Was ist neu

Chandra

Beitritt
19.06.2001
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2.205

Chandra

CHANDRA

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Manchmal kannst du sie sehen. Aus den Augenwinkeln heraus, wenn sie wieder in ihre Welt zurückkehren. Du hast dann das Gefühl, als ob dir etwas genommen wurde. Dir wird kalt, und du beginnst zu zittern. Und im nächsten Augenblick hast du sie schon wieder vergessen. Würdest du wissen, daß sie existieren... daß sie uns beobachten... du würdest dir wünschen, du wärest tot.

In gewisser Hinsicht bist du das bereits.

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01
Nordstadt
Es war die Zeit, zu der keine Polizeisirenen zu hören waren. Als Täter für den Bruchteil einer Sekunde Mitleid für ihre Opfer empfanden. Wo streitende Familien inne hielten und bereit waren, sich zu versöhnen. Es geschah jeden Tag auf das Neue. Ein kleines Wunder, welches alle Menschen berührte, die in der Stadt wohnten. Denn als die ersten Sonnenstrahlen die Häuser erhellten, legte sich ein funkelndes Glitzern über den Moloch. Dieses Glitzern erstickte kurzerhand die verseuchte Luft, ließ den Müll und die Leichen verschwinden, die sich an den Straßenrändern türmten. Es war der einzige Moment des gesamten Tages, an dem die Stadt so etwas wie Frieden geschenkt bekam. Und es war der einzige Moment für Chandra, tief in sich hineinzuhorchen, ob ihr Herz noch schlug und ob sie in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Dann war es vorbei. Chandra stand auf und sah aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung. Das Glitzern war weg. Die Ruhe wurde wieder von den Polizeisirenen durchbrochen. Vereinzelt hörte sie Schüsse, und es waren auch Schreie mit dabei.

Chandra seufzte leicht, zog die Vorhänge zu und ging duschen. Jeden Tag vollzog sie das gleiche Ritual. Sie sah sich im Spiegel an, drehte ihren Kopf hin und her und fuhr sich mit ihren Fingern durch das dunkle Haar. Erleichtert atmete sie auf. Es waren keine Haare an den Händen hängengeblieben. Chandra streifte sich das T-Shirt vom Körper und stellte sich unter die Dusche. Sie wählte ein Zeitlimit von zehn Minuten. Das heiße Wasser tat ihr gut. Chandra hob den Kopf, so daß die Wassertropfen auf ihr Gesicht prasselten. Als sie fertig war, trocknete sie sich gewissenhaft ab, denn eines hatte sie schon sehr früh gelernt, daß feuchte Haut sich mit der Luft draußen nicht vertrug. Auf diese Weise hatte Chandra ihre Mutter verloren. Es war ein kurzer, lautloser Tod gewesen. Nicht viel schlimmer als der übliche Leidensweg, den hier alle vor sich hatten. Deshalb konnten sie auch nicht raus. Die gesamte Stadt stand unter Quarantäne, vermutlich wie die anderen im Land auch.

Chandra saß auf dem Bett und nahm das Frühstück zu sich. Eher gelangweilt verfolgte sie die morgendlichen Stadtnachrichten im Fernsehen, die Tag für Tag fast immer die gleichen Meldungen verlauten ließen. Wieder einmal gab es in der Nacht Aufstände und Unruhen. Chandra hatte den Lärm gehört, es mußte wohl hier in der Nähe geschehen sein. Ihr war es egal. Gleichgültig vernahm sie die endlosen Zahlen und Namen, die von den Sprechern vorgelesen wurden, die täglichen Opferzahlen von denjenigen, die eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Auch das interessierte sie nicht sonderlich. Chandra hatte keine Angehörigen, die in der Stadt lebten. Und auch ihr Freundeskreis beschränkte sich auf zwei Personen. Sie sah auf die Uhr. Es war fast halb neun. Sie hatte noch einige Stunden Zeit, bevor sie zur Arbeit mußte.

Chandra beschloß, noch einiges an Nahrungsvorräten zu besorgen. Sie sah sich um. Langsam gingen ihr die wertvollen Gegenstände aus, mit denen sich auf dem Schwarzmarkt gute Waren eintauschen ließen. Sie öffnete eine kleine Schatulle und schüttete den Inhalt auf den Boden. Neben einigen Geldscheinen, Glasperlen und Silberbesteck lag ein Armreif aus Messing. Chandra hob ihn auf und sah ihn an. Sie hatte ihn von ihrer Mutter bekommen, kurz vor ihrem Tod. Chandra überlegte noch einmal kurz, legte den Armreif weg und steckte sich das Silberbesteck in die Tasche. Dann zog sie sich das Cape über, setzte den Mundschutz auf und verließ die Wohnung. Die Fahrstühle waren wie seit Wochen schon außer Betrieb. Chandra blieb nichts weiter übrig, als die Treppe zu benutzen.

Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, und an ihrem Körper gab es noch keine Anzeichen, daß es begonnen hatte. Ihr machte es noch nicht soviel aus, den mühsamen Weg zu nehmen. Aber Chandra mußte jedes Mal an die alten Menschen denken, die mit ihr im vierzigsten Stock wohnten. Wie schafften die das bloß? Verließen die nie ihre Wohnungen? Brachten ihnen Boten all das, was die zum Leben benötigten? Chandra dachte nicht mehr weiter daran. Sie hörte ein Geräusch, jemand kam ihr entgegen. Chandra schob sich die Kapuze tiefer in das Gesicht und ging nah an der Wand weiter nach unten. Dann erkannte sie, wer es war.

