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Der Asakusa-Störfall
6:22 Uhr.
Der Waggon für die weiblichen Passagiere war, wie so oft, als Erstes überfüllt. Nichtsdestotrotz stürzten Geschäftsfrauen auf Stöckelschuhen heran und eilten Frauen ganz ohne Dresscode herbei – im Schlepptau: Mütter mit pummeligen Kindern.
Als aus dem Drängen ein Schieben und Drücken wurde, musste Nobe eingreifen. Mit behandschuhten Händen in makellosem Weiß bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Bei den Türen angelangt, half er den Passagieren ihre Köpfe und Handtaschen, Rockzipfel und Hosenbeine hineinzuzwängen. Innen hörte man einige Menschen lachen, die Mehrheit jedoch keuchen und nach Luft ringen. Stück für Stück ließ sich die Tür zuschieben.
Nobe atmete schwer und versuchte den Schweiß zu ignorieren, der in kleinen Bächen unter seiner Schirmmütze hervorquoll. Dabei hatte seine Schichte kaum vor einer Stunde begonnen und das Schlimmste - Rushhour - stand ihm noch bevor.
Jetzt war es fast geschafft. Nur noch einmal ein Schieben hier und ein Drücken dort, dann würde sich die Tür schließen lassen. Doch kaum hatte er seine Hand auf eine vermeintliche Schulter gelegt, als ein wütender Schrei ertönte: „Chikan!“; und noch einmal, laut genug, so dass es auch die Leute auf dem Bahnsteig verstanden: „CHIKAN!“
Nobe, der weder begriff, dass der Sittenstrolch nicht drinnen, sondern draußen war, noch dass er selbst es war, der die Frau unsittlich berührte, wurde von hinten gepackt.
Erst da bemerkte er seinen Irrtum und dass die Schulter - schön weich und gar nicht knochig – keine Schulter gewesen war. Doch noch während er über die Beschaffenheit der „Schulter“ nachdachte, brachte man ihn mit jener Bestimmtheit, die Unruhstiftern vorbehalten ist, zu den Büros der Bahnangestellten. Hinter ihm schloss ein Kollege die Tür des Frauenwaggons. Dann erfolgte ein Pfiff und der Zug fuhr davon, hinein in das weit verzweigte Tunnelsystem Tokios.
„Sie wollen also sagen, dass die unsittliche Berührung an einem weiblichen Fahrgast rein zufällig geschah?“
Nobe nickte.
„Wer hat sie dort weggezogen?“
„Herr Masao. Er hat mich in das Büro des Herrn Kenta gebracht. Herr Kenta ist mein Vorgesetzter, ihm unterliegt die allgemeine Aufsicht. Bei Störfällen, jedweder Art, ist er sofort zu verständigen.“
„Wie hat Herr Kenta auf den Vorfall reagiert?“
Nobe blickte zu Boden und schwieg.
„Herr Nobe würden Sie dem Gericht bitte die Frage beantworten.“
„Er hat mir zu verstehen gegeben, dass es ihm gleich wäre, ob ich ein Chikan sei, oder nicht. Jedoch hätte der Vorfall zu einer Verzögerung im Fahrplan führen können. Herr Kenta gab mir zu verstehen, dass sollte ähnliches noch einmal geschehen, ich mit meiner Kündigung zu rechnen hätte.“
„Fahren Sie bitte mit ihrer Schilderung fort.“
7:16 Uhr.
Nach einer längeren Unterredung bei Herrn Kenta, befand sich Nobe wieder an der Haltestelle Asakusa, wo das Gedränge um ein Vielfaches angeschwollen war. Entsprechend der Situation wurden die Frauenwaggons wieder für alle Passagiere zugänglich gemacht und mit Hilfe des Kollegen Kiyoshi, stopfte Nobe, Zug für Zug - im 3-Minuten Rhythmus, die Massen in die Waggons. Diesmal jedoch sorgsam darauf bedacht “wo“ er seine Fahrgäste berührte. Hübsche Frauen überließ er, soweit möglich, seinem Kollegen, der weit weniger Hemmungen zeigte, als Nobe sie derzeit verspürte.
Als erneut eine U-Bahn abgefertigt war, lüftete er kurz seine Schirmmütze und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Die Luft war im Lauf der letzten Stunde merklich drückender geworden. Erschöpft betrachtete Nobe die Menschen, die sich zu Hunderten, wenn nicht Tausenden, am Bahnsteig tummelten.
