin entgegen sinken, ging in die Hocke, hob es auf, strich den Schmutz vom Hochglanzpapier, rollte die Zeitschrift zusammen und räusperte sich.
„Entweiht“, sagte er unsicher, deutete zaghaft auf seinen Hals, winkte ab und nahm wieder Platz.
„Hör zu. Ich weiß, dass du deine Pausen brauchst und ich will dich auch nicht lange stören.“ Jean verschränkte die Arme vor der Brust, setzte sich auf den Schminktisch und spürte, wie unter seinem Hintern etwas zerbrach.
„Der Spiegel. Der Spiegel.“ Klaus hatte sich nach vorne gebeugt und die Finger in seine Knie gegraben. „Sie haben sich auf den Spiegel gesetzt.“
Jean hob seinen Hintern hoch, schob die Scherben an die Tischkante und setzte sich wieder.
„Ich wollte dich fragen, ob ...“
„Sie haben ihn zerstört.“ Klaus Stimme zitterte, als wollte sie aus Solidarität ebenfalls zerbrechen.
„Fred hat sicherlich einen Ersatzspiegel dabei.“ Jean knetete seine Hände ineinander. „Was ich sagen wollte ...“
„Sie haben ihn zerbrochen.“
„Ich habe doch gesagt, dass Fred ...“
„Sie verstehen das nicht.“
„Was verstehe ich nicht?“
„Ein zerbrochner Spiegel bringt Unglück. Das wissen Sie doch. Das weiß jeder.“ Er rutschte von der Sitzfläche, fiel auf die Knie, erhob sich und torkelte in Richtung Tür. „Ich muss hier raus.“
„Das ist doch lächerlich.“
„Dieser Raum ist kontaminiert. Vom Pech verseucht. Völlig verstrahlt. Absperren und mit Beton versiegeln.“ Klaus riss die Tür auf und schnappte nach Luft.
„Bleib hier. Ich muss mit dir reden.“
„Und ich muss hier raus.“
„Du musst gar nichts.“ Jean packte Klaus am Arm, hielt den zappelnden Hauptdarsteller zurück und versetzte der Tür einen Stoß, der sie ins Schloss fallen ließ.
„Sind Sie verrückt geworden?“
„Setzt dich hin.“
„Ich denk ja gar nicht dran.“ Klaus kam Jean, der sich vor die Tür gestellt hatte, einen energischen Schritt entgegen und fuchtelte mit der Zeitschrift herum. „Gehen Sie mir aus dem Weg. Ich verlange, dass Sie mich hier raus lassen.“
„Moment.“ Jean fischte die Spiegelscherben vom Tisch und verteilte sie vor der Tür auf dem Boden. Es war eine bescheuerte Idee, aber er war sich recht sicher, dass sie grade deswegen funktionieren würde.
„Was soll das?“ Klaus klang verunsichert.
„Es bringt Unglück wenn man einen Raum durch eine Tür verlässt, vor der Scherben liegen. Das weiß doch jeder. Und wenn du sie berührst, wird es sogar noch schlimmer.“ Jean machte den Weg frei und lehnte sich neben der Tür gegen die Wand.
„Unsinn“, sagte Klaus und starrte auf die Spiegelscherben, während sein linkes Augenlid zuckte. „Ich wüsste doch, wenn das ...“ Er unterbrach sich, als würde er all seine Kraft für den zögerlichen Schritt brauchen, der ihn näher an die Schwelle zur Freiheit brachte.
„Wenn du meinst.“ Jean deutete mit dem Daumen auf die Tür. „Du kannst gehen, wenn du willst.“
Klaus bleiches Gesicht war vom Schweiß glasiert, sein Blick huschte zwischen Jean und den Scherben hin und her, seine Lippen bewegten sich stumm und das rechte Augenlid hatte sich den Zuckungen seines Nachbars angeschlossen. Irgendwann schüttelte er den Kopf und trottete zu seinem Stuhl zurück.
Jean drehte sich zur Wand um und zog seinen Flachmann aus der Sakkotasche.
„Was wollen Sie von mir?“
„Ich wollte dich fragen, ob ...“ Er trank einen großen Schluck und hustete. Der Fusel schmeckte wie ein Destillat aus Halsbonbons und Frostschutzmittel. „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht Lust auf eine neue Rolle hättest.“
„Eine neue Rolle? Was für eine neue Rolle?“
„Eine Rolle ganz nach deinen Vorstellungen. Du hättest da völlig freie Hand. Du wärst der Autor deiner eigenen Rolle, sozusagen.“
„Was soll das?“ Klaus’ Stimme wurde fester. „Was bezwecken Sie damit?“
„Ich dachte nur, einem Mann mit deinen überragenden Fähigkeiten müsste man mehr ... mehr Freiheiten einräumen“, säuselte Jean und spülte den widerlich süßen Nachgeschmack seiner Worte mit Schnaps herunter.
„Und wer um alles in der Welt soll dann Lord Huntington spielen?“
„Ich hätte da an ... Eddie gedacht.“ Jean schraubte den Verschluss auf die kleine Metallflasche und steckte sie zurück in seine Tasche.
„Was? Diese Niete? Diese peinliche Persiflage auf einen talentlosen Laiendarsteller? Wollen Sie den Film etwa vollständig ruinieren? Warum soll ausgerechnet dieser ... dieser Eddie Bolognese ...“
„Calzone“, sagte Jean und drehte sich um. Klaus klappte hastig die Zeitschrift zu, sah für einen Augenblick verlegen zu Boden, dann fingen seine Hände an, einen wilden Gestiktanz zu tanzen.
„Mir ist egal, wie der Kerl heißt.“ Er fegte den Fingerfarbenfreund von seinen Knien. „Warum zum Teufel wollen Sie ihm die Hauptrolle geben?“
Kleine, steife Schritte trugen Jean zu Klaus’ Stuhl.
„Aber es geht doch gar nicht um ihn. Ich will dir ...“
„Jetzt kommen Sie mir nicht wieder mit Ihrem Freiheitsgedöns. Autor meiner eigenen Rolle und so.“ Klaus spuckte vor seine Füße. „Ich merk doch, was hier läuft. Sie wollen mich abschieben, damit dieser Eddie Margherita die Rolle übernehmen kann. Aber warum? Glauben sie etwa, dass er besser geeignet ist, als ich? Lächerlich. Diese Rolle erfordert einen großen Schauspieler. Huntington ist nicht real, er ist nur ein Traum des schlafenden Monsters. Und obwohl er ahnt, dass der Traumtod der Kreatur zu ihrem Erwachen führt und damit seinen eigenen Tod bedeutet, bekämpft er sie. Diese Situation erfordert doch, dass man die Rolle mit einer Art melancholischen, fatalistischen Apathie spielt. Das bekommt dieser Kerl doch niemals hin. Warum er? Warum ausgerechnet er?“
„Sagen wir, ich schulde ihm noch einen Gefallen“, nuschelte Jean und zog unwillkürlich den Kopf ein.
„Das ist kein Grund, mir meine Rolle stehlen zu wollen.“
„Nun ...“
„Auch wenn Sie diesem Knallkopf tausend Gefallen schulden würden. Ich habe einen Vertrag, verdammt. Für genau diese Rolle. Schwarz auf weiß. Mit Unterschrift.“ Der Hauptdarsteller erhob sich, wuchs langsam mit einer Theatralik in die Höhe, die an der Tatsache verpuffte, dass das Wachstum kurz über Jeans Nasenspitze endete. „Ich lass mich von Ihnen nicht herum schubsen.“
„Aber ...“
„Kein Aber. Ich will meine Rolle nicht abgeben.“ Er kniff die Augen zusammen und legte die Hand in den Nacken. „Es sei denn, Sie ...“ Klaus unterbrach sich, presste die Fingerspitzen gegen seine Lippen, wiegte den Kopf hin und her und führte unverständliche Selbstgespräche. „Es sei denn ...“ Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf, belebt durch unzählige Zuckungen. Er schloss die Augen und nickte heftig.
Jean wusste bereits, wie der Satz weitergehen würde. Es war einer dieser Momente, in denen man aufhörte, an Zufälle zu glauben und meinte, hinter der Konsequenz, mit der alles gradewegs in die Katastrophe zu führen schien, einen Plan erkennen zu können. Man fühlte sich wie die Hauptfigur einer Geschichte, die ein sadistischer Schmierfink aufs Papier gerotzt hatte, man lebte durch den Blick des Lesers, der einen von Wort zu Wort stolpern ließ. Es gab keine Abzweigungen. Ein Satz folgte unerbittlich dem anderen, das Ende stand schon seit dem ersten Buchstaben fest.
„Ich fürchte, das geht nicht“, sagte er entrüstet. „Völlig ausgeschlossen. Ich kann dir die Regie nicht überlassen. Regisseur wird man nicht einfach so, nur weil man es will. Zum Regisseur wird man berufen und ...“
„Wer hat denn von der Regie gesprochen? Ich will das Monster spielen.“
Jean war verwirrt. Er wusste nicht, ob diese Forderung besser oder schlechter war, als die, die er erwartet hatte.
„Du willst ...“
„Ich will Ludwigs Rolle.“ Klaus klatschte in die Hände und hüpfte auf und ab. „Ich habe schon oft das Opfer gespielt. Und ich habe es gern gemacht. Die Größe eines Täters färbt zwangsläufig auf sein Opfer ab. Aber dieser Stümper ist eine persönliche Beleidigung. Ich kann diese plump herumpatschenden Hände, die in den Plastikpfoten stecken, nicht ertragen. Ihre Berührung widert mich an. Ich will Täter sein. Ein großer Täter. Ich will diesem Monster und dem Film seine Würde zurück geben.“
„Und du willst dir wirklich keine eigene Rolle ...“
„Ich will in dieses verdammte Kostüm schlüpfen. So kann ich wenigstens ... Mascarpones Leistung neutralisieren, den Film an mich reißen. Ihn retten.“ Klaus fletschte die Zähne, verbog seine Finger zu Klauen und sah in etwa so bedrohlich aus wie eine Steckrübe. „Ich wäre ein gutes Monster. Ein ausgezeichnetes Monster. Ich habe damals schon zu Christopher Lee gesagt, dass ...“
„Schon gut, schon gut.“ Jean seufzte, ging zur Tür und schob die Scherben beiseite, während eine von Klaus’ Anekdoten laut gegen seinen Rücken brandete. „Warte hier.“
Der Hauptdarsteller redete unbeeindruckt weiter. Seine Stimme wurde abrupt leiser, als Jean die Tür zu schlug, verkümmerte zu einem dumpfen Brummen, während er sich Ludwig näherte und fiel der Entfernung endgültig zum Opfer, kurz bevor er das Monster erreicht hatte.
Jean stützte sich an der Backsteinmauer ab, betrachtete den Gummimann, der die Beine ausgestreckt hatte und leise grunzend mit kleinen Steinen spielte, die vor seinem geschlechtslosem Schritt lagen und holte tief Luft.
„Würdest du Klaus vielleicht dein ... Kostüm überlassen und irgendeine andere Rolle übernehmen?“, fragte er und versuchte sich dabei an einem Tonfall, der die Möglichkeit offen lassen sollte, sein Gesuch notfalls noch als Scherz abzutun. Doch er scheiterte kläglich.

