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Traumwanderer
Ich brauchte keine Träume, solange ich den Abendlauf der Sonne beobachtete, denn es berauschte mich jedes Mal, wenn ich sah, wie sie sich von ihrem Thron über den Baumwipfeln zu ihrem Gemach unter dem Horizont zurückzog. Ich liebte diese Momente. Sie waren ehrlich und real. Aber diese Momente waren nur ein Aufflackern von Schönheit, die im Gegensatz zu meinem restlichen Leben stand.
Am Tag war ich nicht mehr als ein einfacher und glückloser Bürohengst, welcher, umgeben von grauen Wänden, grauen Anzügen und grauen Kollegen, sein Dasein fristete. Es gab nichts Ungewöhnliches in meinem Leben, bis auf die wenigen Sonnenuntergänge und die vielen Träume in der Nacht.
Dennoch träumte ich nicht wie all die anderen Menschen. Sicherlich hatte ich solche Träume gehabt, früher einmal. Aber da meine Suche nach menschlicher Nähe am Tag keinen Erfolg gebracht hatte, hatte ich begonnen auch in der Nacht danach zu suchen. Diese Suche hatte meine Träume verändert. Ich hatte mich in ihnen immer weniger als Akteur, sondern mehr und mehr als Beobachter gefühlt.
Ich war nun nicht länger die Person, welche vor der Dunkelheit flüchtete und ich war auch nicht mehr der, der liebte. Ich war nun der, welcher zusah, wie jemand flüchtete und jener, der zusah, wie jemand liebte. Aber so komisch es auch klang, ich spürte, dass diese Menschen, die ich beobachtete, real waren und keine Hirngespinste meiner Fantasie.
So zog ich in jeder Nacht in die unterschiedlichsten Träume. In jene, die voller Hoffnung, Liebe und Freundschaft waren, aber auch in jene, die mir Verzweiflung, Hass und Feindschaft zeigten.
In einer dieser, durch Schlaf geborenen Fantasien, konnte ich erkennen, wie eine Frau und ein Mann sich starr gegenüber standen. Ich spürte, dass dies der Traum dieser wunderschönen, schwarzhaarigen Frau war. Sie beide standen auf einer Kreuzung inmitten einer Großstadt, an einem wolkenlosen Tag. Aber ein schweres Gefühl über allem, strafte diese Fassade lügen, denn als sie ihre Sehnsucht nicht länger zurückhalten konnte, hob sie die Hand um sein Gesicht zu berühren. Doch als sie ihm durch diese Geste näher kam, glitt er ohne jede Bewegung rückwärts und ich konnte zusehen wie ihr eine Träne über die Wange lief. Sie sah merkwürdig aus - so , als ob sie wüsste was geschehen würde, es aber nicht würde verhindern können.
Die Frau machte einen Schritt vorwärts. Der Mann glitt zwei zurück. Der Himmel verdunkelte sich und endlose Häuserreihen verkamen zu Ruinen. Sie begann auf ihn zu zulaufen und wurde immer schneller, um ihn doch noch erreichen zu können. Währenddessen breitete Dunkelheit sich vom Horizont her aus und verschlang die Ruinen und toten Straßen. Nun rannte sie so schnell sie konnte, aber sie kam ihm einfach nicht näher. Stattdessen raste die Dunkelheit unaufhörlich auf sie zu. Als diese schwarze Wand dann den Mann verschlang, blieb sie inmitten der Dunkelheit stehen und brach zusammen.
Dieser Traum blieb mir noch Tage danach im Bewusstsein. Ich konnte einfach das Gesicht dieser Frau nicht vergessen, dass, im Moment, in dem sie zusammengebrochen war, jegliche Gefühlsregung verloren hatte. Ihre Augen waren leer geworden, schon mehr als nur des Todes nah; und ihre Lippen hatten keinerlei Emotion mehr in dieses makellose Antlitz gezeichnet. Ohne Hoffnung und ohne Trost war ihr Geist dann in einen traumlosen Schlaf hinübergeglitten.
So verstrichen nun die Nächte. Ich musste zugeben, dass ich jeden dieser Träume genoss, obwohl sie größtenteils die gleichen Situationen beschrieben. Auch in dieser Nacht schlich ich mich wieder in fremde Träume, bis ich begriff, dass mein Tun dem eines Parasiten glich. Mein eigener Verstand, nicht fähig selbst zu träumen, kroch in geheime Wünsche und Ängste anderer Menschen, um sich daran zu ergötzen. Ich wusste nicht woher dieser Gedanke kam, aber er ließ mich aus meinem Schlaf aufschrecken und mit hämmerndem Herzen auf meinem Bett zurück.
Unfähig meine Augen wieder schließen zu können, stand ich auf und blickte aus dem Fenster.
Es wurde schon langsam hell und ich beschloss, noch vor der Arbeit eine Runde mit dem Rad zu drehen, um über dieses bittere Gefühl in meinem Gewissen nachzudenken.