„Riffle!“ sagte sie und blieb stehen. Der Angesprochene sah erstaunt nach oben. Es war ein Mann, den Chandra auf Mitte dreißig schätzte. Anhand der rötlichen Flecken und der Art, wie Riffle sprach, wußte sie, daß er bereits im fortgeschrittenem Stadium der Krankheit war. „Ah, Chandra. Guten Morgen, wie geht es Ihnen an diesem wunderschönen Tag?“ wollte er wissen. Chandra lächelte. Riffle war früher Chefredakteur eines dieser Satiremagazine gewesen, die nach Beginn der Krankheit schnell eingestellt worden waren. Riffle war seitdem arbeitslos und bezog eine kleine Rente, von der er unmöglich leben konnte. Chandra vermutete, daß Riffle hin und wieder kleine Nebenjobs annahm. Aber sie würde ihn nie danach fragen. „Mir geht es gut, danke. Und Ihnen?“ sagte sie. „Sie sehen einen Mann vor sich, der in weniger als drei Wochen sterben wird. Angesichts dieser Umstände geht es mir blendend.“ sagte Riffle. Er begann zu husten. „Entschuldigen Sie, Chandra.“ keuchte er. Chandra sagte nichts. Sie konnte sehen, wie Blut unter dem Mundschutz von Riffle hervorkam und am Kinn runterlief. Sie schluckte schwer. Riffle hielt sich am Geländer fest. „Vielleicht sollten Sie sich für einen Augenblick auf die Treppe setzen, um sich etwas auszuruhen.“ schlug Chandra behutsam vor. Riffle nickte und sagte: „Ja, Sie haben recht, Chandra. Vielleicht sollte ich das tun.“ Langsam setzte er sich auf eine der Stufen. Er nickte zufrieden, sah Chandra an und sagte zu ihr: „Lassen Sie sich nicht wegen mir Ihren Tag vermiesen, Chandra.“ „Ich könnte Sie noch zu Ihrer Wohnung begleiten.“ sagte sie. „Nein, es geht schon.“ sagte Riffle und hob abwehrend seine Arme, als sie sich ihm nähern wollte. „Nein, ist schon in Ordnung.“ sagte er. Sie nickte und ging weiter. Riffle rief ihr hinterher. „Chandra?“ Sie blieb stehen und drehte sich um. „Ja?“ „Chandra, ich hoffe nur, daß es Ihnen besser ergehen wird als mir.“ sagte Riffle. Dann machte er eine Geste des Abschieds.

Verunsichert stieg Chandra weiter die Treppe herab. Einige Etagen tiefer glaubte sie durch den Lärm hindurch das gequälte Husten von Riffle zu hören. Insgeheim wußte sie, daß sie ihn heute das letzte Mal gesehen hatte. Als Chandra schließlich das Haus verlassen hatte und die Straße betrat, streifte sich Riffle den Mundschutz vom Gesicht. Er lehnte seinen Kopf an das Treppengeländer und schloß die Augen. Er öffnete seinen Mund. Obwohl es ihm furchtbare Schmerzen bereitete, holte er tief Luft. Sekunden später wurde er bewußtlos. Riffle wachte aus der Ohnmacht nicht mehr auf. Als Chandra später am Tag wieder die Treppen hochstieg, entdeckte sie den Mundschutz von Riffle. Und auch das Blut am Geländer sah sie. Die Bestatter hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, wenigstens das zu entfernen.

02
Nordstadt
Sie nahm nie die gleiche Route zum Schwarzmarkt. Chandra hatte zu große Angst, daß jemand sie beobachtete und ihr eines Tages irgendwo auflauern würde. An diesem Morgen war ungewöhnlich viel los auf den Straßen. Mehr Menschen als sonst begegnete Chandra auf ihrem Weg. Sie vermied es, den anderen in die Gesichter zu sehen. Augenkontakt konnte unangenehme Folgen haben. Zu viele fühlten sich angegriffen und reagierten meist gewalttätig. Einige Male schon hatte sie gesehen, wie jemand einem anderen auf offener Straße ein Messer in den Rücken rammte, oder in das Gesicht schoß. Chandra war aufgefallen, daß zwar ständig Polizeisirenen irgendwo zu hören waren, aber so weit sie sich erinnern konnte, hatte sie erst drei oder vier mal Polizisten gesehen, die eine Straftat verhinderten.

Dann hatte sie endlich den Schwarzmarkt erreicht. Im Grunde genommen war es völlig legal, Waren zu tauschen, die Menschen wußten selbst nicht, warum sie die Markthallen so nannten. Am Eingang standen spezielle Duschvorrichtungen, welche die Bekleidung mit Desinfektionsmitteln besprühten. Jeder, der die Halle betreten wollte, mußte sich vorher unter die Duschen stellen. Chandra bekam einen Schein von einem der Marktwächter. Sie ließ ihn von einem anderen abstempeln und betrat anschließend die Halle. In der Halle war es so laut, daß man den Lärm von außerhalb nicht mehr hören konnte. Händler priesen lauthals ihre Waren an. Menschen feilschten. Chandra schlenderte an den vielen Ständen entlang. „He, du!“ schrie ihr jemand hinterher. Sie ignorierte die Stimme und ging weiter.