*

Jean betrachtete sein Gesicht im Rückspiegel und versuchte, die Antwort zu entziffern, die Ludwig auf seine Wange geschrieben hatte. Er war sich nicht sicher, ob die vier roten Linien nur Nein oder schon Fick dich bedeuteten. Eines wusste er aber genau: die Klauen dieses Bastards sahen nicht nur echt aus, sie fühlten sich auch echt an.
Jean trank den letzten Schluck aus seinem Flachmann, ließ ihn in den Fußraum fallen und lehnte sich zurück. Im Rückspiegel tauchte Eddie auf, der den Regiestuhl verlassen hatte und mit einem Teller in der Hand neben dem Tapeziertisch stand, auf dem das kalte Büffet aufgebaut war. Schräg hinter ihm drehte sich Klaus langsam um die eigene Achse, während er zu einem Spiegel aufsah, den er mit ausgestreckten Armen über seinen Kopf hielt. Den Hintergrund füllte die Backsteinmauer aus, an der Ludwig lehnte, unbeweglich, als wäre er ein Teil von ihr, ein Teil von der Fabrik, die das gesamte Bild in ihren Schatten gehüllt hatte.
Jean fand, dass sich die Szenerie, vom Blick einer Kamera aus der Zufälligkeit gerissen, in eine Einstellung voller Symbolkraft verwandelt hätte. Auch wenn er nicht wusste, was sie symbolisiert hätte.
Jemand schob sich von Links ins Bild, verschwand daraus, tauchte im Außenspiegel wieder auf und klopfte gegen die Scheibe. Jean kurbelte das Fenster herunter. Hans Gesicht sank herab, als würde sein Kinn an der Scheibenkante kleben.
„Alles in Ordnung? Sie sehen so ...“
„Eddie weiß alles.“
„Was weiß er?“
„Er war noch im Studio, als ich ...“ Jean schlug gegen das Lenkrad. „Verdammt, dieses Arschloch will die Hauptrolle.“
„Aber wir können ihm doch nicht einfach so ...“ Hans schluckte den Rest des Satzes glucksend herunter.
„Natürlich können wir das nicht einfach so. Klaus würde auf seine Rolle verzichten, wenn wir ihm die von Ludwig geben würden. Und Ludwig ...“ Jean drehte seine zerkratzte Wange dem Fenster entgegen.
„Scheiße“, flüsterte Hans.
„Du sagst es.“ Jean zog am Türgriff und stieg aus dem Wagen.
„Was haben Sie vor?“
„Irgendwie Zeit gewinnen.“
Er schob Hans beiseite und schlurfte zum Büffet, das aus zwei Kochtöpfen und einer Salatschüssel bestand, in der Friedrich, der Koch, den alle nur Pater nannten, mit einem Löffel herummatschte. Er war angeblich ein entfernter Verwandter von Fred, ein ehemaliger Geistlicher, dem eine abnormale Liebe zum Weihwasser den Job gekostet hatte. Laut Fred hatte es mit kleinen Tropfen angefangen und damit geendet, dass er regelmäßig das ganze Becken ausgesoffen hatte. Vermutlich der erste und einzige bekannte Weihwasserfetischist der Welt – und natürlich hatte ihn das Schicksal ausgerechnet hinter diesen Tapeziertisch gespült, wo er sich seit ungefähr einem halben Jahr um die Verpflegung der Crew kümmerte.
Jean nahm sich einen Pappteller vom Stapel und kramte Plastikbesteck aus einem Korb, der am Rand des Tisches stand.
„Ich hoffe, ich hab nicht umsonst angefangen, meinen neuen Text zu lernen“, sagte Eddie kauend und schob sich eine weitere Gabel Kartoffelsalat in den Mund.
„Danke. Ist ein Rezept von meiner Mutter“, antwortete Pater, der zu allem Überfluss seit einem Selbstmordversuch mit einer Schreckschusspistole auch noch taub war und sich nach ein paar Übungsstunden einbildete, schon die Kunst des Lippenlesens zu beherrschen.
„Nein, natürlich nicht.“ Jean hielt dem Koch seinen Teller hin und deutete auf den linken Topf.
„Wollen Sie heute nicht mal meine Spezialwiener versuchen?“ Pater klopfte mit der Würstchenzange auf den Rand des rechten Behälters, der mit einem schwarzen Filzstiftkreuz markiert war. „Das Wasser ist ganz frisch. Erst heute Morgen abgeschöpft. St. Lukas Kapelle. Kennen Sie vielleicht. Ist hier ganz in der Nähe.“
„Lieber nicht. Wer weiß, wer da schon seine Finger drin hatte.“
Paters Miene verfinsterte sich.
„Im Dom? Ja, die haben wirklich ausgezeichnetes Wasser. Aber leider lassen sie mich da nicht mehr rein. Hausverbot.“
Jean lächelte freundlich, nickte und deutete wieder auf den linken Topf.
„Wenn Sie meinen.“ Der Koch zuckte mit den Schultern und fischte mit seiner Zange ein Würstchen aus dem Wasser.
Soweit Jean wusste, war Klaus der einzige, der an Paters geweihten Wienern Gefallen gefunden hatte. Er behauptete, dass die Dinger einen von Innen reinigen würden und bestand darauf, nach dem ersten Genuss eines dieser Würstchen einen Haufen im Klo hinterlassen zu haben, den das Antlitz des Gekreuzigten geziert hatte.
„Was ist nun mit der Rolle?“, fragte Eddie schmatzend.
„Das geht klar. Ich muss nur was anderes für Klaus finden.“ Jean stellte seinen Teller neben der Salatschüssel ab und griff nach dem Löffel, der in der Pampe steckte. „Oder ihn notfalls irgendwie loswerden.“
„So wie Victor?“
„Ja, nur zu warm für diese Jahreszeit“, mischte sich Pater ein und klapperte rhythmisch mit der Würstchenzange.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich ...“
„Nein.“ Eddie wedelte mit seiner scheckigsilbernen Gabel vor Jeans Gesicht herum. „Ich schätze, für jemanden, der Plastikbesteck mit Silberfarbe bemalt und die Logos von irgendwelchen Porzellanfirmen auf Pappteller kritzelt, ist Mord viel zu ordinär. Außerdem siehst du nicht wie ein Mörder aus, sondern wie ein Clown.“
„Man weiß aber nie, wie es innen drin aussieht“, gab Pater zu bedenken. Jean sah ihn überrascht an. Hatte das taube Huhn etwa den Hinweis verstanden, wo das Korn versteckt war? „Aber meine Würstchen sind frisch, da können Sie ganz beruhigt sein. Nur einmal, da ist eins beim Kochen geplatzt. Zum Glück. Das war innen nämlich ganz verschimmelt. Wenn ich das jemandem angedreht hätte. Aber so was passiert mir nie wieder“, versprach Pater enthusiastisch. Jean atmete erleichtert auf.
„Ich hab keine Ahnung, was da mit Victor abgelaufen ist. Interessiert mich auch nicht. Wichtig ist nur, dass du in der Geschichte irgendwie mit drin steckst.“ Eddie warf Teller und Besteck in den Müllsack, der unter dem Tisch stand.
„Du bekommst die Rolle.“ Jean griff nach der Senftube. „Ich brauche einfach nur noch etwas Zeit, um alles zu klären. Das geht nicht einfach so von heute auf morgen. Ich ...“ Er sah auf seinen Teller und bemerkte, dass er den Kartoffelsalat unter einer dicken Senfschicht begraben hatte. „Ich werde das schon irgendwie regeln.“
„Tu das.“ Eddie wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. „Warum hast du Victor eigentlich in den Tümpel geworfen? Das war doch völlig bescheuert.“
„Weil ... weil es so im Drehbuch stand.“ Jean lachte gekünstelt.
Eddie rollte mit den Augen und sah auf seine Uhr.
„Im Drehbuch steht auch, dass wir jetzt Feierabend machen. Ich hab nachgesehen.“
„Meinetwegen.“ Jean schob sich das Würstchen in den Mund.
„Nein, Schweinefleisch natürlich. Mein Gott, was denken Sie denn von mir?“ Pater klang erschüttert.
„Ich erledige das“, sagte Eddie grinsend, schlenderte zum Regiestuhl griff nach dem Megafon, das laut rückkoppelte und rief: „Schluss für heute.“