Er überlegte, dass die Belüftungsanlage vermutlich auf Hochtouren arbeitete, jedoch diesen Ansturm gegenüber machtlos war. Er schüttelte den Kopf über diese geballte Präsenz menschlichen Fleisches, als die nächste U-Bahn einfuhr.
Nobe wollte seinem Kollegen gerade aufmunternd zunicken, als ein Schrei ertönte und noch ehe er wusste was geschah, begannen die Bremsen des Zuges zu Kreischen. Sein Blick erhaschte das bleiche Gesicht des Zugführers; einen Sekundenbruchteil später erspähte er einen jungen Mann, der mit geschlossenen Augen auf den Gleisen stand.
Noch ehe Nobe „Das ist ein verfluchter Selbstmörder“ zu Ende denken konnte, verschwand der Mann unter den Rädern des Zuges.
Schnell sah Nobe weg und hielt sich die Ohren zu. Trotzdem glaubte er ein mahlendes Geräusch zu hören. Er spürte wie ein Schauer die Menschen um ihn herum erfasste und erwartete das kollektive Schreien und Wehklagen aus tausenden Kehlen zu hören.
Stattdessen hörte er nach einem Moment der Stille vereinzeltes Johlen, gefolgt von Lachen und Pfiffen. Interessiert drängte die Masse der wartender Menschen nach vorn.
„Verfluchter Mist!“
Schimpfend kam Kiyoshi auf ihn zu.
„Zwanzig Minuten, Nobe! Sieh dir das an. Zwanzig Minuten! Ich möchte wissen, wie wir das bei all den Menschen hier schaffen sollen.“
Nobe schüttelte den Kopf, dann half er seinem Kollegen die lärmende Menge nach hinten zu bitten.
Kiyoshi hatte Recht, bei so vielen Leuten, war es unmöglich den Störfall in der vorgeschriebenen Zeit zu beseitigen.
„Herr Nobe, bitte beschreiben sie das Procedere, nach dem bei einem Selbstmord verfahren wird.“
Nobe musste nicht lange überlegen, als er, wie aus der Pistole geschossen, antwortete:
„Bei einem Selbstmord ist unverzüglich die Aufsicht zu verständigen. Die Aufsicht sorgt dafür, dass sich ein Notarztteam beim Unglücksort einfindet, welches den Zustand des Opfers zu bekunden hat. Des Weiteren ist es nicht gestattet das Opfer ohne ärztliche Anweisungen zu bewegen. Ist das Opfer sachgemäß untersucht worden, obliegt es den Bahnangestellten dafür zu sorgen, dass das Ärzteteam das Opfer abtransportieren kann. Die Bahnangestellten haben daraufhin den Unglücksort zu inspizieren und gegebenenfalls zu reinigen. Weiterhin ist die Bahn dazu angehalten die Störung in einem Zeitraum von maximal 20 Minuten zu beseitigen, andernfalls ist die darauffolgende Verspätung vor den Fahrgästen nicht länger zu verantworten.“
„Herr Nobe, wurde das von ihnen beschriebene Procedere vorschriftsmäßig durchgeführt?“
„Nein. Nach 15 Minuten war der Notarzt noch immer nicht eingetroffen, woraufhin wir von der Bahnaufsicht die Anordnung erhielten, das Opfer eigenständig von den Gleisen zu entfernen. Wir verpackten den Leichnam in einer provisorischen Folie und schafften die Leichenteile in den Waschraum für die Bahnangestellten. Anschließend säuberten wir den Unglücksort mit einem Reinigungsschlauch.“
„Wann traf der Notarzt ein?“
„Nach etwa einer halben Stunde.“
„Was für eine provisorische Folie war das, in welcher sie den Leichnam verpackt hatten?“
Nobe senkte den Blick zu Boden.
„Es waren Müllsäcke.“
„Herr Nobe, ab wann wurde der Fahrdienst wieder aufgenommen?“
„Nach 35 Minuten.“
7:41 Uhr.
Herr Kenta war persönlich am Unglücksort erschienen. Nobe stand mit Kiyoshi auf den Gleisen, wo sie versuchten den Zug und die Schienen notdürftig zu säubern. In zwei Müllsäcken sammelten sie Stofffetzen und blutige Leichenteile ein, während ein paar andere Kollegen die Aufgabe erhalten hatten den Torso wegzuschaffen. Herr Kazuki, ein Kollege, der erst seit kurzem hier beschäftigt war, achtete darauf, dass die Leute der Unglückstelle fern blieben.
Als die Säcke zur Hälfte gefüllt waren, kletterte Kiyoshi auf den Bahnsteig zurück.