Sie gelangte an einen Tisch, auf dem Kinderspielzeug lag. Chandra sah einen kleinen Plüschbären und wollte ihn berühren. Jemand schlug ihre Hand weg und sagte wütend: „Wer es berührt, muß es nehmen!“ Es war eine dicke Frau. Obwohl die Frau sich die Kapuze sorgfältig aufgesetzt hatte, konnte Chandra die Glatze erkennen. „Wieviel für den Bären?“ fragte Chandra. „Was hast du?“ entgegnete ihr die Frau. Chandra drehte sich um, so daß die Händlerin ihr nicht über die Schulter sehen konnte. Sie holte das Silberbesteck hervor und nahm einen kleinen Teelöffel. Den Rest steckte sie wieder weg. Sie zeigte der Händlerin den Löffel. Die schüttelte den Kopf. „Nein, kein Silber. Für Silber bekommst du was von denen.“ sagte sie und zeigte zu einigen alten Büchern. Chandra blieb standhaft. „Das ist echtes Silber. Viel mehr wert als alles, was du zu bieten hast.“ Die Händlerin schien kurz zu überlegen. „Nein.“ sagte sie. „Wenn du den Bären willst, muß es schon etwas anderes als Silber sein.“ Chandra zuckte mit den Schultern und steckte den Löffel weg. „Dann nicht.“ sagte sie und ging weiter. Die Händlerin rief ihr etwas hinterher, aber sie hörte es nicht. Der Plüschbär stammte wahrscheinlich von einem der Kinder aus den Waisenhäusern, welches gestorben war. Wenn ich einmal tot bin, dachte Chandra, werden meine Sachen hier auch rumliegen.

Dann hatte sie endlich den Teil der Halle erreicht, in dem Nahrungsvorräte angeboten wurden. Chandra überlegte, was sie brauchte. Vielleicht etwas Gemüse, aber das war sehr teuer. Sie würde erst einmal versuchen, Pulverersatz zu bekommen, das war um das vierfache günstiger. Sie ging an den Ständen vorbei. Eigentlich gab es alles. Fleisch, Gemüse, Dosengerichte, sogar Obst. Die Frage war nur, ob man es sich leisten konnte. Als Chandra fast alle Stände abgegangen war, hatte sie noch immer kein Pulverersatz entdecken können. Sie ärgerte sich. Vermutlich war sie einfach zu spät gekommen.

Da bemerkte sie etwas, was auf dem Boden lag. Sie sah genauer hin und konnte ihr Glück kaum fassen. Schnell hob sie es auf und steckte es ein. Sie gab sich Mühe, ihre Freude zu verbergen. Mit dem, was sie gefunden hatte, konnte sie sich alles leisten, was sie wollte. Hatte es vor ihr keiner gesehen? Sie ging zu einem der Obststände. Der Händler sah sie fragend an. Chandra zeigte ihm das Silberbesteck. Der Händler nickte zufrieden und gab ihr eine kleine Plastiktüte. „Du kannst nehmen, wieviel reinpaßt, nicht mehr.“ Chandra nickte ebenfalls und packte Obst in die Tüte. Als sie fertig war hob sie die Hand. Der Händler hob ebenfalls seine Hand. Es war das Zeichen für ein gutes Tauschgeschäft. Chandra machte sich zurück auf den Weg zu dem Stand mit den Plüschtieren und den Büchern.

Als die Frau mit der Glatze Chandra sah, rief sie ihr zu: „Nein, nein! Kein Silber! Hast du verstanden?“ Chandra blieb vor dem Stand stehen. „Ich habe etwas, was besser als Silber ist.“ sagte sie und zog unter dem Cape eine Perücke hervor. Chandra sah die Händlerin an. „Ich gebe sie dir für den Plüschbären und für vier von den alten Büchern.“ „Woher hast du sie?“ fragte die Händlerin. „Sie scheint aus echtem Haar zu bestehen.“ Chandra gab der Händlerin die Perücke. Die glitt sanft mit ihren Händen über das Haar. Auch an ihr bemerkte Chandra die Flecken auf der Haut. Leise sagte die Händlerin: „Zumindest scheint es eine sehr gute Imitation zu sein. Also gut. Das Geschäft gilt?“ „Ja.“ sagte Chandra und nahm das Stofftier an sich. „Was für Bücher sind das?“ fragte sie. „Es ist fast alles da. Prosa, Gedichte, was du willst.“ Die Händlerin sah zu Chandra. „Kannst du überhaupt was damit anfangen? Du bist doch gerade mal zwanzig, höchsten vierundzwanzig Jahre alt.“ „Ich bin dreiundzwanzig.“ sagte Chandra. „Und ich kann lesen.“ Sie nahm eines der Bücher. „Ich nehme das hier, und diese drei.“ sagte Chandra. Die Händlerin nickte und hob die Hand. Chandra tat es ihr gleich. Dann ging sie mit den Waren zum Ausgang der Halle und ließ alles in luftdicht versiegelte Behälter packen.

Chandra fühlte sich großartig. Sie hatte seit langer Zeit wieder Obst eintauschen können, und sie hatte den Bären und die Bücher. Sie war froh, daß sie den Mundschutz aufhatte, so konnte keiner sehen, daß sie ein kleines bißchen lächelte. Auf dem Weg nach Hause dachte sie darüber nach, was sie mit den Büchern machen würde. Sie hatte die Händlerin angelogen. Chandra hatte nie Schreiben und Lesen gelernt. Vielleicht würde ihr der alte Sebastian etwas daraus vorlesen. Ich werde ihn nachher fragen, dachte Chandra. Sie würde eines der Bücher mitnehmen, wenn sie zur Arbeit gehen würde. Ja, das würde sie tun. Aber erst einmal würde sie etwas von dem Obst essen, das sie erstanden hatte. Chandra bekam Hunger. Sie begann, schneller zu gehen.

