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Beerdigt
Schläfrig öffnete ich meine Augen. Alles war dunkel. Als ich nach dem Lichtschalter tasten wollte, stieß mein Hand an eine Wand mit dünnem Samtbeschlag direkt neben mir. Panik schoss in mir hoch und ergriff jedes meiner Körperteile. Fünf Zentimeter über meinem Kopf ging ebenfalls eine Wand entlang. Holz, vermutete mein geschockter Verstand. War es ... ich meine konnte es ... ein Sarg? Bitte nicht! Ich schrie und schlug wild um mich. Mit voller Kraft wuchtete ich mich gegen die Decke. Nichts bewegte sich. Erst beim zweiten Mal öffnete sich der Deckel schlagartig. Jemand schien den Verschluss geöffnet zu haben.
Erschöpft von der Anstrengung blieb ich sitzen und sah mich um. Zwei Dutzend erschrockene Augen starrten mich an. Ich starrte zurück. Nicht eines der bleichen Gesichter kam mir bekannt vor. Dort standen zumeist ältere Damen mit altmodischen Hüten und schwarzen Röcken. Mir dämmerte langsam, dass dies eine Trauergesellschaft sei und wir uns, ich schaute mich um, tatsächlich auf einem Friedhof befanden. Oh, Gott. War das etwa meine Beerdigung? Ein kühler Wind spielte mit meinen Haaren und brachte Bewegung in die Trauergäste. „Brigitte, du lebst ja.“, brachte eine schwarzverschleierte Frau endlich trocken heraus.
Brigitte?, dachte ich. Ich hieß nicht Brigitte. Erneutes Panikgefühl ließ mich an mir herunter gucken. Mir stockte der Atem und mein Herz setze ein paar Schläge lang aus. Ich schaute auf einen dicklichen, faltigen und fleischigen Altfrauenkörper. Entsetzt wandte ich mich ab. Tausend Fragen hinderten meinen Verstand am Denken.
Irgendjemand holte mich aus der Grube. „Danke“, murmelte ich, als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. „Brigitte? Ich bin’s dein Bruder Jörg!“ Ein graumelierter Bart piekste mich am Ohr. „Jörg?“, Soweit ich wusste hatte ich keinen Bruder namens Jörg.
„Wer bin ich?“, krächzte ich schließlich. „Oh nein,“ stöhnte ein Damenbart rechts von mir, „jetzt ist sie nicht nur untot, sondern auch noch demenzkrank.“ Das Kaffeekränzchen dahinter schien sich von dem Schock erholt zu haben und sich prächtig zu amüsieren. Eine Antwort bekam ich nicht.
Während wir langsam dahinschlichen, ich kannte das Ziel nicht und konnte nur gestützt durch meinen „Bruder“ humpeln, ordnete ich meine Gedanken. Gestern bin ich achtzehn Jahre alt geworden. Soweit ich weiß, habe ich nicht zu viel getrunken, obwohl mir abends der Kopf ziemlich schwer war. Der „Geburtstagsmix“ der Wirtin war wohl doch etwas hochprozentiger. Ich bin gegen dreiundzwanzig Uhr ins Bett gegangen und sofort eingeschlafen. Mir wollte einfach nicht einfallen, wann ich in diese Lage gekommen sein musste. Das war doch kafkaesk! Auf alle Fälle durfte ich mir nicht anmerken lassen, wer ich wirklich bin. Schreckliche Bilder von Irrenhäusern, weißbekittelten Frauen und langen Spritzen erschienen in meinem verwirrten Geist. Sei, wofür sie dich halten, sagt ich mir. Nebenbei musste ich aber unbedingt herausbekommen, wo mein eigentlicher, junger Körper abgeblieben war.
Ich sammelte meine Kräfte und fragte die mir am nächsten gehende schwarze Schleife im gefärbten Haar: „Wo gehen wir hin?“ „Essen,“ war die knappe Auskunft. Danke, dacht ich ironisch. Ich versuchte es bei Jörg: „Wohin gehen wir?“ „Zum Italiener. Wir haben für die Trauerfeier gebucht.“ „Italiener,“ sagte ich, „eine gute Wahl für meine Beerdigung.“ Hinter mir hüstelte der Damenbart von vorhin: „Brigitte, du hasst es italienisch zu essen. In deinem letzten Willen stand, dass du uns verbietest deine Beerdigung beim Italiener zu zelebrieren.“ Shit. Bleib ruhig, sagte ich mir. Glücklicherweise kam mir die Hornbrille entgegen: „Vielleicht hat der Scheintod, oder wie man es nennen soll, gewisse Veränderungen gebracht. Möglich wäre es doch,“ schüchtern lächelte sie in die Runde. Der Damenbart bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. Ich lächelte ihr dankbar zu und hoffte meine erste Verbündete gefunden zu haben. Den Rest des Weges legten wir schweigend zurück.
