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Neue Hoffung (1949)
Aus dem kleinen Radio drang Rauschen, bis Daniel den Sender fand und die Stimme des Nachrichtensprechers von Knistern begleitet erklang.
"Die Übersicht: Der Parlamentarische Rat in Bonn verabschiedet das Grundgesetz. Damit werden heute, am 23. Mai 1949, um Mitternacht die westlichen Besatzungszonen zur Bundesrepublik Deutschland."
Mehr hörte Daniel nicht. Dieses Wort Bundesrepublik klang ihm seltsam – es war ein Symbol der Hoffnung und ließ ihn dennoch zweifeln. Mit ihm verband sich die Vision eines Sommernachtmittages im Schatten eines Apfelbaumes, umgeben vom Wärme und dem Sonnenlicht, das durch die Blätter blinzelte, während ein lauer Wind über das Gras strich und in der Ferne ein Heißluftballon am Himmel stand. Doch schien Daniel dieses Bild unecht und träumerisch verschwommen - er glaubte nicht daran.
„Alles Unsinn.“
Es war Thomas, der sprach. Er saß im einzigen Bett des Zimmers, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und deutete mit dem Stiel seiner Pfeife auf das Radio.
„Schalt es ab. Ich ertrage diese Schweine nicht. Damals haben sie uns um den Sieg gebracht, nun bringen sie uns um unsere Einheit.“
Er trug die selbe Kleidung wie immer – es war die Einzige, die er besaß, seit Daniel seine Uniform im Garten verbrannt hatte. Fleckig und übergroß hing ihm das Hemd um die Brust. Der Kragen stand offen und Daniel konnte die käsige Brust mit dem hervortretenden Brustbein sehen. Sein linkes Hosenbein war ab dem Knie eine leere Hülle, die ausgestreckt auf der Matratze lag.
„Sie sind unseren Soldaten in den Rücken gefallen. Sie haben unsere Wirtschaft zerstört.“
Speichel sprühte ihm von den Lippen. Sein Schnurrbart zitterte. Hastig paffte er seine Pfeife und die Rauchwolken stieg auf zur Decke, wo sie als Nebel zerliefen. Ihr süßliches Aroma drang Daniel in die Nase.
„Sei still!“, fuhr ihn Gerda, seine Mutter, an. „Du bist es, den ich nicht ertrage.“
Sie kauerte im Ohrensessel, dem alle Beine fehlten, gekrümmt von Alter und Krieg, eine von Bosheit entstellte Baumhexe, mit Fingern wie tote Äste und knorrig gekrümmter Nase - und starrte ihren Sohn voll Hass und Abscheu an.
„Schließlich war es dein Führer, der uns den Krieg brachte.“
Bei „Führer“ zuckte Thomas zusammen, nahm Haltung an; fast hätte er den Arm zum Gruß gehoben.
„Untersteh dich, du Feigling, du Schwächling, du Versager, du Nichtsnutz. Schießt dir ins Bein, nur weil du zu feig‘ zum sterben bist.“
Wieder zuckte Thomas. Sein Gesicht schien gequält. Er nebelte sich mit seiner Pfeife ein.
„Ja, ich kenne die Wahrheit. Da war kein Russe in Stalingrad. Da warst nur du. Schießt dir so dumm ins Bein, dass sie es abnehmen müssen … Wärst wenigstens dran gestorben. Dann müsste ich dich nicht durchfüttern und Daniel nicht so viel laufen.“
Gerda lächelte Daniel zu und ihr Faltengesicht verrutschte dabei, hing schief, als habe die Haut nicht mehr die Kraft sich für ein Lächeln zu spannen.
Sofia, ihre Enkelin, versuchte einzugreifen: „Beruhig dich doch.“
„Das sagst du, du Schlampe. Lässt dich mit einem Soldaten ein, der stirbt, kaum dass er Vater ist. Du kannst froh sein, dass ich ihn hier behalte, deinen Bastard.“
Die junge Frau duckte sich am Fenster, dem schmutzigen Fenster auf den zerbombten Innenhof, und hielt dem kleinen Hanno zu ihren Füßen die Ohren zu. Dessen Gesicht war weinerlich verzerrt.
„Ihr seit alle unerträglich – außer du Daniel, du bist ein lieber Junge.“
Wieder verzerrte sich ihr Gesicht.