Plötzlich wurde ihr kalt und ihr Körper begann zu zittern. Chandra stöhnte auf. Sie konnte sich gerade noch an die Hauswand lehnen, bevor sie auf den Boden fiel. Ihre Finger verkrampften sich. Der Behälter mit dem Obst entglitt ihr und rollte auf die Straße. Ohne etwas tun zu können, mußte Chandra mit ansehen, wie einige Menschen sich auf den Behälter stürzten. Sie wollte schreien, aber sie war unfähig, auch nur ein einziges Wort zu flüstern. Niemand kümmerte sich um sie. Schließlich hatte es jemand geschafft, den Behälter an sich zu reißen und rannte davon. Langsam löste sich die Menge auf. Chandra stand noch immer an der Wand und zitterte. Ihr war furchtbar kalt. Kein Mensch war zu sehen. Niemand wird dir helfen, durchfuhr es sie. Und dann sah sie es.

Sie sah es nicht deutlich, eher aus den Augenwinkeln. Eine Gestalt, die über die Straße raste. Die Gestalt schien unwirklich zu sein, sie schimmerte schwach und Chandra kam es vor, als ob die Gestalt über den Boden schwebte. Die Gestalt raste auf eine Häuserwand zu. Und als Chandra fest damit rechnete, daß die Gestalt mit unglaublicher Wucht auf die Wand prallen würde, war die Gestalt verschwunden. Sekunden später war der Anfall vorbei. Chandra sackte zusammen und endlich gelang es ihr, einen Schrei von sich zu geben. Langsam beruhigte sie sich. Chandra stand auf und stützte sich an der Wand ab. Ihr Obst, sie hatten es ihr gestohlen, und keiner hatte auch nur den Ansatz gemacht, ihr zu helfen. Und ihr plötzlicher Anfall? War es soweit? War die Krankheit ausgebrochen? Sie wußte es nicht, Chandra hatte keine Erklärung für den Vorfall. Sie holte den Plüschbären aus der Tasche. Wenigstens habe ich dich noch. Sie steckte den Bären wieder weg und ging weiter. Sie wußte nicht warum, aber sie hatte das Gefühl, daß ihr etwas genommen wurde. Noch während Chandra darüber nachdachte, hatte sie diese merkwürdige Gestalt bereits wieder vergessen.

Zu Hause angekommen desinfizierte sie die Kleidung und die Wohnung. Sie legte das Stofftier und die Bücher auf das Bett und ging in das kleine Bad. Fieberhaft suchte sie nach verdächtigen Flecken, fuhr mehrmals durch ihr Haar, aber sie konnte keine Anzeichen für einen Ausbruch der Krankheit entdecken. Sie sah ihr Gesicht im Spiegel. Und dann begann sie zu weinen. Die Bestatter hatten nicht einmal Riffles Blut am Geländer entfernt, als sie den Leichnam abholten. Chandra ging zurück in das Wohnzimmer. Sie hatte noch eine Stunde, bevor sie zur Arbeit mußte. Sie ging in die Kochnische und begann Wasser aufzusetzen. Dann durchsuchte sie den Kühlschrank. Schließlich hatte sie etwas Fleischbrühe gefunden. Sie wußte, das würde nicht ausreichen, um den Hunger zu stillen. Sie mußte auf Sebastian hoffen. Der hatte immer etwas zu essen bei sich. Chandra schüttete die Brühe in das kochende Wasser. Ihre Augen tränten noch ein wenig.

03
Nordstadt
Mehr als dreißig Jahre waren vergangen, seit Sebastian in die Stadt gekommen war. Er war nun schon dreiundsiebzig Jahre alt. Und er war von der Krankheit gezeichnet. Seine Haut war fast vollständig von den Flecken bedeckt. Seine Haare hatte er vor einer kleinen Ewigkeit verloren. Sebastian wußte selbst nicht, warum er überhaupt noch am Leben war. Viele seiner Freunde waren bereits tot, und oft fühlte er sich einsam, wenn er in seiner Wohnung saß und sich das Nachtprogramm des Stadtsenders ansah. Manchmal saß er in seinem alten Ledersessel und dachte zurück an die Zeit, als er hier ein neues Leben angefangen hatte.

Sebastian war aus Europa geflohen, als die Krankheit dort innerhalb kürzester Zeit ganze Regionen entvölkerte. Keiner war darauf vorbereitet gewesen. Die Krankheit war schlimmer als Aids. Aber die wenigsten wußten, daß es einmal eine solche Krankheit gegeben hatte. Sebastian hatte durch Aids seine Frau verloren. Es war nicht die ihre, nicht die seine Schuld gewesen. Sie hatte eine Bluttransfusion bekommen, und das Blut war mit dem Virus infiziert gewesen. Auch das war mit ein Grund für Sebastian gewesen, in die Staaten zu fliehen. Um einreisen zu können, hatte er fast seine gesamten Ersparnisse aufbringen müssen, für einen gefälschten Paß, welcher ihn als US-Staatsbürger auswies, sowie die Bestechungsgelder, die er an einige Beamte der Europäischen Union überweisen mußte. Trotzdem hatte er es geschafft, sich hier in der Stadt ein neues Leben aufzubauen. Sebastian hatte sein Geld mit dem gemacht, was er am besten konnte und das er am meisten liebte. Als einziger in der Stadt eröffnete er ein Programmkino, in dem ausgewählte Filme liefen, die nicht dem gängigen Mainstream entsprachen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie die Leute Schlange standen, nur um Filme wie ‚Eraserhead‘, ‚Diva‘ oder ‚Run Lola Run‘ zu sehen.