*

„Er ist tot?“
„Er ist tot“, bestätigte einer der beiden Kripobeamten und riss die Folie von einer Zigarettenschachtel. Sesselfedern quietschten, als er sich nach vorne beugte und das zerknüllte Plastik neben den Papierkorb warf.
Ein zweiter Beamter lehnte an Jeans Eicherustikal-Schrankwand und rieb schweigend am obersten Knopf seines Mantels.
„Lag im Straßengraben. Wir tippen auf Mord oder eine besonders aggressive Form der Halsentzündung.“ Der Beamte öffnete die Schachtel und fingerte eine Zigarette heraus.
„Das ist ja furchtbar“, sagte Jean leise und schlug die Hände vors Gesicht, um seinen Mangel an angemessener mimischer Überraschtheit zu verbergen.
Der Beamte nickte, schob sich die Zigarette in den Mundwinkel, zog ein Feuerzeug aus der Manteltasche und drehte das Zündrädchen.
„Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragte er und beantwortete sich die Frage selber, indem er die Kippe in die Flamme hielt.
„Ich hab dir doch schon hundert Mal gesagt, dass du eine Zigarettenspitze benutzen sollst. Sich einfach das nackte Mundstück zwischen die Lippen zu rammen, ist furchtbar vulgär.“ Der Beamte an der Schrankwand ließ seine Hand einen Knopf tiefer sinken.
Sein Kollege sah sich um und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Die Zigarette hing ihm schlaff aus dem halbgeöffneten Mund. Irgendwann schüttelte er den Kopf, pflückte den Glimmstängel zwischen seinen Lippen heraus und wandte sich wieder Jean zu.
„Aschenbecher?“, fragte dieser.
„Nein, danke.“ Der Beamte klopfte die Glut auf den Teppich. „Wie gut kannten Sie Victor Pasadelsky?“
„Na ja, wir haben ein paar Mal zusammengearbeitet, aber davon abgesehen ...“
„Er war Schauspieler, wenn ich richtig informiert bin.“
„Leichendarsteller“, sagte Jean und zupfte an seinem Kragen herum. „Er hat immer die ... die Leiche gespielt.“
Ein breites Grinsen erigierte die Zigarette des Beamten.
„Unter ihrer Regie ist er letztendlich zur Höchstform aufgelaufen, was?“
„Wenn Sie damit andeuten wollen, dass ...“
„Ich will gar nichts andeuten.“ Der Beamte lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Sie haben seine Dienste recht häufig in Anspruch genommen, oder?“, fragte der Knopfreiber, löste sich von der Schrankwand, ging zum Bücherregal, wischte mit der Hand über die Holzplatte, betrachtete kopfschüttelnd seine Fingerkuppen und blies den Staub von seiner Haut. „Leichen spielen bei Ihnen doch eine große Rolle. “
„Das ...“ Jean ließ ein abgerissenes Fingernagelstück fallen. „Das kommt ganz auf den Film an.“
Der Raucher schob sich die Zigarette zwischen die Lippen, angelte seine Brille aus der Brusttasche seines Mantels und faltete ein kariertes Blatt auseinander.
Ein Zombielude rechnet ab“, las er, während sein Zeigefinger über das Papier wanderte und in unregelmäßigen Abständen verharrte. „Satanskannibalen, Die Blutwaldförster, Das Folterschloss der Eiterhexen und so weiter.“
Er ließ die Liste sinken, faltete sie sorgfältig zusammen, steckte sie zurück in seine Manteltasche und sah auf. Die Gläser der Lesebrille ließen seine Augen wie aufgequollen wirken.
„Was haben meine Filme mit der ganzen Sache zu tun?“
„Nichts, rein gar nichts.“ Der Raucher spuckte die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Haben Sie vielleicht ein Glas Wasser? Mein Mund fühlt sich schmutzig an. Als wenn ich mit Jauche gegurgelt hätte.“
„Natürlich“, sagte Jean und stand auf.
„Warten Sie.“ Der Knopfreiber griff in die Manteltasche und zog ein Fläschchen heraus, das er seinem Kollegen in den Schoß warf. „Ich hab Mundwasser dabei.“
Der Raucher betrachtete das Etikett.
„Rosenblüten“, las er. „Willst du mich verarschen?“
„Probier es aus. Ein kleiner Tropfen davon lässt eine ganze Füllhornladung ...“
„Verschon mich mit dieser Scheiße.“ Der Raucher warf das Fläschchen über seine Schulter und deutete auf Jean, ohne ihn anzusehen. „Wasser.“
„Kommt sofort.“
Jean eilte in die Küche, die von Schmutzgeschirrgeschwüren befallen war, die in der Spüle und auf dem Tisch wucherten, holte das letzte saubere Glas aus dem Schrank und hielt es unter den Wasserhahn. Er hoffte, dass Eddie nichts ausgeplaudert hatte, vermutete aber, dass er die Produktion nicht gefährden würde, solange er noch daran glaubte, Chancen auf die Hauptrolle zu haben.
Jean drehte den Wasserhahn zu und wandte sich zur Küchentür. Seine zitternde Hand sorgte für unruhige See, ließ Wellen über den Rand des Gefäßes schwappen. Er goss etwas Wasser ab, wischte mit einem Trockentuch die Tropfen vom Glas und Schweiß von seiner Stirn und ging zurück ins Wohnzimmer.
„Hier, bitte“, sagte er.
Der Beamte nahm ihm das Glas aus der Hand, führte es zum Mund, gurgelte, schluckte geräuschvoll, trank wieder, spülte sich das Wasser von einer Backe in die andere und würgte die Flüssigkeit herunter.
„Ich hasse Leitungswasser“, sagte er und stellte das Glas auf dem Tisch ab.
„Mit einem Schuss Rosenblüten würde es besser schmecken.“ Der Beamte hatte sich hinter den Sessel gestellt und war beim dritten Mantelknopf angekommen.
„Wissen Sie eigentlich, dass ein gewisser Eduard Herzog vermisst wird?“, fragte der andere wie beiläufig und zündete sich eine weitere Zigarette an.
„Eddie wird vermisst?“ Diesmal brauchte Jean seine Überraschung nicht zu spielen.
„Seine Frau hat gemeldet, dass er gestern nicht von seinem Morgenspaziergang zurück gekehrt ist.“ Der Beamte zog an seiner Zigarette. „Es gibt einen Zeugen, der behauptet, Herzog wäre im Park von einem kostümierten Typen überfallen und niedergeschlagen worden. Er beschreibt den Täter als“, er blätterte in seinem Notizbuch, „zweibeinige, blauhäutige, echsenähnliche Gestalt, die aussah, wie eine zweibeinige, blauhäutige Echse.“ Der Raucher klappte das Notizheft zu und klopfte die Asche von der Zigarettenspitze. „Zwei Mitglieder ihrer“, er malte Anführungszeichen in den Qualm, der ihm vorm Gesicht hing, „Filmcrew. Einer tot, der andere von einem Spinner im Monsterkostüm verschleppt. Wahrscheinlich täusche ich mich, aber ich würde da einen Zusammenhang nicht völlig ausschließen.“
Jeans Finger krampften sich in das Sofapolster. Ludwig geriet außer Kontrolle. Dieser irre Hurensohn ruinierte alles.
„Wie ist das eigentlich passiert?“, fragte der Raucher, spreizte die Finger, legte den Kopf schräg und fuhr sich damit langsam über seine Wange.
„Das ... das war mein Monster...“ Jean würgte den Satz ab. „Ich meine ... ich meine Ludwig.“
„Ihr Monster?“ Der Raucher legte die Stirn in Falten, was seinen wie zementiert wirkenden Scheitel den Braunen entgegen rutschen ließ.
„Mein Monsterdarsteller. Spielt das Monster. In dem Film, den ich grade drehe.“
„Trägt er in dem Film zufällig ein Echsenkostüm?“
„Nein, er ... er trägt ein Affenkostüm. Spielt einen mutierten Affen vom Mars.“ Jean durchsuchte seine neuronale Rumpelkammer, in der Storyfragmente lagerten. „Ist aus einem Genlabor auf dem Mars entkommen und hat sich in ner ... Wissen sie, im Film ist der Mars bewohnt. Forschungslabore und so. Also er hat sich im Laderaum einer Erdfähre versteckt und ...“
„Ich glaube, das reicht“, nuschelte der Raucher an seiner Zigarette vorbei, die bei jedem Wort auf und ab hüpfte. „Wie heißt ihr Monster gleich nochmal?“
„Ludwig. Ludwig Franck.“
Der Beamte kritzelte etwas in sein Notizbuch.
„Wann, wo und wie kann man ihn erreichen?“
„Er ... er wohnt bei mir. Aber er ist momentan nicht da.“
„Sie leben also zusammen.“ Der Beamte kaute auf dem Mundstück der Zigarette herum. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, schien es nach Fäkalien zu schmecken.
„So würde ich das nicht unbedingt ausdrücken. Er wohnt nur für die Dauer der Dreharbeiten ...“
„Wann kommt er zurück?“ Der Raucher zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf sie auf den Teppich.
„Keine Ahnung“, sagte Jean.
„Wo treibt er sich herum, wenn er nicht hier ist?“
„Weiß nicht. Was er in seiner Freizeit macht, geht mich nichts an.“ Jean schob die Hand in seine Hosentasche, tastete nach einem gefalteten Zettel und schloss ihn in seiner Faust ein, so, als befürchtete er, die Beamten könnten die krakelige Schrift durch den Jeansstoff hindurch lesen. „Aber gestern war er den ganzen Vormittag hier. Wir haben gefrühstückt und dann hat er sich vor den Fernseher gesetzt“, log er.
Der Beamte griff nach seinem Stift, schrieb etwas und warf ihn neben das Notizheft.
„Auch wenn ich es eigentlich gar nicht wissen will: wie ist das mit Ihrer Backe genau passiert?“
„Ein kleiner Unfall beim Dreh.“
„So, so. Beim Dreh also.“
„Ich habe mit Ludwig eine Szene durchgespielt, um ihm zu zeigen ...“
„Rollenspiele, was?“
„Die lassen sich beim Film nicht vermeiden.“
„Nein, beim Film nicht. Das stimmt.“ Der Raucher nahm sich schweigend die Brille von der Nase und ließ sie zurück in seine Tasche gleiten, dann zerknüllte er die Zigarettenschachtel und warf sie vor seine Füße.
Jean kratzte sich Schorf von der Wange.
„Sie sollten damit besser zum Arzt gehen. Sieht nicht gut aus“, sagte der Knopfreiber während er die vertrockneten Blätter einer Zimmerpflanze abknipste und zwischen seinen Fingern zerrieb.
„Nicht nötig. Ist wirklich nicht so schlimm.“
„Hart im Nehmen, was? Na ja, wer solche Filme dreht, gewöhnt sich wahrscheinlich irgendwann an die Folgen von Gewalt.“ Der Raucher zuckte mit den Schultern. „Und wer weiß, an was noch alles.“
„Was soll das heißen?“
„Nichts.“ Der Beamte klappte sein Notizbuch zu, stand auf und schnippte eine Visitenkarte auf den Tisch.
„Rufen sie uns an, sobald Herr Franck wieder hier auftaucht.“
Jean steckte sich das Kärtchen in die Hosentasche und nickte.
„Natürlich“, sagte er.
Der Raucher knöpfte seinen Mantel zu, klappte den Kragen hoch und ging gemeinsam mit seinem Kollegen in den Flur.
„Ich melde mich, wenn ich ihn sehe“, sagte Jean und hielt erst dem Raucher seine Hand hin, der sie mit den Worten „Nein danke, ich habe selber zwei“ ablehnte, dann dem Knopfreiber, der sie ergriff, schlaff schüttelte und seinem Kollegen ins Treppenhaus folgte.
Jean schloss die Tür hinter ihnen, wankte durch die stickige Luft zum Fenster und öffnete es, doch er ahnte, dass der Gestank nicht mehr verschwinden würde. Die einzigen, die den Tag eventuell noch retten konnten, waren Eddie und seine Duftspraygang. Wenn er den Schauspieler halbwegs unverletzt finden würde, dann könnte er die Geschichte der Polizei vielleicht als ein Missverständnis verkaufen, als eine von ihm nicht genehmigte Probe oder dergleichen.
Jean lehnte sich gegen die Wand und griff in seine Hosentasche, zog den Zettel heraus, faltete ihn auseinander und las die unbeholfen hingeschmierten Druckbuchstaben: Kommen Sie morgen um Mitternacht in die Fabrik. Und kommen Sie allein. Ludwig.
Das Morgen war heute.