„Aber ihr seit Abschaum. Nichtsnutzig. Verkommen. Widerlich.“
Daniel hielt sich zurück. Er blieb, nahe des Radios an die schimmlige Tapete gelehnt, Beobachter einer Szene, in der er keine Rolle spielte, und sah nur, wie sich Thomas Gesicht rötlich verfärbte. Es begann auf seinen Wangen, wo hitzige Flecken aufblühten. Von dort wucherten sie über Nase und Stirn und überzogen das Gesicht mit glänzender Röte. Seine Brust wölbte sich zum Schrei.
„Heil Hitler!“
Die linke Hand schlug auf die Brust, die Rechte schoss im Bogen empor.
Nun waren sie still, sie alle, und lauschten ängstlich, ob Soldatenstiefel das Treppenhaus mit Poltern heraufkämen. Gerda saß erstarrt im Sessel und starrte mit angstgeweiteten Augen auf die Sperrholztür. Sofia hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Und Hanno, der nichts verstand außer die Angst seiner Mutter, stand, die Augen aufgerissen, den Mund zu einem Schrei geöffnet, den er nicht wagte, zu ihren Füßen und presste seine Hände in der Geste des Entsetzens gegen die ausgehölten Wangen. Nur Thomas wirkte zufrieden - um seinen Mund lag ein Lächeln.
Daniel löste sich von der Wand und ging in der Stille des Zimmers, in der seine Schritte erschreckend laut klangen, zur Tür und horchte. Da war nichts. Keine Soldatenstiefel stürmten die Treppe herauf. Er sah die Familie an, die auf ihn blickte, und schüttelte den Kopf.
Die Angst wich nur langsam aus dem Zimmer. Hanno schloss seinen Mund und begann wieder lautlos zu weinen, während seine Mutter die Hände sinken ließ.
In die noch immer herrschende Stille hinein sagte Daniel: „Ich gehe Brot kaufen. Geld habe ich noch genügend. Bis nachher.
Er öffnete die Tür und trat hinaus. Im faulig riechenden Treppenhaus hörte er noch, wie Thomas Mutter wieder zu schreien begann.
„Wie kannst du es wagen …“
Auf der Straße angekommen war der Himmel düster-grau von Wolken. Sanfter Nieselregen fiel wie Nebel. Die Luft schmeckt kalt und feucht.
Daniel zog die Schultern hoch und trat aus dem Hauseingang. Er fror im schwachen Wind. An den Straßenrändern ragten, in den Schleier des Regens gehüllt, Ruinen auf. Manche standen noch zur Hälfte, von anderen waren nur die Reste des Fundaments, ein Treppenaufgang ins Leere, ein Rahmen ohne Tür geblieben.
Mit Schutt gefüllte Bombenkrater durchbrachen den Asphalt.
Ein Junge saß am Straßenrand auf einem Haufen Steine. Er lächelte Daniel freundlich an. Doch die Augen, die unter regennassen Haarsträhnen hervor blickten, waren so stumpf und leer wie zwei Kugeln aus Glas und neben dem Jungen lag, von Trümmern halbbedeckt, das leere Gesicht in den düster-grauen Himmel gerichtet, der zerschmetterte Leib seines Freundes. Zwei Frauen liefen auf die beiden Kinder zu. Einer von ihnen liefen die Tränen über die Wanden; die andere verbiss sich den Schmerz. Und Daniel floh sie alle – Frauen wie Kinder. Denn das Bild des Jungen warf ihn zurück in die Vergangenheit, mitten hinein in den Krieg und seine Schuld.
In einer Bombennacht:
„Aber was ist, wenn die Flieger kommen?“
Gerda hatte Angst um ihn. Ihre knorrigen Finger lagen auf seinem Arm. Sie zitterten wie Zweige im Sturm.
„Ich muss gehen. Hanno braucht Milch, sonst stirbt er.“
Sofia stand am Fenster, dem schmutzigen Fenster auf den zerstrahlten Tintenhimmel, und wagte nicht ihn anzusehen. Tränen glänzten auf ihren Wangen. Er hätte sie gerne fortgewischt. Das Wimmern des kleinen Hannos erfüllte längst nicht mehr die Luft – der Hunger hatte ihm die Stimme genommen. Auf dem Arm seiner Mutter wirkte er winzig, fast als gäbe es ihn nicht.
„Du darfst nicht gehen, es ist zu gefährlich.“
Gerdas Stimme bebte wie die Knochen ihrer Hand und ihre Augen glänzten angstvoll im Dunkel des Zimmers.