Und dann kam die Krankheit über das Land. Die Städte wurden unter Quarantäne gestellt, der Kontakt zur Außenwelt brach zusammen. Sebastian wußte nicht, ob in Europa oder Asien noch Menschen lebten. Selbst hier herrschte unter den Städten kein Kontakt. Sebastian hatte zu Chandra einmal gesagt, der Zustand erinnerte ihn an die Antike, an Stadtstaaten. Chandra hatte ihn verständnislos angesehen, Sebastian hatte sie daraufhin nie wieder mit solchen Vergleichen belästigt.

Sebastian legte den Film ein. Er wußte, auch heute würde kein Mensch sein Kino besuchen, dennoch würde er solange weitermachen, wie er konnte. Und insgeheim hoffte er, daß Chandra eines Tages das alte Kino weiterführen würde. Er mußte sich eingestehen, daß dies Wunschdenken von ihm war. Sebastian sah zur Uhr und runzelte die Stirn. Noch nie war Chandra unpünktlich gewesen. Doch sie war seit zehn Minuten überfällig. Da klopfte es an die Tür. „Es ist offen!“ rief Sebastian, sein deutscher Akzent war unüberhörbar. Die Tür öffnete sich und Chandra betrat den Vorführraum. „Hast du dich desinfiziert? Und deine Bekleidung?“ brummte Sebastian. Er bemühte sich, verärgert zu klingen, wußte aber, daß ihm dies nicht gelingen würde. Er sah zu Chandra. Die nickte schuldbewußt und sagte: „Ja, habe ich. Sebastian, es tut mir leid.“ Sebastian lächelte und sagte: „Naja, jetzt bist du ja da.“

Er konnte ihr einfach nicht böse sein. Dafür wußte er zuviel über sie. Er war es gewesen, der sich damals um Chandra gekümmert hatte, als ihre Mutter gestorben war. Und er bezahlte sie. Er war sich sicher, daß Chandra wußte, das er ihr das Gehalt von seinem privaten Vermögen bezahlte, aber sie war wohl klug genug, ihm diese Freude nicht zu nehmen. Er hatte ohnehin vor, ihr sein gesamtes Vermögen zu vermachen, wenn er sterben würde, auch wenn es nicht mehr viel war. Und sie wußte es auch. Das einzige, was Sebastian Angst machte war, daß er Chandra überleben könnte. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt. Aber er war schon dreiundsiebzig. Und er lebte immer noch. Sebastian war sozusagen ein Relikt, was schon längst hätte aussterben müssen. „Ich bin gleich fertig, Chandra.“ Sie nickte und sagte: „Dann gehe ich das Kassensystem starten, okay?“ „Ja, mach das. Ich komme dann runter zu dir.“ Chandra verließ den Vorführraum des Kinos. Sebastian prüfte noch einmal den Bildstrich, er saß perfekt, wie immer. Er stellte den Startschalter so um, daß er den Projektor vom Saal aus starten konnte. Dann machte er das Licht aus und ging nach unten, wo Chandra bereits die Foyerbeleuchtung eingeschaltet hatte. Früher hatte er den Leuten auch Getränke verkauft, aber das war schon ewig her. Heutzutage konnten Sebastian und Chandra froh sein, wenn sich überhaupt ein paar Menschen in das kleine Kino verirrten. Und oft waren es Obdachlose, die für ein paar Stunden vor der Kälte draußen Schutz suchten.

Sebastian und Chandra standen im Foyer und warteten auf Besucher. Nach einigen Minuten sah Sebastian auf die Uhr und schüttelte den Kopf. „Nein, da kommt heute keiner mehr, Mädchen. Fahr den Computer runter.“ Chandra nickte. Es war Sebastian schon die ganze Zeit aufgefallen, seit Chandra heute da war. Sie sprach kaum, war sehr still. Sonst unterhielten sie sich immer, und Sebastian erzählte ihr oft von der Zeit, als er noch in Europa lebte, von seiner Frau. Er wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht und hustete leicht. Chandra schloss die Tür zum Kassenraum und ging zu Sebastian, der sich auf einen alten Stuhl gesetzt hatte.