„Nobe, pass auf. Ich hol mal eben schnell den Schlauch. Dann können wir das Blut von den Gleisen spritzen.“
Nobe blieb zurück und besah sich gedankenverloren den Schauplatz.
Viel war von dem Unglück nicht mehr zu erkennen. Ein paar rote Spritzer an der Zugverkleidung und ein paar nasse Stellen zwischen den Schienen. Nichts Aufregendes, dennoch spürte er die neugierigen Blicke der Menge wie ein Gewicht auf sich ruhen. Mit den beiden Müllsäcken in der Hand drehte Nobe sich zum Bahnsteig um.
Kazuki, in seinem verzweifelten Bemühen die Menschen zurückzuhalten, konnte nur symbolisch für Ruhe sorgen. Zu beiden Seiten standen Schaulustige an der Bahnsteigkante und hielten ihre Handys nach unten, um Bilder oder Filme von der eben stattgefundenen Tragödie zu ergattern. Eine auffallend geschminkte Mädchengruppe wurde schließlich sein Verhängnis. Kaum hatten diese ihren Blutdurst gestillt, begannen sie Kazuki zu umgarnen – nicht weil sie ihn anziehend fanden. Nein, es war schlicht und ergreifend Spaß. Das und Langeweile.
Nobe, der noch immer beide Mülltüten in den Händen hielt, warf ihm neidische Blicke zu, als Kenta, eben noch telefonierend, ihn lautstark anschnauzte.
„Verdammt noch mal, sehen sie schon wieder den Weiberröcken nach! Ich dachte, ich hätte sie wegen dem Chikan-Vorfall deutlich genug verwarnt! Aber was sehe ich? Nein, der Herr Nobe, umringt von Blut und Tod, kann von seinen Perversitäten nicht lassen! Sie sind wirklich das Letzte und es wundert mich gar nicht, dass sie in all den Jahren noch nicht befördert worden sind. Jetzt nehmen sie gefälligst ihren Müll und bringen ihn weg. Der Zug hatte schon genug Verspätung!“
Nobe, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, kletterte mit gesenktem Kopf nach oben. Seine Hände waren schweißnass, seine Ohren vor Scham glühend rot. Die Mädchen, die vor ein paar Augenblicken noch Kazuki umringt hatten, kicherten.
Sie lachen mich aus, dachte er und ein kurzer Blick in die umstehenden Gesichter zeigte ihm Verachtung gepaart mit Mitleid.
So schnell er konnte drängte er sich durch die Menge. Sobald er den Personal-Waschraum erreichte, stieß er die Tür auf und hastete hinein. Drinnen ließ er die beiden Mülltüten fallen und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Wand. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals und Adrenalin pumpte durch seine Adern. In seinen Ohren klingelte es eigenartig, während sein Verstand abwechselnd Kentas Worte und das Kichern der Mädchen abspulte.
Er war sich sicher den Waschraum nie wieder verlassen zu können als sich nach einiger Zeit die Tür öffnete und Kiyoshi erschien.
„Hey Nobe, alles klar? Ich hab gehört, wie Dich der Alte zusammengestaucht hat. Denk Dir nichts, Du warst nicht sein einziges Opfer. Gleich als Du weg warst, hat er sich Kazuki vorgeknöpft. Glaub mir, der musste sich einiges mehr anhören.“
Nobe blickte auf und sah Kiyoshi hilflos an.
Herr Nobe, wie lange haben sie sich in dem Waschraum aufgehalten?“
„Ich weiß nicht genau, aber vermutlich nicht sehr lange. Fünf bis zehn Minuten vielleicht?“
„Gut, bitte fahren sie fort.“
8:26 Uhr.
Nach viel gutem Zureden und einem Schluck aus einer kleinen Metallflasche, die Kiyoshi verbotenerweise mit sich führte, schaffte es Nobe den Waschraum zu verlassen. Die U-Bahnen fuhren wieder und die Gaffer waren verschwunden. Er und Kiyoshi arbeiteten an ihrem gewohnten Platz und halfen den Fahrgästen in die Züge zu gelangen. Die Luft war wie ehedem heiß und stickig und der Andrang hatte nach der Verzögerung noch mal kräftig zugelegt. Aber so hart die Plackerei auch war, sie half Nobe einen klaren Kopf zu bekommen.
Über eine Stunde arbeiteten sie routiniert, als das Unglück ein drittes Mal zuschlug.