*

Jean folgte dem Kegel seiner Taschenlampe durch die Nacht, die das Gelände in ein Halloweenkostüm gehüllt hatte – die Fabrik lag als klotziges, von Schloten gepfähltes Untier vor ihm, das Seil des Flaschenzugs schaukelte im Wind wie ein Galgenstrick, die Mauern fletschten ihre Glasscherbenzähne und der Geräteschuppen sah aus wie ein diabolischer Schuhkarton.
Jean hatte die Dunkelheit immer gemocht, dieses Tuch aus Samt, das die Dinge verhüllte, heute wurde sie jedoch von einem unsichtbaren Qualm verpestet, der aus den Schornsteinen der Fabrik zu quellen schien. Die Nacht verlor ihre romantischen Konnotationen, wenn in ihr ein verrückter Monsterdarsteller lauerte, der seine Rolle ein wenig zu ernst nahm.
Jean hatte die schwere Metalltür erreicht. Über ihm rieb sich der Wind rauschend am alten Gebäude, ließ den Haken des Flaschenzugs träge gegen die Mauer kirchturmuhrgongen. Eine Plastikplane, die lose vor einem zerbrochenen Fenster hing, höllenfeuerknisterte im Takt der Böen, leere Bierflaschen rollten steinsarkophagdeckelknirschend über den erodierten Betonboden und ein Auto kroch zombieleichenwagenaufdemwegzumfriedhofderverdammtenbrummend heran. Die Soundeffekte der Nacht.
Jean klemmte sich die Lampe zwischen seine Schenkel und zog einen in ein Trockentuch gewickelten Gegenstand aus der Jackentasche, während sein Blick zu seinem Wagen huschte, der neben dem graffitibeschmierten Pförtnerhäuschen stand. Das leise Brummen des Motors rollte hinter der Mauer des Geländes entlang, Scheinwerferlicht klebte auf dem Straßenausschnitt, der durch das breite Tor zu erkennen war. Ein Auto tauchte auf, kroch in Schrittgeschwindigkeit vorbei und verschwand wieder hinter der Mauer. Dann verlor sich das Geräusch des Motors in der Stille der Nacht.
Jean pellte ein Messer aus dem Trockentuch, ließ den Stofffetzen auf den Boden fallen und tastete nach der Klinke, die rostig knirschte, als er sie herunterdrückte. Seine freie Hand krampfte sich um den Griff des Messers. Wenn man in einen dunklen Tümpel stieg, war ein Stück Stahl, an das man sich klammern konnte, etwas ungemein Beruhigendes.
Jean zog die Taschenlampe zwischen seinen Beinen heraus und drückte die Tür langsam mit dem Ellenbogen auf. Ihr Quietschen durchschnitt die Stille der Halle.
„Hallo?“, rief er. „Ludwig?“
Jean trat in die Dunkelheit, die sich an manchen Stellen zu bizarren Klumpen verdichtet hatte. Der Strahl der Taschenlampe entlarvte sie als alte Maschinen und verrostete Gerätschaften: Metallkästen, Stanzen, Deckenschienen, von denen Haken baumelten, undefinierbare Konstruktionen aus Kolben und Rädern. Jean erkannte keinen Zusammenhang zwischen diesen Dingen; es war unmöglich, zu erraten, was man hier hergestellt hatte, als die Maschinen noch mehr gewesen waren, als ein verrosteter Haufen Schrott. Es war sogar schwer, sich vorzustellen, dass hier überhaupt jemals irgendetwas hergestellt worden war. Alles wirkte wie Dekoration, so, als wäre die Fabrik ausschließlich zu dem Zweck errichtet worden, als Kulisse für diese Szene zu dienen.
Für einen Augenblick dachte Jean daran, den Kampf zwischen Monster und Protagonisten vom Außengelände ins Innere der Fabrik zu verlegen, doch ein Geräusch verscheuchte die Gedanken an seinen Film.
Jean blieb stehen und lauschte. Es schien aus der hintersten Ecke der Fabrik zu kommen, klang nach erstickten Schreien. Er hielt seine Taschenlampe in die Richtung, in der er die Geräuschquelle vermutete, doch ihr Licht versickerte in der Dunkelheit, bevor es den hinteren Teil der Halle erreichen konnte.
„Hallo“, rief er und ging weiter.
Jean kannte dieses Geräusch aus seinen Filmen gut genug, um sich sicher zu sein: es war menschliche Panik, in einen Knebel gebrüllt.
Eddie schien noch zu leben. Und dabei musste es bleiben.
Etwas fiel scheppernd zu Boden, die erstickten Schreie steigerten sich zu hysterischen Gekreische. Jean beschleunigte seine Schritte, hielt die Taschenlampe am ausgestreckten Arm und pflügte durch die Dunkelheit, bis eine Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte; etwas hatte sich aus der Schwärze gelöst, schwang hin und her wie die Todessichel aus Poes Die Grube und das Pendel. Im Licht der Taschenlampe nahm es langsam Konturen an, während das Schreien zu Röcheln verkümmerte.
„Scheiße“, fluchte Jean und überwand die letzten Meter im Laufschritt.
Über einer Leiter, die umgestoßen auf dem Boden lag, zappelte Eddie im Würgegriff eines Seils, das an einem der Haken, die von den Deckenschienen herab hingen, befestig war.
Jean ließ das Messer fallen, legte die Taschenlampe auf den Boden, griff nach der Leiter, richtete sie auf und wollte den Fuß auf die erste Sprosse setzen, als sie plötzlich zur Seite ruckte, kurz auf zwei Beinen balancierte und dann umkippte.
Erst jetzt erkannte Jean die Wäscheleine, die über einem der Gummifüße befestigt war. Sein Blick hangelte sich daran entlang, bis er eine gerüstartige Galerie erreichte. Dort verschwand die Leine hinter einem Stapel Pappkartons. Zwei schemenhafte Hände tauchten auf, führten die Schnur durch eine Masche des Bodengitters, zogen sie straff und verknoteten sie.
„Ludwig?“ Jean tastete nach der Taschenlampe, ohne den Blick von den Kartons abzuwenden, fand das Messer, hob es auf und löste mit der anderen Hand den Lichtstrahl vom Boden. „Lass mich ihn da runter holen. Ich bitte dich.“
Der Kegel der Lampe klebte wie die Parodie eines Spotlights auf den Kartons, während Eddies Röcheln schwächer wurde. Ein bläulicher Gummikopf tauchte kurz hinter dem Pappberg auf und zog sich ruckartig wieder zurück.
„Lass mich ihn ... lass mich ihn runter holen. Mach doch keinen Scheiß. Er hat dir doch nichts ... ich meine, warum willst du ihn ...“ Die Aufregung zerhackte seine Sätze. „Bitte, Ludwig. Du ruinierst meinen ... du ... du ruinierst deinen Film.“
Jean hatte das Gefühl, mit dem Kartonstapel zu reden und es hatte wenig Sinn, zu erwarten, dass ein Haufen Pappe reagieren würde. Er vergeudete Zeit – Eddies Zeit, die gleichzeitig die seine war.
Jean ging in die Hocke, packte die Wäscheleine, drückte sie zu einer Schlaufe zusammen, schob das Messer hinein und fing an, zu sägen. Über ihm polterten Schritte, Metall ächzte, Rost rieselte auf ihn herab. Jean hustete und blickte mit zusammen gekniffenen Augen nach oben. Ludwig hatte den Schutz des Stapels verlassen und stolperte auf eine Tür zu. Die Galerie schien unter seinen Füßen zu zerstäuben, während er nach der Klinke griff.
Das Messer ruckte ins Leere. Jean richtete die Leiter auf und schob sie hastig neben Eddies Beine, die aufgehört hatten, zu zappeln. Er glaubte, leises Röcheln zu hören, hoffte, dass es noch nicht ...
Ein metallenes Quietschen dröhnte durch die Halle, als plötzlich einer der Stützpfeiler wegknickte und Rostwolken in die Luft blies. Ludwig rüttelte an der Tür, ließ die Klinke los und machte einen Schritt auf eine Treppe zu, die am Ende der Galerie nach unten führte. Ein weiterer Pfeiler brach weg, Nieten lösten sich knirschend aus der Backsteinmauer. Ludwig griff hastig wieder nach der Türklinke und klammerte sich mit beiden Händen daran fest. Die Galerie bog sich unter seinem Gewicht durch wie Papier, der Gitterboden brach, das gesamte Konstrukt fiel scheppernd in sich zusammen.
