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Perfektion
Für einen Moment habe ich ein perfektes Leben. Der Wagen gleitet schwer durch die Dunkelheit, am Straßenrand fallen Bäume an mir vorbei. Der Mittelstreifen flüstert im Morsecode zu mir. Und auf dem Beifahrersitz liegt Nicole. Ihre schwarzen Haare hängen weit hinunter wie ein Vorhang und füllen den Raum mit Pfirsichduft. Sie hat die Schuhe ausgezogen und ihre Füße gegen die Frontscheibe gedrückt, über Kreuz liegen sie da, Schmetterlingsfüße. Wenn sie schläft, ist sie ein fleischgewordener Diminutiv. Apart, würden meine Kollegen sie nennen, filigran, illuminativ. Vielleicht auch verwegen, eskalatiös, klimaxisch. Von einer klassischen Eleganz würden sie schreiben und von atemberaubender Schlichtheit, von kristalliner Klarheit der Komposition würden sie sprechen, von einer minimalistischen Fülle. Ihre edle Textur würden sie preisen und der anarchisch-aristokratischen Essenz ein Lob darbringen. Ja, meine Kollegen würden so über sie schreiben, natürlich nur wenn sie etwas zu essen wäre und still. Deformation professionelle nennt man das, unsere Berufskrankheit. Meine Kollegen sind Restaurantkritiker. Sehr zu meinem Verdruss.
Für einen Moment hab ich ein perfektes Leben, dann wacht sie auf. Die Bäume hören auf zu fallen und ziehen nur noch an mir vorbei. Der Wagen gleitet nicht mehr, er fährt.
„Sind wir schon da?“, fragt sie.
„Nein.“
„Und warum weckst du mich dann?“ In ihrer Stimme schwingt die Euphorie eines U-Bahn-Ansagers mit.
„Ich hab dich nicht geweckt“, antworte ich, während ich auf den Mittelstreifen starre. Es kann kein Morsecode sein, der Abstand ist immer gleich. T-T-T-T-T-T, sagt der Mittelstreifen. Daraus kann man schwer Poesie stricken.
„Klar, hast du mich geweckt, ich hab deine Hand genau an der Hüfte gespürt.“
T-T-T-T-T-T.
„Notgeiler Bock“, sagt sie und zieht ihre Beine ein.
Wir fahren schweigend, sie tippt mit ihren zweiwöchentlich manikürten Fingernägeln gegen die Fensterscheibe. Sie weiß, dass ich das hasse.
„Warum hab ich mich noch mal breitschlagen lassen, mitzukommen?“, fragt sie.
Sie hat gebettelt. Hat geschworen, ruhig zu sein. Sich dezent zu verhalten, mir meine Konzentration zu lassen. Mir versichert, ich bemerke sie praktisch nicht, und mir darüber hinaus Sex in Aussicht gestellt, richtig guten, schwitzigen, fast schon brünstigen Sex.
Nein, eigentlich hat sie nichts davon getan.
„Du wolltest mitkommen. Irgendeine deiner Freundinnen hat dir den Floh ins Ohr gesetzt, du müsstest dich mehr für meine Arbeit interessieren.“
„Du kennst nicht mal ihren Namen!“, entgegnet sie sofort.
„Tiffy?“, rate ich halbherzig, ernte ein „Pah!“ und lauteres Fingertippen.
Damit ich etwas anderes höre als das Tippen, denn das Tippen macht mich wahnsinnig, fange ich an zu sprechen: „Man muss sonst bis nach Spanien fahren, um Molekularküche von dieser Qualität zu bekommen.“
„Spanien wäre toll gewesen!“
„Die Leser meines Blattes wollen hier essen, nicht in Spanien.“
„Uuuuuh, dein Blatt“, sagt sie.