Der Bahnsteig, der mittlerweile so überfüllt war, dass die Leute sich nicht einmal mehr umdrehen konnten, spuckte plötzlich vor Kiyoshi und Nobe einen mittelgroßen Hund aus. Ungläubig starrten sie das Tier an, der wie ein Geist aus dem Boden gewachsen schien, als sie am anderen Ende der Leine eine zierliche Frau bemerkten.
Unvermittelt fuhr die nächste U-Bahn ein. Automatisch drängte die Menge nach vorne und verschluckte die alte Frau mit ihrem Hund.
Irgendwas war komisch an ihr, dachte Nobe. Doch ehe er das Rätsel lösen konnte, holte ihn die Realität wieder ein.
Die Leute schubsten und quetschten sich in den Zug, als ob ihr Leben davon abhinge. Nobe drängte sich das Bild einer Horde Clowns auf, die sich in der Manege in ein winziges Auto zwängten. Doch das Bild dutzender Clownsgesichter, die ihn aus einem winzigen Auto heraus anstarrten, ließ ihn an die Gruppe grell geschminkter Mädchen denken, der Kazuki zum Opfer gefallen war.
Nobe musste schlucken. Aber entweder war der Kloß zu groß oder aber seine Kehle zu klein. Jedenfalls bekam er keine Luft mehr. Schon hörte er das Blut in seinen Ohren rauschen, als ein lautes Jaulen ertönte.
Augenblicklich fiel ihm die alte Frau mit ihrem Hund ein, und da wusste er was ihn vorhin irritiert hatte. Sie war blind gewesen und der Hund war kein gewöhnliches Haustier sondern ein Blindenhund, … einer, der gerade eben vor Schmerz oder Angst gejault hatte.
Hastig schob er sich an den Leuten vorbei, die um Einlass kämpften, und versuchte die alte Frau oder den Hund in der Menge zu entdecken.
Aus irgendeinem Grund wusste er, dass den beiden etwas zugestoßen sein musste und wenn er nicht augenblicklich handelte, würde das Unglück heute ein drittes Opfer fordern.
Noch immer versuchte er sich einen Weg zwischen Zug und drängelnden Fahrgästen bahnen. Doch so sehr er sich auch mühte, er kam nicht durch.
Er sah sich nach Kiyoshi um. Er winkte, rief, bis der endlich verstand und seinerseits versuchte einen Weg durch die Menge zu finden.
Umsonst. Wie die kaiserliche Garde standen die Leute Schulter an Schulter. Erneut glaubte Nobe den Hund heulen zu hören, als er eine Idee hatte.
Er packte einen ahnungslosen jungen Mann und rief "CHIKAN".
Der Mann zuckte heftig zurück und stammelte, dass er niemanden angefasst hätte. Doch noch bevor er hatte ausreden können, hatte Nobe sich bereits den nächsten geschnappt, den er ebenfalls lautstark als "CHIKAN" beschuldigte.
Kiyoshi, der Nobe verdutzt anstarrte, begann zu begreifen. Mit festem Griff hielt er einen Bänker auf – für Kyoshi war jeder Mann der Anzug und Krawatte trug ein Bänker - und begann diesen lauthals zu verunglimpfen.
"Herr Nobe! Sie haben unschuldige Menschen der Sittenwidrigkeit bezichtigt?"
Nobe schwieg, dann nickte er vorsichtig.
Der Richter schüttelte den Kopf, bat ihn dann aber weiterzuerzählen.
Es funktionierte. Langsam aber sicher wich die Menge zurück, so dass Nobe und Kiyoshi sich am Bahnsteigrand entlang des Zuges vorbeidrängen konnten.
Bald erkannte er die Frau wieder, die hilflos in den Spalt zwischen zwei Waggons gestürzt war. Hastig eilten Nobe und Kiyoshi zu ihr.
Schluchzend lag sie mit dem Oberkörper auf dem Bahnsteig und tastete ziellos mit den Händen nach Halt. Nobe kniete sich hin, packte eine ihre Hände und erkannte, dass er mit seiner Vermutung recht gehabt hatte. Sie war blind.
"Keine Angst", stammelte Nobe, "ich bin hier um ihnen zu helfen. Passen sie auf, gleich haben wir sie da draußen."
Er zog an ihrem linken Arm, während Kiyoshi rechts zupackte. Die Frau rutschte ein Stück nach oben und blieb stecken. Nobe sah, wie sich das Kleid spannte. Es musste sich irgendwo unterhalb des Bahnsteigs verhakt haben. Kiyoshi wollte gerade loslassen und an dem Kleid zerren, als plötzlich ein Pfiff ertönte. Kiyoshi und Nobe erstarrten, dann zogen sie mit aller Kraft an der schluchzenden Frau.