Eddies Schuhspitze berührte Jean an der Schulter und riss ihn aus dem Bann der Zerstörung. Er klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und kletterte auf die Leiter. Oben angekommen stupste er Eddie vorsichtig mit dem Ellenbogen an, während er seine Aufmerksamkeit auf eines der nachtgeschwärzten Fenster konzentrierte, doch Eddie reagierte nicht. Jean spuckte die Taschenlampe in seine rechte Hand, ließ den künstlichen Mond, der zwischen Schmutzsternen auf der Scheibe geklebt hatte, untergehen und stupste Eddie ein weiteres Mal an. Keine Reaktion.
Jean starrte zitternd in die Dunkelheit, bis er hinter sich ein Keuchen hörte. Er sah über seine Schulter und richtete die Taschenlampe auf das Metallgewirr, das vor wenigen Minuten noch die Galerie gewesen war. Der Strahl trieb expressionistische Schatten heraus, die über die Backsteinmauer und den Monsterdarsteller geisterten, der von Rostwolken eingehüllt an der Türklinke hing und erfolglos versuchte, mit den Füßen irgendwo Halt zu finden. Er fluchte, zappelte und schrie. Jean fand, dass er fast wie eine überreife Südfrucht aussah, die ...
Eddies Körper stieß träge gegen die Leiter. Jean zuckte zusammen und wandte seinen Blick widerwillig von Ludwig ab. Es hatte keinen Sinn, es noch länger herauszuzögern. Er richtete die Taschenlampe auf Eddies Knie und ließ ihren Kegel langsam nach oben wandern – Jeansstoff, verkrampfte Finger, Paketband, bläuliche Haut, Gürtelschnalle, schlaffer Hemdzipfel, Knöpfe, Kragen, Kinn.
Jean schloss seine Augen, atmete tief ein, hob die Lider und blickte in die Fratze der Gewissheit. Er schrie auf, übergab das verzerrte Gesicht wieder der Dunkelheit, rutschte von der Leiter und sank auf die Knie.
Schräg hinter ihm ertönte ein Knacken, gefolgt von einem Schrei, der mit dem Scheppern von Metall kollidierte. Jean erhob sich leitergestützt, fuhr herum und stürmte Ludwig entgegen, der sich aufgerappelt hatte und vom Schrotthaufen geklettert war.
„Du verficktes Arschloch“, brüllte er und rammte dem zurückweichenden Monsterdarsteller den Griff der Taschenlampe ins Gummigesicht.
Ludwig taumelte, stolperte und fiel auf seinen Hintern. Jean packte ihn an den Schultern, drückte seinen Oberkörper auf den Boden, kniete sich über ihn. Die Taschenlampe flackerte rhythmisch im Takt seiner Schläge.
„Lassen Sie mich in Ruhe.“ Ludwig kreischte.
Jean drosch auf ihn ein.
„Bitte.“ Ludwig flehte.
Jean schlug zu.
„Beruhigen Sie sich doch.“ Ludwig wimmerte.
Jean ließ die Lampe flackern wie ein Stroboskoplicht.
„Hören Sie auf.“ Hans bettelte.
Jeans Hand fror in der Luft fest.
„Bitte.“
Jean grub seine Finger in die Gummihaut und zerrte daran. Hans Gesicht entschlüpfte der Maske wie einem Kokon.
Sein Assistent starrte ihn schweratmend an und schirmte seine Augen mit der Hand gegen das Lampenlicht ab. Blut blubberte aus seiner Nase.
„Ein guter Plottwist, was?“, fragte er und lachte nervös.
„Wo ... wo ist er?“
„Wer? Ludwig?“ Hans hustete, drehte den Kopf zur Seite und spuckte blutigen Schleim aus, der an seiner Unterlippe kleben blieb wie Kaugummi. „Könnten Sie bitte von mir runter gehen. Sie zerquetschen mir den ...“ Er fluchte, als Jean ihm auf die Hand trat und setzte sich stöhnend auf. „Er ist an einem Ort, an dem er dieses verdammte Kostüm nicht mehr braucht.“
Jean taumelte einige Schritte zurück und stieß mit dem Rücken gegen die Leiter.
„Warum?“
Hans wischte sich schweigend über den Mund.
„Warum, verdammt?“, brüllte Jean und schlug gegen die Leiter, die gegen Eddies Beine kippte.
„Wir können alles auf Ludwig schieben.“ Hans klopfte auf seine Oberschenkel, schien Taschen zu suchen und hielt sich schließlich seinen Zeigefinger unter die Nase. „Wir können einfach weitermachen. Nichts ändert sich. Alles bleibt beim Alten. Ein Happy End.“ Er hustete, würgte und spuckte sich auf die schlurfenden Gummifüße. „Obwohl es natürlich mehr eine Fortsetzung wäre.“
„Du dreckiges ...“ Jean biss sich auf die Unterlippe, schmeckte Blut.
„Ludwig hat sie umgebracht.“ Hans deutete auf die Gummimaske. Blutiger Sabber tropfte von seine Kinn. „Eddie. Victor. Das war er. Dieser verrückte Bastard.“
Jean ließ seinen Blick aus dem von Hans fallen und presste das Kinn auf sein Brustbein. Vor seinen Füßen sah er das Messer liegen.
„Sie werden der Polizei doch erzählen, dass es Ludwig war, oder?“ Hans hatte Jean erreicht und blieb schweratmend stehen. „Das werden Sie doch?“
Die Wut verschmolz Jeans Bewusstsein mit dem Stahl.
„Ich hab das doch auch für Sie getan.“
Jean hörte Hans Worte nur noch gedämpft durch das Rauschen in seinen Ohren.
„Ich weiß, was das Beste für Sie ist.“
Schweiß brannte in seinen Augen.
„Ich kenne Sie sogar besser, als Sie sich selbst kennen.“
Er spürte Hans’ Hand auf seiner Schulter.
„Tun Sie das Richtige.“
Ein Messer.
„Ich bitte Sie.“
Ein Mann
„Bitte.“
Ein Oneliner.
„Rostfreie Grüße aus Solingen“, schrie er, griff nach dem Messer und stach zu, ohne zu wissen, wohin er stach, schrie, ohne zu wissen, was er schrie. Er spürte den Widerstand, den die Klinge durchbrach, hörte Schreie, die nicht die seinen waren, hackte und stach, bis ihm das Messer aus der Hand gerissen wurde. Er stolperte und fiel neben Hans Körper, in dessen Bauch die Klinge steckte, auf die Knie.
„Du zerstörst meinen Film nicht“, brüllte er und wiederholte den Satz, bis aus Brüllen Wimmern geworden war und als Tränen die Wut verwässert hatten, wurde ihm endgültig bewusst, dass Hans das bereits getan hatte.
Jeans Kopf leerte sich, als wenn in seinem Hirn jemand die Klospülung betätig hätte. Das war das Ende. Es existierte keine Zukunft mehr. Jenseits der Fabrikmauern gab es nichts als leere Schwärze. Keine Möglichkeiten mehr. Nichts. Der Abspann war in Sichtweite.
Jean erhob sich langsam und klopfte den Staub von seiner Kleidung.
Die letzte Einstellung war immer die wichtigste. Er musste sich darauf vorbereiten.
Das Monokel glitt aus einem Brillenetui, pendelte in Lippenhöhe, dramatisierte pulsierend Jeans letzte Atemzüge und schwebte dann zum Auge hinauf, die Baskenmütze ruhte auf ausgestreckten Armen über seinem Kopf, bevor sie langsam auf sein rostgesalbtes Haupt herabsank.
Das Schlussbild war das erste, was man sah, wenn man auf eine Geschichte blickte.
Jean tastete nach dem Messer, zog es aus Hans Leiche, umschloss den Griff mit beiden Händen und setzte sich die Spitze auf die Brust.
Neros Dolch, Van Goghs Revolver, Jeans Küchenmesser.
Er zählte leise bis zehn, zählte weiter bis zwanzig, von zwanzig auf null und holte aus. Kein Happy End, aber immerhin ein Ende. Besser als nichts.
„Möge die Nachwelt meinen Selbstmord zur romantischen Tat einer gequälten, unverstandenen Künstlerseele verklären“, schrie er und ärgerte sich, dass niemand hier war, der ihm zusah. „Möge mein Leben zur Legende werden.“ Der Soundtrack erreichte sein Finales Crescendo. Zeit für die letzten Worte. „Welch ein Künstler geht mit mir zu Grunde.“
Jean zögerte. Nein, das war von Nero geklaut.
„Rien ne va plus.“
Und das war einfach nur albern.
Jean ließ das Messer sinken und schob die Hand unter seine Baskenmütze. Es musste doch etwas geben, das er ...
Grelles Licht flutete plötzlich die Halle, spülte zwei Schatten herein.
Jean kniff die Augen zusammen, erkannte dunkle Umrisse kurz hinter der Hallentür, die langsam näher kamen, Gestalt annahmen.
„Keine Bewegung. Hände hinter den Kopf. Auf die Knie. Und so weiter und so fort. Das übliche Programm“, rief eine Stimme, die Jean bekannt vorkam und als einer der beiden Umrisse seine Hand hob und am obersten Knopf seines Mantels rieb, wusste er auch, warum.