„Ich kann nicht anders.“
„Hast du denn keine Angst?“
Er hatte Angst, Angst vor den Fliegern am Himmel und vor dem Feuer ihrer Bomben, aber das konnte er ihr nicht sagen. Darum ging er schweigend zur Tür und verließ ohne Abschied das Zimmer. Beim Gehen glaubte er Sofias Blick in seinem Rücken.
So lief er durch die Nacht, getrieben von der Angst um ein Kind.
Er wusste, wo es Milch gab, geschmuggelt vom Land, und dorthin hastete er.
Der Mann, der auf sein Klopfen öffnete, sprach kein Wort, gab ihm nur ein Einmachglas voll Milch und nahm Daniels Zigaretten dafür.
Sie kamen auf dem Rückweg. Auf einmal jaulten die Sirenen in der zuvor stillen Stadt. Huschende Schatten erfüllten die Nacht, Menschen, die in Bunker und Keller eilten. Er folgte ihnen nicht – er musste laufen. Denn schrecklicher als die Bomber war ihm der Gedanke er käme zu spät und alles sei verloren. Seine Ohren schmerzten ihm vom Kreischen der Sirenen, seine Beine vor Schwäche und nur die Angst hielt ihn aufrecht.
„Komm. Wir müssen in den Keller. Schnell.“
Ein Junge hatte ihn am Arm gepackt und zog ihm mit sich.
„Aber die Milch.“
„Tot nützt dir keine Milch. Komm.“
Sie liefen auf den Eingang eines Hofes zu. Durch das Jaulen der Sirenen hörte Daniel über sich das Brummen der Bomber. Er sah nach oben. Die Nacht gehörte den Flakscheinwerfern. Im ewigen Tanz der Bombennächte zogen sie über den Himmel – Finger in der Finsternis. Dann fanden sie, was sie suchten, und bannten die Silhouette eines Bombers ins Licht; und die ersten Explosionen flammten auf.
„Hier rein. Schnell.“
Sie stürzten in den Luftschutzkeller. Die Klappe wurde hinter ihnen zu geworfen und das Heulen der Sirenen verkam zu dumpfen Jaulen.
Niemand verlor ein Wort über seine Anwesenheit. Man rückte nur ein wenig und machte ihm Platz. Gemeinsam wartete man auf die Bomben, wünschte es wäre schon vorbei und hoffte zu gleich es würde nie beginnen. Und sie kamen, ein fernes Krachen und Donnern, das anschwoll und lauter wurde, je näher es rückte. Dann zitterte die Erde und dröhnte die Luft von der Gewalt der Explosionen. Das Weinen der Kinder und die Gebete der Alten vergingen im Grollen des Unterganges. Daniel spürte, wie jemand seine Hand fasste. Warme, schmale Finger legten sich um seine und so warteten sie gemeinsam auf den Tod. Doch sie fiel nicht, diese letzte Bombe; und während das Krachen von Einschlägen in der Ferne noch zu hören war, eilte Daniel schon hinaus, ohne auf die Mahnung der Menschen im Keller zu hören, denn eine Angst war in ihm, schlimmer als die vor dem eigenen Tod, die Angst nur einen Krater zu finden, wo einst das Haus stand, und zerrissenes Fleisch, wo einst Sofia war.
Die Stadt war erleuchtet vom Fackelschein brennender Häuser. Rauch zog in Schwaden durch die Luft und tränkte sie mit Ruß. Die Schreie von Sterbenen begleitete ihn, während er, die Milch an seine Brust gepresst, durch die Bombennacht lief. Unerträglich gellte die Entwarnung. Um ihn sah er die Silhouetten von Menschen, die mit ihm liefen, die Straße entlang – er achtete kaum auf sie. Die Anderen sah er nicht, die, welche nicht heillos liefen wie er, sondern retten und helfen wollten. Sie stürmten in Häuser kurz vor dem Zusammensturz - und kamen wieder mit zurückgelassenen, vergessenen Habseligkeiten, Lebensmitteln, Kleidung, einer Wiege, ihren letzten Besitztümern, an denen ihr Leben hing – oder sie blieben für immer, wenn die Balken und Mauern nachgaben und alles in einer gegen den Himmel geschleuderten Funkenwolke zusammenstürzte. In Gruppen standen sie auf den Trümmern der Hinterhöfe und suchten mit Hacke und Spaten den Eingang zu verschütteten Luftschutzkellern. Daniel sah sie nicht, diese Verzweifelten und Hilfsbereiten, sah nur das Bild von Sofia mit dem hungerstummen Hanno auf dem Arm; und es war diese Augenblicksphotograpie, auf der sie ihn ansah mit ihren schwarzen Augen voller Angst, die ihn weiter trieb durch die zerstörten Straßen, die ihn nicht anhalten ließ, um zu helfen.