„Was ist denn daran so komisch?“
„Uuuuh, mein Blatt. Uuuuh, meine Leser. Uuuuh, Molekularküche dieser Qualität. Uuuh, was ich für Wörter kenne. Uuuh, wie wichtig ich bin.“
Ich schaue nach rechts herüber. Früher hat sie gelacht, wenn sie sich über mich lustig gemacht hat, heute schaut sie dabei aus dem Fenster.
„Stephanie sagt auch, das ist eine Sackgasse.“ Sie spricht Stephanie tatsächlich so aus, als sei es ein ganz exquisiter Name.
„Das wird ganz anders sein als das, was man sonst kriegt“, sage ich als Friedensangebot. „Die kochen wissenschaftlich, zusammen mit Physikern und Chemikern, manchmal auch mit Künstlern. In Chicago gibt es einen, der Sternanis mit einem tausend Grad heißen Laser beschießt, den Dampf in einem Rotweinglas einfängt und dann serviert.“
Das Tippen wird lauter, meine Hände verkrampfen sich um das Lenkrad.
Sie fragt: „Sind wir schon da?“
„Nein.“
„Und warum hast du mich dann geweckt?“
Ich parke den Wagen vor einer Häuserfront, mitten in einer kleinen Stadt. Ich schließe die Augen und versuche, heimischen Boden zu fühlen, Oberwasser zu trinken. Klar zu sein, meinen Geist zu öffnen. Worte zu finden, die passen. Klare, gute Worte. Nichts Apartes, keine Superlative, mein Gehirn zu einer Kamera machen, um die Speisen zu fotografieren, in mehr als drei Dimensionen zu zerlegen, damit ich sie später vermitteln kann, damit ich den Leuten in ihren Wohnzimmern ein Körnchen Geschmack, eine Prise des Zaubers in die Münder streuen kann.
Während ich all dies versuche, sagt Nicole: „Hilf mir mit den Schuhen“ und „Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“
Ich gehe um den Wagen herum und dort sitzt sie in all der Pracht, die die Innenbeleuchtung des Wagens gerade noch fassen kann. Eins ihrer Beine hält sie mir entgegen, das nachtblaue Kleid geht ihr nur bis zu den Knien. Sie reicht mir einen Schuh und sagt: „Von da oben wird das kaum gehen.“
Ich schaue auf den Boden, Asphalt zwar, aber bestimmt dreckig, und auf meine weiße Hose.
„Mach schon, kein Mensch wird Augen für dich haben.“
Ich drücke mein Knie gegen die Fußleiste des Wagens und versuche irgendwie ihren Fuß in den Schuh zu zwängen. Sie hat zierliche Füße, aber keine perfekten. Ihr Spann ist zu breit, der große Zeh zu dick. Um irgendeinen Hebel zu finden, fass ich ihr an die Wade. Sie keucht auf, stößt mir den zweiten Fuß gegen die Schulter und ich setze mich auf die nasse Straße.
„Notgeiler Bock“, sagt sie.
An meinen Händen fühle ich die Straße und mein Hirn spuckt Adverbfetzen aus. Körnig, rau, fest, rustikal, echt.
„Leck mich doch“, sage ich ganz leise und helf ihr in die Schuhe.
Sie klackern laut auf dem Asphalt, als wir über die Straße und auf das Restaurant zugehen.
„Wie heißt das hier?“, flüstert sie.
„Es hat keinen Namen.“
„Was soll das heißen, es hat keinen Namen? Hältst du mich für bescheuert! Woher sollen die Leute wissen, dass es hier diesen Super-Molekular-Fraß gibt?“ Das Flüstern ist nur noch eine angenehme Erinnerung, ihre Worte schneiden durch mich wie ein Sushi-Messer.
„Die Leute wissen es einfach“, sag ich.
„Vielen Dank, Meister Yoda.“
Dann ist sie ruhig, ich öffne die Tür. Eine Tür wie zu einem Mietshaus, im Rahmen Holz und in der Mitte ein schäbiger Glasbaustein. Hinter der Tür empfängt uns ein krankenhausweißer Korridor. Fünf Türen zur linken, fünf zur rechten, eine vor uns. Über den Türen links und rechts leuchten rote Lämpchen.