Die Türen schlossen sich.
Nobe, der im Gesicht rot anzulaufen begann, drehte sich um und bat die umstehenden Leute ihm zu helfen. Doch außer einer alten Frau, die eine tiefe Traurigkeit ausstrahlte, sah er nur unzählige Handys auf sich gerichtet.
Plötzlich begann der Zug vorwärts zu rollen und die Frau in ihren Armen zu kreischen.
Nobe ließ los und rannte so schnell er konnte zur Führerkabine. Ohne Rücksicht boxte und trat er sich durch die gaffende Menge. Der Zug war nur ein paar Meter gerollt, als er auch schon wieder bremste. Scheinbar musste der Fahrer bemerkt haben, dass etwas nicht in Ordnung war. Trotzdem rannte Nobe weiter und klopfte, als er beim Führerhaus angelangt war, hektisch gegen die Scheibe.
„STOP! Nicht weiterfahren!“
Aber tief in ihm drinnen wusste er, dass es auch diesmal zu spät war.
"Was ist dann passiert, Herr Nobe? Hat die Frau überlebt?"
Nobe schaute auf und schüttelte traurig den Kopf.
"Dann erklären Sie mir bitte, wieso der Zug eine Verspätung von eineinhalb Stunden hatte."
Nobe hob zum Sprechen an, brachte jedoch kein Wort heraus. Er räusperte sich, dann versuchte er es noch einmal.
"Es war wegen dem Hund. Sie hat gefragt, ob..." Nobe schluckte.
"Sie wollte wissen, ob es ihrem Hund gut geht, kurz bevor sie... kurz bevor sie die Augen für immer schloss."
"Was ist dann geschehen?"
"Ich hab den Hund von unterhalb des Zuges jaulen hören. Gleich darauf ist Herr Kenta erschienen und wollte den Fahrverkehr, trotz des Hundes, der zwischen den Rädern gefangen war, wieder aufnehmen.
"Und dann, Herr Nobe? Was haben sie dann gemacht?"
"Ich habe ihn geschlagen und ehe mich jemand hätte hindern können, bin ich auf die Gleise runter und unter den Zug geklettert. Dort war es ziemlich dunkel und auch sehr eng, deswegen hat es ein wenig länger gedauert, bis ich den Hund finden konnte. Aber er hat noch gelebt und ich konnte ihn retten."
"Herr Nobe, wissen sie, wie viele Menschen täglich die Asakusa-Linie benutzen?"
Nobe verneinte.
"Mehr als vier Millionen Menschen!"
"Wissen Sie auch, wie viele Menschen an dem Tag wegen ihnen zu spät gekommen sind?"
Nobe verneinte.
"Etwa 2,8 Millionen."
"Und wissen sie vielleicht, welcher Zeitspanne es entspricht, wenn 2,8 Millionen Menschen eine Verspätung von eineinhalb Stunden haben?
Nobe schüttelte wiederum seinen Kopf.
"480 Jahre! Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren, entspricht das der Lebenszeit von sechs Menschen!"
Nobe schaute den Richter wortlos an.
"Herr Nobe, sie haben wegen des Lebens eines Hundes praktisch sechs Menschenleben auf dem Gewissen! Was sagen sie dazu?"
Nobe sagte nichts.
"Hören sie genau zu! Denn das was ich ihnen jetzt zu sagen habe..."
Aber Nobe hörte nicht länger zu. Er erinnerte sich, wie er mit dem Hund in den Armen auf dem Bahnsteig erschienen war. Triumphierend, fast wie einen Pokal, hatte er ihn hochgehalten. Er sah Kiyoshi lächelnd winken. Er sah das Veilchen, das er Herrn Kenta, seinem Vorgesetzten, verpasst hatte. Er sah all die bösen Blicke mit dem die wartende Menge ihn bedachte. Doch all das war ihm egal. Er hatte ein unschuldiges Leben gerettet. Und nicht nur das. Er hatte dafür alle Regeln gebrochen. Diesmal hatte er geschubst und gedrängelt – nicht um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Nicht um irgendwelche Einkäufe zu erledigen. Nein, er hatte sich gegen den gewaltigen Strom von zigtausend Menschen gestellt um ein Leben zu bewahren – und er hatte gewonnen.
"Das war es wert", murmelte Nobe. "Das war es wert, was auch immer kommen mag.