*

„Absinth“, verlangte Jean und klopfte auf die Theke.
„Abwas?“
„Absinth“, wiederholte er.
Der Barkeeper starrte ihn an, als hätte er ein Glas Pinselreiniger bestellt.
„La Fée ...“
„Halt, halt, halt“, rief der Regisseur, sprang von einer der langen Kantinenbänke auf, eilte hektisch mit den Armen wedelnd über die Gitterschatten auf den Fliesen, schob einen Wachmann beiseite und sprang auf die wacklige Sperrholzbühne. „Das muss überzeugender klingen. Du spielst einen typischen Künstler. Der Barkeeper versteht dich nicht. Du bist genervt. Du verachtest diesen Menschen ob seiner Unwissenheit.“
„Aber ...“
Die Hand eines Wachmannes zuckte zum Schlagstock, als der Regisseur Jean zur Seite schob und sich vor dem Klapptisch aufbaute, der einen Tresen darstellen sollte.
„Absinth“, sagte er. „Absinth. Absinth. Absinth. So muss das klingen. Du musst ihm das Wort hinwerfen wie Kleingeld vor die Füße eines lästigen Bettlers.“
Jean nickte, wobei ihm seine viel zu große Baskenmütze ins Gesicht rutschte. Der Regisseur klopfte ihm auf die Schulter, sprang von der Bühne, eilte zum Tisch zurück und ließ sich auf die Bank fallen.
„Noch mal von vorne“, sagte er und griff nach dem Textbuch.

 

So, nach langer Abwesenheit melde ich mich hiermit zurück. Die Geschichte ist sehr umfangreich, aber ich denke, eine lange Auszeit rechtfertigt auch einen langen Comebacktext. :D

 

Eins hast du jedenfalls mal geschafft, nämlich die Geschichte packend zu erzählen. Hatt ich sie mal in die Hand genommen (bei dem Umfang muss ich's mir drum fast ausdrucken), konnte ich sie nicht mehr weglegen - zu sehr war ich gespannt darauf, wie's weitergeht, zu flüssig war's erzählt.
Als Bremsklotz erwies sich für mich einzig die Stelle mit dem Obdachlosen: Das Treiben des heruntergekommenen Typen ist zwar ganz witzig, aber etwas zu breit ausgewalzt (kommt mir auch ein bisschen selbstzweckhaft vor; der Typ interagiert schliesslich mit keinem unserer Protagonisten und trägt nichts zur Geschichte bei), und wenn Jean, Ludwig neben sich, eine halbe Ewigkeit vor seiner Haustüre rumgurkt, bis er sie endlich mal aufschliesst, stellt sich zumindest bei mir ein starkes "mach mal hinne!"-Gefühl ein. Die Story kommt da einen Moment wortwörtlich nicht vom Fleck.

Apropos witzig: Der Humor gefällt mir und es gibt ein paar wirklich äusserst lustige Stellen, die Gags kommen an. Der Papagei namens Gott, der Bohrmaschinenvampir, der Seitenhieb auf Bela B. (wobei das wohl ein ziemlicher Insider-Gag sein dürfte), der Scheisshaufen mit Jesus-Anlitz (ja, die gelegentlichen Obszönitäten gefallen mir natürlich besonders), etc. alles wunderbar; bis vielleicht auf die Putzfrau, die urplötzlich in diese "Orpheus"-Interpretation ausbricht und Jean einen Vortrag hält. Ist fast etwas zu dick aufgetragen.

Zudem stellt die Hauptfigur für mich eine etwas zu grelle Kunstfilmer-Karikatur dar. Der erfüllt ja echt jedes Klischee, bis hin zu seiner Kleidung, die ihn tatsächlich wie ein Überbleibsel von der letzten Faschings-Party erscheinen lässt. So richtig warm bin ich mit ihm als Hauptfigur jedenfalls nicht geworden (eine Charakterisation jenseit der Karrikatur fehlt ja auch). Angesichts der vielen Missgeschicke, die ihm passieren, hat man zwar durchaus Mitleid mit ihm, und die Story wäre ja nicht spannend, würde man sich nicht für sein Schicksal interessieren, aber da wäre unter Umstände mehr drin gewesen, z.B. mit der einen oder anderen sympathischen Charaktereigentschaft. Er wirkt ja weitgehend wie ein arrogantes Arschloch, vielleicht sollte er mehr in die durchaus anklingende Richtung "armes Würstchen" gehen... Mit der Möglichkeit zur Charakterentwicklung (oder gar Läuterung).