„Willst du noch ein wenig bleiben?“ fragte er sie. „Mir sagen was los ist? Dich bedrückt doch irgend etwas, hm?“ Chandra setzte sich ebenfalls. Sie schien zu zögern, doch dann sagte sie: „Riffle ist heute gestorben.“ „Riffle war einer von deinen Nachbarn, richtig?“ „Ja.“ Für eine Weile sagte keiner etwas. Sebastian legte behutsam eine Hand auf Chandras Schulter und fragte: „Wußtest du, wie alt er war?“ Sie zog ihre Schulter weg und stand auf. „Ich weiß es nicht, Sebastian. Vielleicht dreißig, fünfunddreißig Jahre?“ Sebastian nickte leicht mit dem Kopf. „Ja, in dem Alter passiert so etwas häufig.“ Chandra begann zu weinen. „Chandra, wenn ich dich auf irgendeine Weise verletzt haben sollte, dann tut mir das leid.“ „Ach nein, Sebastian. Es ist nur... der ganze Tag war eine einzige Katastrophe.“ Sie setzte sich wieder zu ihm. Sebastian holte ein sauberes Taschentuch hervor und gab es ihr. Chandra nahm es dankend an und rieb sich die Tränen aus den Augen. „Heute morgen war ich auf dem Schwarzmarkt und habe Obst erstanden. Und ein paar Bücher.“ „Bücher? Seit wann...“ „Nein, ich dachte, vielleicht könntest du mir etwas daraus vorlesen.“ Sie sah Sebastian an. Der lächelte und sagte: „Hast du eines von den Büchern dabei?“ Chandra bejahte. „Na, warum holst du es dann nicht?“ Chandra wollte gerade aufstehen, um ihre Tasche zu holen, als Sebastian sie leicht am Arm packte und ihr leise zuflüsterte: „Und sieh doch mal im Kühlschrank nach, ob da was für dich dabei ist.“ Dann ließ er sie los und lächelte.

Als Chandra mit den Büchern und einem Apfel zurückkam, konnte auch sie bereits wieder lächeln. Sie gab Sebastian das Buch und biß in den Apfel. „Hat man es dir gestohlen?“ Sie sah Sebastian erstaunt an. „Das Obst? Du hättest es sonst nicht erwähnt. Also?“ Sie schluckte einen Bissen herunter und sagte: „Auf dem Rückweg hatte ich einen Schwächeanfall, zumindest glaube ich, daß es einer war. Das Obst fiel auf die Straße und sie haben sich wie Tiere darauf gestürzt.“ „Du bist nicht einmal dazwischengegangen?“ „Ich konnte nicht, Sebastian. Ich konnte nicht. Ich stand an der Hauswand und war unfähig, mich zu rühren. Meine Hände waren verkrampft, ich habe am ganzen Körper gezittert und ich habe gefroren. Ich weiß nicht, warum ich diesen Anfall hatte, Sebastian. Ich kann es dir nicht sagen.“ Sebastian sah Chandra besorgt an. Er berührte ihre Stirn und seufzte. Dann sah er sie an und sagte: „Was immer dir heute morgen passiert ist, Chandra, mit der Krankheit hatte es offenbar nichts zu tun.“ „Ja, als ich wieder zu Hause war, habe ich meine Haut nach Flecken abgesucht, meine Haare überprüft. Nichts, alles scheint in Ordnung zu sein. Noch.“ Sie hatte den Apfel aufgegessen. „Danke.“ sagte sie. Sebastian winkte ab. „Schon gut, Mädchen. Gern geschehen.“ Dann sah Sebastian sich das Buch an. „Na, was haben wir denn hier.“ Er kniff seine Augen zusammen, um die Buchstaben besser sehen zu können. Dann pfiff er leise durch die Zähne. „Du hast eine gute Wahl getroffen, Chandra.“ sagte er. „Der Herr der Ringe.“ sagte er. Chandra verstand nicht. Er sah sie kopfschüttelnd an und hielt ihr das Buch vor das Gesicht. „Das ist der Titel des Buches, Chandra. Das habe ich als Kind schon gelesen, damals, bevor das hier alles losging.“ Dann schlug er die erste Seite auf und begann Chandra die Geschichte vorzulesen: „Als Herr Bilbo Beutlin von Beutelsend ankündigte, daß er demnächst zur Feier seines...“

04
Kuppel
„Hier sind die Aufzeichnungen, Sir.“ sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um, und er konnte die Angst spüren, die der Mann hatte, welcher vor ihm stand. „Ausgezeichnet.“ sagte er und ließ sich die Unterlagen geben. „Sie können sich entfernen.“ Der Mann nickte kurz und ging schnell aus dem Raum. Er war nicht allein in dem Raum. Zwölf andere Männer saßen um einen großen runden Marmortisch. „Meine Herren.“ sagte er und fing an, langsam um den Tisch zu gehen. Während er zu den anderen sprach, sah er jedem einzelnen fest in dessen Augen, um die Reaktionen zu spüren, die sie empfanden. „Meine Herren.“ sagte er noch einmal. „Wir haben hier etwas erschaffen, in den letzten Jahren, ich kann ohne Zweifel behaupten, etwas einmaliges. Den hohen Lebensstandard, den wir genießen, den ganzen Luxus um uns herum. Und dann das!“ Er warf die Unterlagen auf den Tisch. Die anderen sahen sich verunsichert an. „Das sind protokollierte Aufzeichnungen über drei Sprünge innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden.“ Keiner wagte, etwas zu sagen. Er setzte sich auf einen Stuhl, der etwas höher als die anderen stand. „Und alle ungenehmigt. Nun? Keiner kann mir das erklären?“ Er schaute sich um. Er wußte, sie hatten Angst.