Und dann sah Daniel ihn: einen kleinen Jungen in einem brennenden Haus. Einen Augenblick nur konnte er ihn zwischen Flammen und Rauch erkennen. Eingeklemmt unter Trümmern streckte der Junge eine Hand nach Daniel, als hätte er ihn bemerkt; und dabei waren seine Augen stumpf und leer wie zwei Kugeln Glas und sahen nicht mehr, auf was sie blickten. Dann war Daniel an ihm vorbei. Er hatte nicht angehalten, war weiter gelaufen in seiner Anonymität des Unbekannten und hoffte auf den ebenso unbekannten Helfer in seinem Rücken, der hinein stürmte in das brennende Haus und tat, was Daniel hätte tun sollen. Er eilte weiter durch die Bombennacht und wagte keinen Blick zurück. Da schrie der Junge in seinem Rücken; und dieser Schrei, kaum hörbar über dem Brüllen des Feuers, setzte sich fest in Daniel als ein Stück des Krieges, ein Stück Stacheldraht in seinem Fleisch, und verließ ihn nicht mehr – der Todesschrei eines Jungen, dem er die Hilfe versagt hatte. Und Daniel lief weiter.
Vor dem Bäckerladen reihte sich eine Menschenschlange. Sie führte von der Theke nach draußen und die gesamte Breite des Schaufensters entlang. Das Summen von Gesprächen durchzog die Luft. Dann und wann wurde gelacht.
„Sie lachen wieder.“, dachte Daniel. Noch immer schien ihm diese Freude beim Warten unnatürlich. Er sah noch die Schlange von grauen Menschen, die schweigend hofften und dann doch ohne Brot nach Hause gingen; ihre Gesichter waren leer.
Der Regen hatte aufgehört, doch düster-graue Wolken zogen weiterhin, vom schwachen Wind getrieben, über den Himmel.
„Mein Martin wird bald heiraten.“
Es war eine der Frauen vor ihm, die sprach. Sie war dick - ihr handgenähtes Kleid aus Fallschirmseide spannte sich über ihrer drallen Figur.
Es gibt sie also wieder, die Dicken, dachte Daniel bei sich.
Mit dem Arm presste sie einen azurblauen Mantel gegen ihre Brust. Daniel konnte einen Ärmel an ihrer Seite baumeln sehen.
„Wie wunderbar.“
Die Stimme der zweiten Frau war dünn und hoch, wie ihre ganze Person. Neben ihrer Freundin wirkte sie verhungert. Ihre Hände flatterten beim Reden wie zwei Schmetterlinge; ständig wirbelten sie um einander. Es schien, als wolle sie mit Bewegung den Raum füllen, den die Frau im Fallschirmkleid mit ihrem Körper einnahm.
„Auch wenn er eine bessere verdient hätte. Aber da kann man bei den jungen Leuten ja nicht mehr drein reden. Die machen, was sie wollen. Und da hab ich meinen Segen gegeben. Außerdem hat ihr Vater viel Land. Bei ihm wird auch gefeiert in einer Scheune. Es werden wohl so zweihundert Leute kommen.“
Sie prahlte, die dicke Frau, und ihre Stimme troff vor Selbstbegeisterung.
„Wie schön.“, sagte ihre Freundin und flatterte dabei noch stärker mit den Händen.
Daniel genoss das Gespräch der beiden. Es wurde wieder geheiratet! Ein neues Glück begann, ein Glück ohne Krieg; und eine Generation war im Kommen, die in echtem Frieden leben würde. Davon zu hören tat ihm gut und wischte das Bild vom Jungen im Feuer aus seinem Kopf.
Die Schlange rückte vor. Noch einmal fiel ein kurzer Regen und die dicke Frau warf ihren Mantel über, dann traten sie, begrüßt vom Duft der Brötchen und Brote, in den Bäckerladen ein und standen in trockener Wärme.