Der Stil liest sich leicht und flüssig. Besonders positiv aufgefallen sind mir die kurzen "atmosphärischen" Einwürfe ("Eine Erdnussschale zischte klappernd zwischen zwei Händen hin und her, ein Hocker quietschte.", "Eine Klospülung rauschte gdämpft.", "Gläser klirrten, jemand rülpste.") sowie die launige Handhabe von Metaphern und Vergleichen, die gerne mal ins Schräge oder (bewusst) Übertriebene kippen ("Kaffeeduft hing in der trägen Morgenluft, Ludwigs Gestank schweißig im Kaffeeduft und Heikes Parfum plastikblumig in der schweißkaffeeduftenden Morgenluft.", "und der Geräteschuppen sah aus wie ein diabolischer Schuhkarton", etc.).
Und mein absoluter Favorit: "Jean schloss die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken und atmete Tief durch die Nase ein, sog seine Worte, Sternenstaub, der in der Luft schwebte, wie Kokain auf; ästhetische Konstrukte gossen sich aus Himmelsblau, gedankenblitzende Wolken fetzten durch die sich verästelnden Streben, der Boden brach auf, dampfende Wasserfontänen ejakulierten aus Erdspalten auf wuchernde Wiesen der Ideen, die sich bis zum Horizont erstreckten, an denen Visionen schemenhaft flirrten, wie Nebel waberten und ..."
Nett auch die Wortschöpfungen ("Rumpelgesumme", "fabrikschlotbeschattet", etc.) und natürlich die fiktiven Filmtitel. Bloss die "Gumifüsse" der Leiter (hm, müsste das nicht so eine Klappleiter sein? Wird aber nicht als solche beschrieben, soweit ich das sehe - hab sie mir nur automatisch als solche vorgestellt) hab ich im ersten Moment tatsächlich als "menschlichen Füssen nachgebildete Treter aus Gummi" verstanden. :silly:

Zum Teil wird's sogar richtiggehend, hm, tiefsinnig.
Hier zum Beispiel: „'Meine Filme sieht man sich aus dem selben Grund an, aus dem man sich diese dämlichen Heimvideosendungen reinzieht. Die Leute wollen über Missgeschicke lachen. Über Katastrophen. Über Dilettantismus. Das ist der einzige Grund. Darum wird dieser Müll produziert. Kein normaler Mensch hält diese Scheiße ernsthaft für Filme, geschweige denn für gute.'“
Das ist ja eine geradezu düstere Analyse bezüglich Trashfilmen (und ihrem Publikum). Und hier wird's gar selbstreflexiv: "und drittens hasste er Komödien. Sie waren nichts weiter als Lachgas, das den einfachen Pöbel für anderthalb bis zwei Stunden ruhig stellte. Er hatte nie verstanden, wie sich ein Schauspieler dazu herablassen konnte, den Clown zu spielen, um den Menschen die Illusion zu vermitteln, dass es jemanden gab, der noch ungeschickter, dümmer oder erfolgloser war, als sie selbst."
Jean selbst ist hier ja der Clown (auch wenn er nicht durch einen Schauspieler dargestellt wird), während der Leser als Teil des "Pöbels" entlarvt wird.

Am wenigsten zufrieden bin ich mit dem Ende. Mir wird nicht klar, wieso Hans Victor, Eddie und Ludwig umgebracht hat (hat er doch, oder, sein Satz, dass Ludwig die anderen beiden getötet hätte, ist ja nur ein hypothetischer welcher, oder?), oder wie er es gemacht hat. Und wieso zieht er sich Ludwigs Kostüm über? (Okay, er wollte wohl von Jean nicht erkannt werden, aber er hätte sich auch irgendwie sonst verborgen halten oder verkleiden können; das Kostüm kann ja auch nicht besonders praktisch sein bei Tätigkeiten wie dem Morden.) Wieso lässt er Jean um Mitternacht in die Fabrikhalle kommen, wieso stellt er diese "Falle" mit der Leiter auf? Man kann sich zwar alles in eine Richtung zusammenreimen (Hans hatte Angst, dass seine Zusammenarbeit mit Jean enden könnte, und wollte die Morde Ludwig in die Schuhe schieben), das müsste man aber vielleicht noch etwas klarer ausformulieren.
Mir kommt auch Jeans Gewaltausbruch etwas seltsam vor, passt irgendwie gar nicht zu ihm, dem aktionsfaulen, labernden Maulhelden, der bisher notorisch wehrlos erschien. (Er hat sich ja ziemlich auf der Nase herumtanzen lassen.) Zudem hätte ich angesichts dieser Story ein abgedrehteres Ende erwartet; dass Hans nur zufällig durch die zusammenbrechende Galerie vor Jeans Füssen landet, hat gar was von einer Antiklimax.
Und auf den allerletzten Absatz kann ich mir auch keinen Reim machen. Spielen die Gefangenen die Story als Theater durch? Wieso ist dann nicht Jean der Regisseur, er wird sich das Ganze ja ausgedacht haben? Oder soll das bedeuten, dass die ganze Story nichts als ein Theaterstück im Gefängnis war?


Zum Schluss noch die lustigste Sparte: Orthographie und Grammatik. (Hier geh ich mal nach bestem Wissen und Gewissen, aber ohne Richtigkeitsanspruch vor.)

Mit der spitzen Nase, den abstehenden Ohren und den eingefallenen Wangen erinnerte er ihn ein wenig an die Koboldhandpuppe, die er in Der Satanszwerg tanzt Limbo eingesetzt hatte und hätte den Gedanken wohl erheiternd gefunden,[...]
Ich glaube, da fehlt ein "er" vor "hätte den Gedanken wohl[...]". (Hier würde ich zudem vor dem "und" ein Komma machen, weil der mit einem Komma geöffneten Nebensatz vorher wieder mit einem solchen geschlossen werden sollte, siehe auch unten.)
Und hier fehlt noch ein Punkt:
„Er hat immer die .. die Leiche gespielt.“

In mehreren Stellen im Text gibt es Sätze dieser Konstruktion:
Fred stierte durch den Sucher der alten Kamera, die Jean vor Jahren auf einem Flohmarkt erworben hatte und drehte am Objektiv herum.
Ich denke, hier müsste vor dem "und" ein Komma stehen, da der Nebensatz vorher, der mit einem Komma eröffnet worden ist, auch wieder geschlossen werden muss vor besagtem "und". So wiederum bräuchte es kein Komma:
Fred stierte durch den Sucher der alten Kamera und drehte am Objektiv herum.
Würde doch das gleiche bei rauskommen, nicht wahr?
"Gleiche" würde ich hier gross schreiben.
Es war ein Anderer, der sprach, ein Anderer, dem das alles passierte.
"Anderer" wiederum täte ich klein schreiben.
Nagel mich aber nicht auf diese Sachen fest, ich hab meinen Duden nicht hier.

Übrigens:

„Auf Wiedersehen, Hans“, rief er.
[...]
„Orpheus, verdammt“, rief eine Stimme aus dem Off, die Hans gehörte.
Hier dürfte man durchaus Ausrufezeichen (wegen "rief", gell) zwischen Schlusszeichen und Komma setzen (drei Satzzeichen nebeneinander sind seit der Rechtschreibreform ja erlaubt).

Und zum Schluss noch was zu den Doppelpunkten:

„Auch wenn ich mich wiederhole: wo liegt das Problem?“
[...]
Wie gesagt: ich hab das Drehbuch gelesen."
[...]
„Auch wenn ich es eigentlich gar nicht wissen will: wie ist das mit Ihrer Backe genau passiert?“
[...]
Ich denke, hier sollte man nach dem Doppelpunkt jeweils gross weitermachen (weil die darauf folgenden Sätze selbstständig sind). Man kann zwar klein weiterschreiben, wenn man anstelle des Doppelpunktes auch ein Gedankenstrich oder ein Komma setzen könnte, hier scheint mir das aber nicht unbedingt der Fall zu sein.
Hier allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, würde aber tatsächlich bei der Kleinschreibung bleiben:
Jean kannte dieses Geräusch aus seinen Filmen gut genug, um sich sicher zu sein: es war menschliche Panik

 

Hi manhunter,

herzlich Willkommen bei kg.de und vielen Dank für deine sehr ausführliche Kritik. :)


Eins hast du jedenfalls mal geschafft, nämlich die Geschichte packend zu erzählen. Hatt ich sie mal in die Hand genommen (der Mann von Welt durckt sich so was nämlich aus, im Gegensatz zu Tornhill :twisted: ), konnte ich sie nicht mehr weglegen - zu sehr war ich gespannt darauf, wie's weitergeht, zu flüssig war's erzählt.

Sowas hört man doch gerne. :)

Als Bremsklotz erwies sich für mich einzig die Stelle mit dem Obdachlosen: Das Treiben des heruntergekommenen Typen ist zwar ganz witzig, aber etwas zu breit ausgewalzt (kommt mir auch ein bisschen selbstzweckhaft vor; der Typ interagiert schliesslich mit keinem unserer Protagonisten und trägt nichts zur Geschichte bei), und wenn Jean, Ludwig neben sich, eine halbe Ewigkeit vor seiner Haustüre rumgurkt, bis er sie endlich mal aufschliesst, stellt sich zumindest bei mir ein starkes "mach mal hinne!"-Gefühl ein. Die Story kommt da einen Moment wortwörtlich nicht vom Fleck.

Sowas hingegen nicht, zumal die Kritik berechtigt ist. Diese Szene ist wirklich völlig selbstzweckhaft und jetzt, wo ich ein wenig Abstand gewonnen habe, empfinde ich sie auch als zu lang.