„Meine Herren, es gibt Regeln. Jeder einzelne hier im Raum, jeder einzelne, der sich innerhalb der Kuppel befindet, kennt diese Regeln. Und sie müssen eingehalten werden.“ Er stand wieder auf. „Schauen Sie sich das an!“ sagte er. Ein großer Monitor kam von der Decke heruntergefahren. Es wurde etwas dunkler im Raum. „Das sind Mitschnitte der Überwachungskameras, die wir in den Städten haben.“ sagte er. Er hatte plötzlich eine kleine Fernbedienung in der Hand und drückte einen kleinen Knopf. Der Bildschirm des Monitors flackerte kurz, dann konnten sie die Aufzeichnungen der Kameras sehen. Im ersten Film sahen sie einen Mann, dessen Körper plötzlich von Krämpfen durchschüttelt wurde. Das ganze dauerte höchstens zwanzig Sekunden, aber jeder der Anwesenden wußte, was es zu bedeuten hatte. Der Mann mit der Fernbedienung drückte einen weiteren Kopf. Das Bild wurde eingefroren. „Das hat sich vor etwa vier Stunden in der Nordstadt ereignet. Und das hier...“ Das Bild lief wieder weiter und zeigte eine junge Frau mit den gleichen Symptomen. Die Frau wurde derart von den Krämpfen geplagt, daß ihr ein Behälter aus den Händen glitt und auf die Straße fiel. Sofort stürzten sich mehrere Menschen darauf. Er drückte wieder auf Stop. „Das ist heute morgen passiert, ebenfalls in der Nordstadt. Den anderen Vorfall erspare ich Ihnen. Der Mensch hat es nicht überlebt.“ Das Licht wurde wieder heller und der Monitor verschwand. Er setzte sich wieder auf den Stuhl.

„Sie müssen Ihren Leuten klar machen, daß dies nicht mehr vorkommen darf. Es gibt genehmigte Sprünge nur für die Techniker, um die Bänder der Kameras auszutauschen. Wir alle wissen, daß dafür mindestens vierundzwanzig Stunden benötigt werden.“ Er sah sie wieder an, und sie bekamen immer größere Angst. Er sah ein, daß er ihnen das nicht mehr zumuten konnte. Womöglich würde einer von ihnen noch einen Infarkt bekommen. „Sie können sich entfernen.“ sagte er leise. Schnell standen sie anderen auf und verließen den Raum. Als nur noch er anwesend war, stützte er seine Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte sein Gesicht in die Hände. Soviel hatten sie erreicht, dachte er. Aber das mußte ja irgendwann mal passieren. Wenn eine Sache zu gut lief, würde sich früher oder später Unachtsamkeit in die Gesellschaft einschleichen. Sie durften sich keine Fehler erlauben. Sie konnten nicht noch einmal einen Fehler begehen, nicht noch einmal. Er stand auf und verließ nun ebenfalls den Raum.

05
Nordstadt
Chandra war dieses Mal länger bei Sebastian geblieben als üblich, zu sehr faszinierte sie die Geschichte, die er ihr vorgelesen hatte. Sebastian hatte ihr versprochen, morgen den Rest vorzulesen. Er hatte ihr angeboten, die Nacht im Kino zu verbringen. Er wollte wohl nicht, daß sie sich um diese Zeit auf der Straße befand. Aber sie hatte abgelehnt und sich statt dessen auf den Heimweg gemacht. Sie machte sich bewußt groß, als sie die Straße entlang ging. Aus einer der Seitengassen hörte sie laute Geräusche. Chandra sah vorsichtig um die Ecke. Im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung erkannte sie zwei Männer, die einen anderen zusammenschlugen. Sie gingen brutal vor. Chandra hörte das Flehen und die Angst in der Stimme des Mannes. Und sie hörte auch das verächtliche Lachen der beiden anderen. Schnell ging sie weiter. Als sie den Schuß hörte, zuckte sie kurz zusammen, fing sich aber wieder. Es sollte nicht der einzige Schuß sein, den sie in dieser Nacht zu hören bekam.

Endlich hatte sie das Haus erreicht. Bevor sie es betrat, schaute sie sich noch einmal um. Sie mußte sichergehen, daß ihr keiner gefolgt war. Das schien nicht der Fall zu sein. Die Fahrstühle waren noch immer kaputt. Chandra betätigte den Lichtschalter, aber es tat sich nichts. Sie mußte vierzig Stockwerke in völliger Dunkelheit bewältigen. Chandra setzte vorsichtig ein Fuß vor den anderen und streckte dabei ihre Hände aus, die nach dem Treppengeländer suchten. Dann hatte sie es geschafft, und Schritt für Schritt ging sie die Treppe nach oben. Es war unheimlich still im Treppenhaus. Nur aus den einzelnen Wohnungen und von draußen hörte sie die üblichen Geräusche. Aber im Treppenhaus selbst schien außer ihr keiner zu sein. Ihr Herz raste, Chandra hatte Angst. Sie zwang sich, weiterzugehen.