Nicole kichert. „Was wirst du schreiben“, fragt sie, „Charme einer Entbindungsstation?“
Eine der Lampen zu unserer linken wechselt von rot zu grün und ich öffne die dazugehörige Tür.
„Die müssen überall Kameras haben“, sagt Nicole und folgt mir.
Die Wände sind auch hier von sterilem Weiß, in der Mitte steht ein kniehoher Glastisch, vielleicht vierzig Zentimeter breit und neunzig lang, an beiden Enden des Tisches steht ein einfacher Stuhl. Minimalistisch, auf die Essenz beschränkt, nichts was ablenkt, sagen die Adverben in meinem Kopf.
Nicole schnüffelt lautstark. Fragt: „Riecht’s hier nach Chlor?“
Ich sage nichts und gehe über den Boden. Er schluckt meine Schritte. Nichts hallt. Als ich den Stuhl zurückziehe, gibt es ebenfalls kein Geräusch.
„Streich das mit der Entbindungsstation, schreib Pinkelbecken.“
„Setz dich doch“, sage ich. „Du siehst bezaubernd aus.“
Ich schaue gegen die Wände und gegen die Decke. Weiß, einfach weiß, zwei Meter nach links und rechts, vielleicht drei nach oben, und mir wird klar, was Nicole so verärgert. Das Vögelchen hat sich rausgeputzt und singt doch nur für mich. Ich muss grinsen.
„Was?“, fragt Nicole.
„Och“, mache ich.
Früher hätte sie sich totgelacht, über die Frau, die sie jetzt ist. Aber jetzt lacht sie nicht. Jetzt schaut sie mich an und mein Lächeln flüchtet vor ihr und ich lasse meine Hände über den Glastisch gleiten und heiße die Adverbfetzen willkommen. Rein, kühl, steril, friedlich.
Nicole tippt mit den Fingern gegen die Tischplatte.
Der Kellner steht neben mir, schwarze Halbschuhe, schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarzes Jackett. Ein schwarzer Ziegenbart, die Augen kalt und tot, keine Haare auf dem Kopf.
Nicole wartet auf ein Kompliment. Nicole streckt das Kinn heraus, weil ich ihr früher mal gesagt habe, dass ihr Kinn gar nicht zu ihrem Gesicht passt. Es ist zu kantig, zu ausgeprägt, zu hart für die weichen Wangen und die schmale Nase. Und gerade das mache sie so schön, habe ich gesagt. Dieser Widerspruch. Und auch wenn die Nicole von heute mit meiner nichts mehr zu tun hat, das weiß sie noch. Nur streckt sie das Kinn nicht mehr für mich raus. Und dem Kellner ist es auch egal. Warum hat er so tote Augen?
Ich lächle ihn an und nicke ihm zu.
„Uuuuuund?“, fragt Nicole von der anderen Seite.
„Ja, bitte?“ Die Stimme des Kellners klingt substanzlos. Der Raum frisst den Bass auf.
„Die Kaaarten vielleicht?“ Nicole dehnt das „A“ von Karten, als spräche sie mit einem Kleinkind.
„Wir haben hier keine Kaaarten.“ Der Kellner nimmt ihren Tonfall auf und ich muss lächeln, als die Adverbfetzen für den Service kommen: Unverfroren, mysteriös, augenbrauenlos. Ist das ein Adverb? Er hat keine Augenbrauen.
„Was ist denn hier so verdammt lustig?“, will Nicole wissen.
„Sie servieren hier Menüs“, erkläre ich. „Sag ihm am besten nur, wenn du irgendwelche Allergien hast, dann ändern sie den Gang entsprechend.“
„Gänge?“, fragt Nicole. „Du willst mich wohl mästen, Schätzchen.“ Ihre Liebenswürdigkeit ist kalt und glitschig wie Fisch in einer alten Zeitung. „Dann für mich möglichst wenig Kohlehydrate.“
„Sie irren sich“, sagt der Kellner. „Wir fragen nicht nach Allergien, sondern nach Ihrer Lieblingsfarbe.“
„Blau“, sagt Nicole unwirsch.