An der Theke lehnte ein Mann in zu weitem Mantel und hielt mit gelben Stummelfinger eine Zigarette. Auf seinem Kopf trug er einen zerbeulten Zylinder. Darunter stand verfilztes Silberhaar hervor
„Mit der Bundesrepublik bin ich mir nicht ganz sicher.“, sagte er zum Bäcker. „Ich mein unsere letzte Republik ist ja auch gescheitert. Und damals ging es uns nicht mal so schlecht wie jetzt.“
Er steckte sich die Zigarette mit Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und blies blauen Dunst in den Raum, während der Bäcker mit schnellem Schnitt einen Brotlaib teilte, die Hälfte einem Kunden reichte und das Geld entgegennahm.
„Stimmt. Aber das Unheil der Monarchie war auch nicht so deutlich, wie heute die Folgen der Diktatur. Das hilft der Republik. Außerdem sind heute alle Strukturen zerschlagen. Wir können somit wirklich neu anfangen und leben nicht im alten System mit neuem Namen.“, erwiderte der Bäcker.
Seine Stimme war von sonorer Tiefe. Er trug einen Vollbart, rot wie sein Haar und seine Augen versprühten das Feuer der Lebensfrohen.
„Die Republik besiegelt die Teilung.“
Die Zigarette war aufgeraucht und wurde im Aschenbecher zerdrückt, in dem schon ein kleiner Wald von Stummeln stand. Der Mann im zu weiten Mantel zog eine neue Kippe aus seiner Manteltasche, riss ein Streicheholz an und blies weiter Wolken in die Luft.
„Besser eine Teilung als keine Republik.“
Die dicke Frau war an der Reihe und bestellte zwei Laib Brot. Der Mann im zu weiten Mantel besah sie sich mit einem Lächeln gelber Zähne, während Rauch aus seiner Nase quoll.
Dann ging die Frau und der Mann wandte sich wieder dem Bäcker zu.
„Aber unsere Republik bringt uns keine Freiheit – die Amis werden weiter unsere Politik bestimmen. Und sollte die Demokratie nicht Freiheit sein?“
Nun war es an Daniel zu bestellen und er erhielt sein Brot - gutes Brot aus vollem Korn, kein billiger Ersatz wie in den Hungertagen - und er zahlte und wandte sich zum Gehen.
„Wir haben mehr Freiheit als unter der Diktatur. Und die Amis werden uns diese Freiheit erhalten. Die lassen nicht zu, dass wir sie uns selbst wieder nehmen.“
Daniel trat hinaus, unter einen Himmel, der aufgeklart war zu lichtem Grau. Die Sonne stand, kaum noch hinter Dunst verborgen, als heller Fleck zwischen zwei Wolken, und wärmte sein Gesicht, das er ihr entgegenhielt wie nach einem langen Winter.
Nach dem Einkauf ging Daniel nicht direkt nach Hause, sondern wanderte, einer Gewohnheit folgend, die er seit kaum einem Jahr betrieb, durch unbekannte Straße. In den Gesichtern der Menschen, denen er begegnete, suchte er nach Hoffnung. Viele gaben sie ihm – sie schienen glücklich und blickten ihm voller Zuversicht entgegen. Doch manche trugen noch immer den Krieg im Gesicht –Mienen des Leides und der Entbehrung, zerknitterte Fratzen, die die Hoffnung nicht kannten.
Er kam zu einem kleinem Platz, auf dem, umgeben von den Stümpfen weggebombter Bäume, eine Kirche stand. Auch sie trug den Krieg zur Schau. Ihr Turm ragte als Zahnruine auf und ihr Dach war eingestürzt. Ein Bogen nur war ihr auf wundersame Art geblieben und spannte sich unterm grauen Himmel, den er nun als Decke trug. Das Portal gähnte einsam-leer; keine Tür hing mehr in seinen Angeln. Daniel trat heran und sah hinein ins Kirchenschiff, das angefüllt war mit Trümmern – ein Meer von Schutt und zerborstenem Stein, aus dem, wie die Arme ertrinkender Seefahrer, gesplitterte Bänke ragten. Vorsichtig stieg er über die Überreste der Kirche und suchte sich seinen Weg zum Altar. Ein Bogenstück hatte den Opfertisch gespalten. Neben ihm lag, halb verdeckt von Steinen, ein Engel, mit gebrochenen Flügeln und gefalteten Händen, im Staub und sah aus starren Augen zu Daniel auf, der sich einsam fühlte, wie bei der Erinnerung an einen Freund, den er einst gekannt hatte.