Kurz vorm Italiener ließ ein kalter Wind uns erschauern. Willkürlich schaute ich in die Richtung aus der der Wind kam. Eine weitere Trauergesellschaft ging müden Schrittes den Weg von der Kirche zum Friedhof entlang. Vier kräftige Männer im ersten Drittel des Zuges trugen einen Sarg. „Da scheint jemand wirklich gestorben zu sein,“ murmelte ich. „Durchaus. Das ist das Mädchen, das gestern in deiner Bar ihren Geburtstag gefeiert hat und mit der du dein Gift geteilt hast, Brigitte. Das Gift, dass du für deinen Selbstmord gemischt hattest.“ Der Damebart wurde von allen Seiten wütend angeblickt und gepufft, ob des gelüfteten Geheimnisses.
Oh, ich bin also ein Selbstmörderin. Nein, nicht ich, korrigierte ich mich, Brigitte. Wer wohl das Mädchen ist, dass Brigitte mit in den Tod nehmen wollte? Und warum? Langsam kam der Trauerzug mit dem Mädchen näher. Jörg zupfte mich am Ärmel und zischte: „Schnell rein, wenn die dich sehen!“ Dann würde ich höchstwahrscheinlich des Mordversuchs angeklagt werden, beendete ich den Satz in Gedanken. Gerade als ich mich von dem Anblick losreißen wollte, erstarrte ich. Direkt hinter dem Zug ging meine Mutter! „Mama“, röchelte ich heiser, „Mami!“ Inzwischen begann auch der Rest des Kaffeekränzchens mich in das Restaurant zu ziehen. Schlagartig wurde mir alles klar. ES hatte wieder zugeschlagen. Jeder ist ihm machtlos ausgeliefert. Diesmal aber nicht! Ich konnte mich aber nicht mehr bewegen. Papa ging neben Mama. Eben rutschte eine Rose vom Sarg. Meine Mutter bückte sich sie aufzuheben. Unsere Blicke begegneten sich. Mama!, formte ich mit meinen Lippen. Ihre Augen weiteten sich, aber nicht, weil sie ihre Tochter erkannte, nein, die Mörderin ihrer Tochter. Ich streckte meine Hand aus. Ich wollte alle am weitergehen hindern. Meine Mutter sollte mich trösten. Mein Körper sollte nicht begraben werden. Ich bin nicht tot, wollte ich rufen. In diesem Augenblick umfing mich wohltuende Schwärze.
Als ich blinzelnd meine Augen zu öffnen versuchte, war alles schwarz. Ich tastete rechts von mir. Suchte ich einen Lichtschalter? Ich wusste es nicht, irgendwas, was mir verriet wo ich bin. Doch meine Hände tasteten nur Samt. Nein, stöhnte ich. Nicht schon wieder. Bitte nicht. Ich war zu schwach um zu schreien. Langsam versucht ich mich zu drehen. Meine Seite stieß an etwas hartes über mir. Ich holte tief Luft. Mein Kopf schmerzte. Langsam betastete ich meinen Körper. Ich erfühlte das Armband, das mir meine Großmutter zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Wenigstens war das mein Körper. Ich lächelte schwach. ES hatte mir einen Streich gespielt. Nun würde alles gut werden. Leise drangen Stimmen zu mir vor. Ein ohrenbetäubendes Summen in meinem Kopf hindert mich am Verstehen. Es fühlt sich an, als hätte ich einem mordsmäßigen Kater. Wo bin ich?, wisperte ich ohne Hoffung auf Antwort. In der Ferne hörte ich eine Turmuhr zwölf mal schlagen. Mit jedem Schlag wurde das Summen in meinem Kopf leiser und mein Geist leichter. Sanft schwebte ich aus meinem samtbeschlagenen Gefängnis. Ganz leiste hörte ich hinter mir die Stimme meiner Mami: „Leb wohl, geliebte Tochter.“