Und als ich grade meinen Mund öffnen will, legt mir der Kellner eine kalte Hand auf die Schulter und flüstert: „Nur die der Dame. Ich bin mir sicher, Ihnen wird es munden. Genießen Sie Ihre Zeit bei uns.“
Dann geht er.
„Ist das nicht die Höhe?“, fragt Nicole, als er weg ist.
„Unfassbar“, sage ich. Schon wieder schleicht sich das verdammte Lächeln in mein Gesicht.
„Du sagst mir doch, wenn ich was Ekliges esse, oder?“, fragt Nicole nach einer Weile.
Ich nicke. „Wenn er texanische Austern bringt, lehnst du lieber ab.“
„Ich hab nichts gegen Austern“, sagt Nicole.
„Das sind auch keine Austern.
Nicole schaut mich fragend an.
„Stierhoden.“ Ich lächle ein wenig.
„Wenn ich rauskriege, dass das hier nur ein Witz von dir ist.“ Sie zeigt mit dem Finger auf mich, als wäre es ein Dolch.
„Dann kastrierst du mich, ist mir schon klar.“
„Ich töte dich!“, sagt Nicole und tippt auf den Glastisch.
„Hast du die Augen von dem Typ gesehen?“, frage ich.
„Sie hätten wenigstens etwas zu trinken bringen können, ich sterbe vor Durst.“
„In einem Restaurant neulich, hatten sie eine Flasche Bling H-zwei-O. Fünfzig Euro Mineralwasser.“
„Und wie hat es geschmeckt?“, fragt Nicole.
„Nun, wie Wasser.“
„Und warum erzählst du mir das dann?“ Wieder die U-Bahn-Stimme.
Neben uns beginnt die Wand zu flackern.
Eine Videoinstallation, denke ich, irgendwo müssen doch hier die Fugen sein, während eine grüne Schrift erscheint. „Soylent Green“, steht dort zu lesen. Makaber, denke ich und muss schon wieder grinsen.
„Was heißt das?“, fragt Nicole.
„Das ist aus einem alten Charlton Heston Film aus den Siebzigern und …“
„Laaaangweilig“, sagt Nicole und gähnt affektiert.
Gut, denke ich mir und lächle weiter.
Während wir auf den ersten Gang warten, geht neben uns die Welt unter. Die Videoinstallation lässt ein Unwetter toben. Ein Fischer steht in gelbem Regenmantel vor der zornigen See. Blitze teilen die Welt entzwei.
Nicole schnüffelt: „Riechst du das?“
Ich atme tief durch die Nase ein. „Ozon“, sage ich. „Was für eine schöne Idee.“
Geruchsinstallationen. Gas. Davon hab ich noch nie gehört. Brillant.
„Kalt ist es auch geworden“, sagt Nicole und streicht mit den Händen über ihre Oberärmchen.
Auf dem Glastisch bildet sich eine Reif-Schicht. Ich ritze mit dem Fingernagel eine Spur hinein.
„Mach, dass das aufhört“, sagt Nicole, doch die Videowand zeigt schon den Herbst. Man sieht einen Rechen, er fährt durch Blätter in sämtlichen Braun- und Welktönen, die man sich nur vorstellen kann.
„Nicht schlecht“, sagt sogar Nicole und strahlt, dass es mir ganz zartbitter wird.
„Muss ein Vermögen kosten“, sage ich.
„Was hast du für die Tische bezahlt?“ Ihre Augen glitzern gierig. Die Summe wird sie sich merken, für Stephanie und Tiffy und ihre Maniküre.