„Was suchst du hier mein Freund?“
Er wandte sich nach dem Sprecher um. Ein Priester in schwarzer Sutane stand vor dem Portal. Er winkte Daniel mit behandschuhter Hand. Auf die Entfernung wirkten seine Züge seltsam verzerrt, als wäre auf der linken Hälfte des Gesichts die Haut zum Zerreißen straff auf den Schädel gespannt, während sie auf der anderen Seite schlaff in Falten hing.
„Es gibt keinen Gott. Jedenfalls keinen gütigen. Nur den Demiurgen kann es geben, wenn so viel Leid möglich war und ist. Sieh dir diese Kirche an. Wie sollte ein Gott solche Schändung seiner Tempel dulden? Weshalb sollte er seine Macht nicht gebrauchen, wenn ihm etwas an uns läge? Warum sollte er uns nicht vor uns selber retten und uns den Krieg unmöglich machen? Nein, es kann keinen gütigen Gott geben und Nietzsche ist bewiesen. Der Krieg hat ihn bewiesen, diese Kirche hat ihn bewiesen. Gott ist tot, so sprach Zarathustra. Dem Menschen bleibt nur das Erdulden und das Fluchen gegen diesen Gott. Und die Hoffnung auf die Vernichtung nach dem Tod. Wie sollte man noch auf das Jenseits hoffen bei diesem Leben? Nein, es gibt keinen gütigen Gott.“
„Doch es gibt einen gütigen Gott.“, erwiderte Daniel, der nur vor dem Priester stand und mit Erschrecken das verzerrende Nabengewebe sah, das dessen linke Gesichtshälfte, worin das Auge trüb und ohne Iris rollte, überzog.
„Er muss wahrlich eine seltsame Vorstellung von Güte haben, dein Gott.“ Der Priester lachte Hohn – ein tonloses Meckern voller Bitterkeit. „Vielleicht sandte er uns den Krieg, damit wir den Tod zu lieben lernen als den Beender aller Qual?“ Wieder lachte er. „Nein, auf so einen Gott kann ich verzichten. Ich brauche ihn nicht - nicht seine Güte und Gnade.“ Er schüttelte traurig den Kopf.
„Den Krieg haben wir uns selbst gebracht, nicht er. Hitler hat ihn begonnen und wir haben ihn unterstützt oder nichts gegen ihn unternommen.“
„Und warum hat dein Gott uns nicht daran gehindert?“
„Wären wir noch frei, wenn er es getan hätte? Könnten wir uns noch als selbstbestimmt bezeichnen, wenn Gott das Böse verhinderte? Er gab uns die Freiheit und damit auch die Möglichkeit zur Sünde. Leid und Qual sind ein Teil von ihm. Aber das heißt nicht, dass er nicht mit uns leidet, dass er es nicht lieber sähe, wir würde seinen Geboten Folge leisten und in Nächstenliebe leben.“
„Wozu an einen Gott glauben, der nicht helfen kann? Er ist verachtenswert, wenn er nur mahnen und nicht gebieten kann.“
„Er könnte uns alles gebieten und uns damit unsere Freiheit nehmen. Aber er tut es nicht aus Güte.“
„Hör auf von deiner Güte zu sprechen. Sie macht mich krank.“
„Und es ist nicht nutzlos an Gott zu glauben, auch wenn er nicht direkt, nicht im materiellen Sinne eingreift. Gott ist Hoffnung, die Hoffnung auf bessere Zeiten, die Hoffnung darauf, dass wir eines Tages in Frieden leben werden und keine Hoffnung mehr brauchen. Mit dieser Hoffnung hilft er uns mehr, als wenn er uns den Krieg und das Leid mit samt unserer Freiheit nehmen würde. Er gibt uns auf diese Weise eine Stütze, einen Schild gegen das Schlechte im Leben, sodass wir es überstehen können. Er gibt uns etwas, wofür wir kämpfen können, wenn wir den Mut dazu haben, etwas, wofür sich alle Opfer lohnen. Ja, es gibt einen gütigen Gott und ja, er leidet mit uns und lässt uns dabei unsere Freiheit aus Güte.“
Der Mann in der Priestersutane lächelte nur müde und schüttelte den Kopf, langsam und traurig.
„Du möchtest daran glauben, mein Freund, und vielleicht hast du sogar Recht mit dem, was du sagst. Ich aber kann nicht mehr glauben. Für mich ist Gott im Krieg gestorben.“
Dann wandte er sich ab und ging.