Apropos witzig: Der Humor gefällt mir und es gibt ein paar wirklich äusserst lustige Stellen, die Gags kommen an. Der Papagei namens Gott, der Bohrmaschinenvampir, der Seitenhieb auf Bela B. (wobei das wohl ein ziemlicher Insider-Gag sein dürfte), der Scheisshaufen mit Jesus-Anlitz (ja, die gelegentlichen Obszönitäten gefallen mir natürlich besonders), etc. alles wunderbar; bis vielleicht auf die Putzfrau, die urplötzlich in diese "Orpheus"-Interpretation ausbricht und Jean einen Vortrag hält. Ist fast etwas zu dick aufgetragen.

Ich war mir, ehrlich gesagt, auch nicht ganz sicher, ob die Sache mit der Putzfrau nicht etwas erzwungen wirkt. Ursprünglich sollte an dieser Stelle alles glatt gehen, dadurch wirkte die Szene aber sehr blutleer. Also hab ich mir eine Orpheus-Interpretation, die zu der Blick-Thematik der Geschichte passt, aus den Fingern gesogen und sie der guten Frau in den Mund gelegt. Wollte da einfach ein wenig mit dem Putzfrauenklischee spielen und nebenbei wieder auf den Kern der Story verweisen. Ich weiß selber noch nicht so genau, was ich von der Szene halten soll. :hmm:

Zudem stellt die Hauptfigur für mich eine etwas zu grelle Kunstfilmer-Karikatur dar. Der erfüllt ja echt jedes Klischee, bis hin zu seiner Kleidung, die ihn tatsächlich wie ein Überbleibsel von der letzten Faschings-Party erscheinen lässt. So richtig warm bin ich mit ihm als Hauptfigur jedenfalls nicht geworden (eine Charakterisation jenseit der Karrikatur fehlt ja auch)Angesichts der vielen Missgeschicke, die ihm passieren, hat man zwar durchaus Mitleid mit ihm, und die Story wäre ja nicht spannend, würde man sich nicht für sein Schicksal interessieren, aber da wäre unter Umstände mehr drin gewesen, z.B. mit der einen oder anderen sympathischen Charaktereigentschaft. Er wirkt ja weitgehend wie ein arrogantes Arschloch, vielleicht sollte er mehr in die durchaus anklingende Richtung "armes Würstchen" gehen... Mit der Möglichkeit zur Charakterentwicklung (oder gar Läuterung).

Das war durchaus beabsichtigt. Jean hat sich ja verkleidet. Da er sich für einen Künstler hält, hat er sich dem Bild angepasst, das er vom "typischen Künstler" hat - und das ist natürlich ein lächerliches Klischeebild. Er ist ein armes Würstchen, das billige Trashfilmchen dreht, sich lächerlich kleidet, das mit auswendiggelernten Phrasen um sich wirft, von seiner Frau verachtet wird, ein stinknormals Mietskasernendasein führt und zwischen seinem Selbstentwurf und dem Bild, das andere Menschen von ihm haben ("Man ist, was man tut"), zerissen wird.

Der Stil liest sich leicht und flüssig. Besonders positiv aufgefallen sind mir die kurzen "atmosphärischen" Einwürfe ("Eine Erdnussschale zischte klappernd zwischen zwei Händen hin und her, ein Hocker quietschte.", "Eine Klospülung rauschte gdämpft.", "Gläser klirrten, jemand rülpste.") sowie die launige Handhabe von Metaphern und Vergleichen, die gerne mal ins Schräge oder (bewusst) Übertriebene kippen ("Kaffeeduft hing in der trägen Morgenluft, Ludwigs Gestank schweißig im Kaffeeduft und Heikes Parfum plastikblumig in der schweißkaffeeduftenden Morgenluft.", "und der Geräteschuppen sah aus wie ein diabolischer Schuhkarton", etc.).
Und mein absoluter Favorit: "Jean schloss die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken und atmete Tief durch die Nase ein, sog seine Worte, Sternenstaub, der in der Luft schwebte, wie Kokain auf; ästhetische Konstrukte gossen sich aus Himmelsblau, gedankenblitzende Wolken fetzten durch die sich verästelnden Streben, der Boden brach auf, dampfende Wasserfontänen ejakulierten aus Erdspalten auf wuchernde Wiesen der Ideen, die sich bis zum Horizont erstreckten, an denen Visionen schemenhaft flirrten, wie Nebel waberten und ..."
Nett auch die Wortschöpfungen ("Rumpelgesumme", "fabrikschlotbeschattet", etc.) und natürlich die fiktiven Filmtitel.

Danke. :bounce:

Bloss die "Gumifüsse" der Leiter (hm, müsste das nicht so eine Klappleiter sein? Wird aber nicht als solche beschrieben, soweit ich das sehe - hab sie mir nur automatisch als solche vorgestellt) hab ich im ersten Moment tatsächlich als "menschlichen Füssen nachgebildete Treter aus Gummi" verstande

:drool:

Ja, das Ding soll in der Tat eine Klappleiter sein.

Zum Teil wird's sogar richtiggehend, hm, tiefsinnig.

Zum Teil? Das Ding fegt die gesamte Philosophiegeschichte vom Tisch und widerlegt nebenbei die Existenz Gottes. Wenn man alle Vokale aus der Geschichte streicht, erhält man zudem eine Formel für ein Medikament gegen AIDS, das gleichzeitig auch die Bauanleitung für ein äußerst hübsches Vogelhäuschen ist. :D

Am wenigsten zufrieden bin ich mit dem Ende. Mir wird nicht klar, wieso Hans Victor, Eddie und Ludwig umgebracht hat (hat er doch, oder, sein Satz, dass Ludwig die anderen beiden getötet hätte, ist ja nur ein hypothetischer welcher, oder?), oder wie er es gemacht hat. Und wieso zieht er sich Ludwigs Kostüm über? (Okay, er wollte wohl von Jean nicht erkannt werden, aber er hätte sich auch irgendwie sonst verborgen halten oder verkleiden können; das Kostüm kann ja auch nicht besonders praktisch sein bei Tätigkeiten wie dem Morden.) Wieso lässt er Jean um Mitternacht in die Fabrikhalle kommen, wieso stellt er diese "Falle" mit der Leiter auf? Mir kommt auch Jeans Gewaltausbruch etwas seltsam vor, passt irgendwie gar nicht zu ihm, dem aktionsfaulen, labernden Maulhelden, der bisher notorisch wehrlos erschien. (Er hat sich ja ziemlich auf der Nase herumtanzen lassen.) Zudem hätte ich angesichts dieser Story ein abgedrehteres Ende erwartet; dass Hans nur zufällig durch die zusammenbrechende Galerie vor Jeans Füssen landet, hat gar was von einer Antiklimax.
Und auf den allerletzten Absatz kann ich mir auch keinen Reim machen. Spielen die Gefangenen die Story als Theater durch? Wieso ist dann nicht Jean der Regisseur, er wird sich das ja ausgedacht haben? Oder soll das bedeuten, dass die ganze Story nichts als ein Theaterstück im Gefängnis war?

Hans möchte nicht, dass sich etwas ändert. Er möchte weiter mit Jean zusammenarbeiten und Trashfilme drehen. Daher ist ihm der Vertrag natürlich ein Dorn im Auge. Er begeht einen Mord und will ihn auf Ludwig schieben (natürlich eine etwas drastische Maßnahme). Er erwartet, dass Jean die Zusammenarbeit mit Ludwig abbricht (was ja auch nachvollziehbar gewesen wäre). Dieser versucht aber, den Vorfall zu vertuschen und macht sich ebenfalls strafbar, was Hans davon abhält, zur Polizei zu gehen (da er somit ja sein eigenes Motiv bombadiert hätte). Also geht er einen Schritt weiter und schafft Ludwig aus der Welt, schlüpft in seine Rolle und ermordet Eddie (der zu einer Bedrohung geworden ist) vor den Augen Jeans. Damit wollte er quasi drei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Eddie beseitigen, Ludwig beseitigen und zugleich endgültig alle Morde auf den Monsterdarsteller schieben, um sich selbst keinesfalls in Verdacht zu bringen.
In gewisser Weise ist Hans (dass "Jean" die französische Version von "Hans" ist, war zunächst nur ein Zufall, hat sich dann aber als sehr passend herausgestellt) auch ein Repräsentant für alles, was Jean in seinem alten Leben als Trashfilmer hält und verhindert, dass er tatsächlich "Künstler" wird - allen voran natürlich seine Möglichkeiten, bzw sein "Talent".

Zum letzten Kapitel: mir hat einfach die Idee gefallen, Jean am Ende in eine Art von "Hölle" zu stecken (im übertragenen Sinne natürlich). Sein Leben ist zerstört, was bleibt ist die Hülle, das Kostüm, in dem er im Gefängnis auf der Bühne steht und dazu gezwungen ist, die Geschichte noch einmal durchzuspielen - im klaren Bewusstsein seines Scheiterns. Was man in diesem Schluss sieht, bleibt aber letztendlich jedem selbst überlassen. :mrgreen:

Die Fehler, die du gefunden hast, werde ich natürlich behben. Mit einer Ausnahme: ich mag keine Ausrufezeichen und werde mit Sicherheit keins einbauen!!!!!!11!!!! :D


Danke nochmal, dass du dich an dieses Mammutwerk herangetraut hast. :)


LG,

Tobias

 

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