„Nichts“, sag ich und dreh mich um, weil ich den Kellner kommen höre. Früher hätte ich ihr eine Freude gemacht und irgendeine absurde Zahl genannt, aber sie macht mir auch schon lange keine Freude mehr. Und wenn sie einmal lacht und strahlt wie früher, dann ist das ein kurzes Sommergewitter, aber der Winter naht und dann ist es besser, wenn man sich schon an die Kälte gewöhnt hat.
Konzentrieren jetzt. Klar, stark, echt.
Der Kellner stellt uns Teller auf den Tisch.
„Spiegeleier? Ist das ein Witz?“, fragt Nicole. Eine silberne Gabel liegt neben dem Teller. Das Ei selbst: Perfekt wie eine Zielscheibe, in der Mitte das Gelbe zum tadellosen Kreis geformt, umgeben von zartestem Weich.
„Spiegeleier, also echt, die krieg sogar ich hin“, mault Nicole noch, bevor ein Schnurren über ihre zarten Lippen kommt.
Als ich den ersten Bissen nehme, verstehe ich sie. Das Eiweiß ist weiße Schokolade mit schwarzem Pfeffer, das Eigelb Orangenschaum. In meinem Kopf brennt ein Feuerwerk ab, Nicole seufzt wie seit drei Jahren nicht mehr und die Stimme in meinem Kopf schreit: Explosiv, gewagt, süß, süß, süß, knallig!
Die Videoleinwand zeigt uns einen Eisberg und ich rieche Vanille.
Nicole strahlt vom einen bis zum anderen Ohr, sie hat die Hände auf ihre Knie gelegt und strahlt sogar noch den Kellner an, auf dessen Tablett diesmal nur zwei Löffel liegen, er beugt sich zu Nicole hinunter, die wie ein Spatz den Mund öffnet und die Augen schließt. Als der Löffel ihren Mund verlässt, bin ich eifersüchtig auf den Kellner. Ich hab sie nie so glücklich machen können.
Salzig, süß, sauer, bitter, umami schreit die Stimme in meinem Kopf, als ich den Mund öffne. Zerleg es. Merk’s dir, aber meine Zunge schreit: Wermut. Gefrorener Wermut! Nein, zerstoßenes Eis, süß, Trüffel? Holz? Holz?! Tränen steigen mir in die Augen.
„Gott, war das gut“, stöhnt Nicole.
Gegen meine Schläfen brandet dumpfer Schmerz, während das Ding auf meiner Zunge die nächste Stufe zündet und mir fast die Besinnung raubt.
Der nächste Gang ist fruchtig. Eine aufgeschnittene Mango mit gefrorenem Grappa gefüllt und von Limetten gekrönt. Ein Bob Marley-Foto ziert die Leinwand und es wird jamaikanisch heiß im Raum. Ich starre auf Nicoles Brüste, während ich: Kalt, warm, wow notiere.
Ein zweiteiliger Cocktail als nächstes. Ananassaft unten, Gin oben, mit einer Prise Wacholder. Wir trinken aus Strohhalmen.
Danach: Eine Eiskugel gefüllt mit klarer Flüssigkeit, wir ziehen sie an einer Vanille-Schote in uns hinein. Die Stimmen in meinem Kopf schreien: Schön, schön, schön. Und sind sonst stumm.
Wir essen Flusskrebs mit Birnen in Rotweinsauce, Hähnchenflügel mit Hummer, Eukalyptuseis im Schokoladenmantel, gefrorene Trüffel mit Teilen einer Passionsfrucht gespickt, andere mit Himbeerbeschlag.
Ich sehe Marilyn Monroe und Pete Sampras, einen Eisbären auf einer Scholle und Feuer. Feuer im Vulkan. Ein brennendes Schiff. Mir wird heiß und kalt. Ich rieche Rosenblüten und Asche und blicke in das aufgehende Gesicht Nicoles.
„Sonne“, sagt sie. „Das schmeckt wie Sonne.“
Der Kellner kommt und geht, schaut mich kurz aus seinen brauenlosen Augen an und Nicole länger. Er legt mir einen Eiswürfel in den Mund und Dampf schießt aus meiner Nase. Nicole kichert, als sie es sieht.