Es war ein herrlicher Moment. Der Geruch einer verregneten Nacht an einem klaren Sommermorgen hing in der Luft und die Vögel zwitscherten dem neuen Tag entgegen. Diese Minuten waren wunderschön, ehrlich und real.
Ich fuhr bis zu jenem Hügel, von dem aus man über die Wälder wie über ein grünes Meer sehen konnte. Ich liebte diesen Ort. Er war so still und unberührt. Mein Fahrrad legte ich in das feuchte Gras und setzte mich mit dem Rücken an meinen Lieblingsbaum. Von hier aus hatte ich einen traumhaften Blick über die sich wogenden Baumwipfel.
Gerade als ich zur Ruhe kam, kehrten meine nächtlichen Gedanken zu mir zurück:
Ich breche die Privatsphäre anderer Menschen. Wie ein widerlicher Voyeur streife ich durch ihre Sehnsüchte, Verlangen und Begierden. So jemand will ich nicht sein. Ich will niemand sein der anderen bei ihren Ängsten oder Wünschen zusieht. Einmal schon, konnte ich vom Akteur meiner eigenen Träume zum bewussten Beobachter fremder Träume werden.
Meine eigenen Träume? Jene meiner Kindheit habe ich fast vergessen. Worum ging es bei ihnen eigentlich? Ich wollte doch Menschen anspornen und ihnen Hoffnung schenken, stattdessen beobachte ich sie bei ihrem Leid. Vielleicht ist es mir möglich meine Träume noch einmal zu verändern und den Menschen so die Hoffnung zu geben die sie benötigen, um stärker zu werden.
Diese Gedanken hatten meinen Geist beschwichtigt und die Sonne wärmte mich, wie meine Daunendecke in der Nacht. Ich glitt schon bald wieder in einen tiefen Schlaf und verspürte einen Sog zu einem mir bekannten Traum.
Da stand sie wieder, mit dem Gesichtsausdruck als wüsste sie, was geschehen würde. Sie hob die Hand um ihn zu berühren aber er glitt bewegungslos zurück. Dieser Traum muss sich ändern lassen. Ich will nicht noch einmal in ihr leeres und totes Gesicht sehen. Sie soll die Hoffnung bekommen die sie sucht. Meine Gedanken verflechteten sich mit ihrem Traum und ließen mich erstarren. Ihre Sehnsucht, die ich nun deutlicher spüren konnte als je zuvor, überwältigte mich.
Als ich mich wieder fing, kroch diese schwarze Wand gerade den Horizont empor. Die Frau rannte auf ihren Geliebten zu aber er entfernte sich immer schneller von ihr. Für jeden ihrer Schritte glitt er zwei zurück, näher und näher an die Dunkelheit. Ich konzentrierte mich auf diese Dunkelheit um zu verhindern, dass sie ihn verschlang. Und tatsächlich stoppte sie ihren Lauf. Meine Gedanken überschlugen sich: Sie sieht mich an. Sie weiß, dass ich hier bin. Sie ist wunderschön. Sie spürt mich. Ob sie weiß, dass ich real bin? Sicher nicht; es ist doch nur ein Traum.
Ich schreckte auf und mein Herz hämmerte wie es das wenige Stunden zuvor getan hatte. Mein Verstand war wie vernebelt von der Tatsache, dass ich ihren Blick auf mir hatte ruhen sehen. Aber ihre Augen waren ruhig gewesen und ihre Lippen zu einem leichten Lächeln geformt. Sie hatte wunderschön ausgesehen.
Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich schon wieder zu spät zur Arbeit kommen würde, aber das hatte im Moment keine Bedeutung. Wer ist sie?, hallte es ununterbrochen durch meinen Kopf. Den gesamten Weg bis zu meinem Büro in der Innenstadt, flog ich mehr als ich fuhr. Endlich angekommen stellte ich mein Fahrrad an die Hauswand und eilte hinein.
Meine Kollegen, welche mit mir im Büro arbeiteten, würden sich sicher wieder einige Sprüche einfallen lassen, um mir zu zeigen wie spät ich war. Darin waren sie kreativ. Ich hatte die Eingangstür noch nicht einmal richtig geschlossen, als ich bereits die erste schnippische Frauenstimme vernahm: „ Na, da sieht dich unsere neue Chefin gleich von der besten Seite.“
Ich drehte mich um und wollte, ohne jeden Kommentar, einfach an meinen Platz. Doch sie stand bereits vor mir. Die neue Chefin - mit ihrem wunderschönen langen schwarzen Haar und diesem makellosen Gesicht, welches von einem zärtlichen, wissenden Lächeln durchzogen war.
Wir sahen uns an, sicher mehr als eine Ewigkeit. Dann hob sie ihre Hand und ich wusste, dass ich nie wieder fortlaufen würde. Nie wieder.