Es ist etwas an dem Essen, das so richtig ist, dass es nur falsch sein kann, denke ich nach Venusmuscheln mit Kirschen und Seegras, und denke es wieder nach Krabbensalat mit geräuchertem Hühnchenfleisch und Artischocken.
Es stimmt nicht, denke ich, während mir heiß und kalt wird, und meine Zunge in Flammen steht. Ich denke es, wenn mein Kopf umami schreit und Tsunami flüstert. Denke es, wenn ich Luft koste mit Erdbeergeschmack. Wenn ich Weihrauch trinke und Erhabenheit schwitze.
Und ich nehme alle Kraft zusammen und fasse dem Kellner an die Hand, als er den nächsten Gang bringt und frage: „Wie? Wie macht ihr das? Ich habe schon so viel gelesen. Stickstoff? Laser? Was injiziert ihr da rein? Ist es das Gas? Nehmt ihr Drogen?“
Der Kellner sagt: „Unser Koch hat seine Seele verkauft.“
Ich sehe ihn mit großen Augen an und warte auf ein Lächeln, während Nicole sich mit den Fingerspitzen an einer geschlossenen Überraschung zu schaffen macht, die auch auf mich wartet.
„Magie“, sagt der Kellner. „Ihr Essen wird lau.“
„Ich muss es sehen!“, flehe ich ihn an. Nicole greift über den Tisch und angelt sich meine Überraschung, ihr Kleid raschelt, als es über den Tisch gleitet.
„Überlegen Sie sich das gut“, sagt der Kellner und geht ohne ein weiteres Wort.
Ich schaue Nicole an, während wir alleine sind. Eine Pause nur, eine kurze Pause. Ich rieche nichts, die Videoleinwand ist blind.
„Wir sollten gehen“, sage ich, „irgendetwas stimmt hier nicht.“
„Bist du verrückt?“, fragt Nicole mit geschlossenen Augen. „Ich würde sterben für den nächsten Gang.“
„Würdest du mich auch töten?“, frage ich.
Nicole lächelt, drückt den Kopf in den Nacken und sagt verträumt: „Für eine Messerspitze von dem Zeug, mein Liebling.“
Als der Kellner den nächsten Gang bringt, folge ich ihm.
Wir laufen durch eine menschenleere Küche und ich bombardiere den Kellner mit Fragen: „Wie ist die Flüssigkeit in die Eiskugel gelangt? Was für einen Teint hatte der Gin? War das wirklich Holz? Wie kann Holz so köstlich schmecken?“ Ich frage und frage. Frage nach dem Geruch und den Bildern, nach Lasern, Sternanis und Gasen.
Irgendwann stehen wir vor einer Schaltzentrale, ich sehe elf Monitore, drei sind leer, einer zeigt den Gang, der Rest besetzte Tische. Ich sehe einen Politiker aus der Zeitung, so einen jungen Dicken, verzückt seine Geliebte anstarren und einen von den Ärzten, glaube ich. Oder ist das Campino? Eine Frau füttert einen Mann zwischen ihren Brüsten. Ein alter Mann isst alleine. Nicole für zwei.
„Sie sollte das nicht tun“, flüstert der Kellner. „Die Portionen sind auf zwei Personen abgestimmt.“
Ich frage weiter. Flehe, er möge mich in die Mysterien einweihen, mir die Küche zeigen, die Gerätschaften, mir die Wunder erklären.
„Ich bin nur der Kellner.“ Er macht eine umfassende Geste. „Und das hier ist die Küche.“
Ich schaue mich um: Leere Anrichten, keine Töpfe, ein paar kalte Öfen. Silbernes Küchengeschirr.
Nicole fällt von ihrem Stuhl, ich sehe es auf dem Monitor.
Ich höre ein Rattern, neben dem Video-Mosaik öffnet sich eine Klappe und ein abgedecktes Tablett offenbart sich.
„Die Küche ist im Keller!“, rufe ich.
„Es führt kein Weg hinunter“, sagt der Kellner und nimmt das Tablett heraus.
„Bitte!“ Ich packe den Kellner am Kragen. „Ich muss ihn sehen!“
Der Kellner starrt mit seinen toten Augen auf meine Hände. Wenn er Augenbrauen hätte, zöge er sie wohl nach oben. Sein Blick fällt auf den winzigen Speiseaufzug, ich verstehe und lasse ihn los. Ich falte mich zusammen, atme tief aus – Restaromen echoen in meinem Kopf umher – und quetsche mich in die kleine Box.
„Lassen Sie mich herunter!“, rufe ich noch. Doch der Kellner schließt bereits die Klappe und sagt: „Nur ganz kurz. Und bleiben Sie da drin.“ Dann setzt sich der Aufzug in Bewegung. Nach unten.
Ich bin wie tot, als ich nach unten fahre. Ich wünsche mir, es würde nie aufhören. Ich wünsche mir, es wäre schon vorbei. Meine Knie drücken gegen die Nieren. In meinem Kopf rast es. Ambrosia, rast es. Nektar, rast es. Die elysischen Felder. Bin ich auf PCP?
Der Aufzug kommt zum Stehen, die Klappe öffnet sich. Ich sehe auf den Rücken eines Mannes, er sitzt in einem Korbstuhl, ich kann seinen nackten Rücken sehen, den Po und auch die Schultern. Er sitzt vor einem riesigen Rad, ein Rad mit dreizehn Speichen, in jeder hängt eine Frau. Nein, nicht in jeder. Eine ist noch frei.
Die Frauen schreien gegen die Knebel zwischen ihre Zähnen. Nadeln beißen in ihre Körper, Flüssigkeit läuft durch Röhren in eine Apparatur, die der Meister-Koch verdeckt. Ihre Augen blinzeln, vielleicht wollen sie mir morsen, aber ich sehe nur T-T-T-T-T-T. Was seht ihr da, ihr göttlichen Zutaten? Was erblicken eure Augen da? Ist es Euer Wesen? Eure Essenz?
Ich räuspere mich im Angesicht seiner Heiligkeit, das Herz droht mir in der Brust zu zerspringen. Oh, wie dankbar bin ich Gott für diesen Moment erhabener Reinheit. Hatte ich je Zweifel an seiner Existenz, so sind sie getilgt. Ich sehe an seinen Schultern, dass er kocht, ich rieche es in der Luft, dass er kocht, die Erde zerbirst, wenn er kocht.
Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Ich flüstere: „Kompliment an die Küche.“
Und eine Stimme antwortet: „Alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
Doch als ich „Zu meiner vollsten Zufriedenheit“ antworte, sage ich die Worte in das Gesicht des Kellners, der mir kühl eine Hand reicht und mir tadelnd auf den Rücken schlägt, als ich mich auf die Küchenfliesen übergebe.
Während ich Köstlichkeiten dem Boden anvertraue, die so riechen, dass ich sie sofort wieder in mich saugen möchte, sagt der Kellner: „Das wird nicht nötig sein. Sie haben ja nun reserviert.“
„Hm?“, mache ich, während da unten ein Büschel Seegras schwimmt.
„Ja, stehende Reservierung. Wir sehen uns im nächsten Monat.“
Ich strahle ihn an.
„Ist das in Ordnung für Sie?“, fragt er mich noch.
„Perfekt“, sage ich. „Einfach perfekt.“
„Bei ihrem nächsten Besuch wird es tatsächlich perfekt sein. Dank Ihnen.“
Auf dem Weg nach Hause fallen die Bäume an mir vorbei. Und der Mittelstreifen morst mir Poesie ins Herz. Es ist still und mein Kopf ist frei. Wenn es ein Adverb geben sollte, für heute Nacht, dann nur eins.