Im vierunddreißigsten Stock stieß sie schließlich mit jemanden zusammen, der auf der Treppe saß. Eine Taschenlampe ging an und Chandra hielt sich schützend die Hände vor das Gesicht, als sie von dem hellen Strahl geblendet wurde. „Wer ist da?“ fragte sie. Sie versuchte, einen wütenden Eindruck zu machen. „Keine Angst, Chandra. Ich bin es nur.“ sagte eine Stimme. Sie war erleichtert und sagte: „Hör auf mich zu blenden, Lubber.“ Der Lichtstrahl der Taschenlampe glitt von ihrem Gesicht. Und schließlich sah sie das Gesicht von Lubber. „Warum sitzt du hier im Treppenhaus?“ fragte sie. Lubber räusperte sich. Chandra verstand. „Deine Eltern, sie streiten sich wieder?“ „Ja, den ganzen Tag schon. Als ob der Lärm nicht ausreicht, der hier so schon herrscht. Wie soll man denn da schlafen können.“ Lubber begann mit der Taschenlampe zu spielen. Er schaltete sie immer wieder ein und aus. „Lubber, hör auf damit.“ sagte Chandra leicht verärgert. „Entschuldige, Chandra.“ Er leuchtete ihr wieder in ihr Gesicht. Sie kannte Lubber seit etwa zwei Jahren, seit sie ihm das erste Mal im Treppenhaus begegnet war. Und so wie jetzt, saß er auch damals auf der Treppe, um den Streit seiner Eltern zu entgehen. „Hast du das von Riffle gehört?“ fragte sie ihn. „Wer?“ „Ach ja, du kanntest ihn nicht. Ein Nachbar von mir im vierzigsten oben. Er ist heute gestorben, hier im Treppenhaus.“ „Kanntest du ihn gut?“ „Wir haben des öfteren miteinander gesprochen. Ja, ich denke schon, daß ich ihn kannte.“ „Hm, außer meinen Eltern und dir kenne ich hier keinen, weißt du?“ Sie lächelte. „Das ist nicht weiter schlimm, Lubber. Je weniger du kennst, um so weniger mußt du trauern, wenn sie sterben.“ „Kann sein, ja.“ Sie berührte ihn an der Schulter und sagte: „Ich werde jetzt gehen.“ „Ja?“ „Ja.“ Lubber stand auf und hielt ihr die Taschenlampe hin. „Bring sie wieder vorbei, wenn du Lust hast. Oder behalte sie. Dann hast du was für die Markthallen, zum Tauschen.“ Chandra nahm die Taschenlampe und sagte: „Du gibst sie mir einfach?“ „Ich hab noch einige von denen bei mir zu Hause. Und die Dunkelheit macht mir nicht viel aus.“ sagte Lubber. „Danke, Lubber.“ „Ja, also dann, auf Wiedersehen, Chandra.“ „Ja, wir sehen uns.“ sagte Chandra und ging weiter, die Taschenlampe auf die Treppenstufen gerichtet. Lubber war ein netter Junge für sein Alter. Sie hatte schon andere Kinder gesehen, die zehn oder elf Jahre alt waren. Manche von denen standen der Skrupellosigkeit der Erwachsenen in nichts nach, teilweise waren sie noch brutaler.

Sie hatte die Wohnung erreicht. Sie verschloß die Tür, desinfizierte Bekleidung und Wohnung und ging ins Bad. Routiniert untersuchte sie ihre Haut und das Haar. Zufrieden zog sie sich ein T-Shirt über und schlüpfte in die bequeme Stoffhose. Sebastian hatte ihr noch etwas Essen mitgegeben, welches sie im Kühlschrank verstaute. In den nächsten Tagen mußte sie nicht zum Schwarzmarkt gehen, konnte in der Wohnung bleiben. Zumindest, bis sie ins Kino zum alten Sebastian ging. Chandra legte sich auf das Bett und schaltete den Fernseher ein. Die üblichen Nachrichten, die üblichen Meldungen von Aufständen, Plünderungen und Morden in der Stadt. Sie überlegte, ob sie Sebastian fragen sollte, ob er ihr Lesen und Schreiben beibringen würde. Sie schloß die Augen und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie ihren Namen schreiben, eines der Bücher selbst lesen könnte. Unwillkürlich fing sie an zu lachen. Ja, das wäre schön, wenn sie das könnte. Und dann geschah es erneut.

06
Kuppel
Die Ablösung verlief reibungslos. Nikolai unterschrieb das Protokoll und unterzog die anderen dann einer Einweisung, wie er es schon seit Jahren machte. Fünfzig Monitore waren in der Wand eingelassen worden, auf denen sie die Bilder der Überwachungskameras in den Städten empfingen. Je zwei Mannschaften zu fünfundzwanzig Mann überwachten die Bildschirme. Alle dreißig Minuten erfolgte ein Wechsel, damit die Augen nicht zu sehr belastet wurden. Das Gebäude mit den drei großen Antennen und einer riesigen Radarschüssel auf den Dach gehörte zu den wichtigsten Gebäuden, die es hier gab. Als einziges, neben dem IT-Center und dem Teleporter, wurde es von speziell geschulten Teams rund um die Uhr bewacht. Nikolai betrachtete einen der Monitore. „Jean, Kamera Zwölf etwas nach rechts, bitte.“ „Hast du was gesehen?“ „Ich weiß nicht, vielleicht.“ Die Kamera schwenkte etwas nach rechts. „Vergrößern!“ sagte Nikolai. Jean schob einen der kleinen Hebel leicht nach vorn. „Gratuliere, Nikolai. Den wievielten toten Menschen hast du entdeckt?“ Nikolai winkte enttäuscht ab. Noch irgendein Mensch, der auf der Straße gestorben war. Entweder durch die Krankheit, oder durch einen anderen Menschen. „Tja, das wird wohl eine ruhige Nacht werden, Jungs.“ sagte Nikolai. „Wenn etwas passiert, informiert mich. Ich bin in meinem Büro.“ „Schlaf nicht ein.“ rief ihm Jean hinterher.

Nikolai ging in sein Büro und setzte sich. Er kramte einige Formulare hervor. Er würde Jean für eine Beförderung vorschlagen. Die hat er sich auch verdient, dachte Nikolai. Er begann die Felder des Formulars auszufüllen. Später würde er sie im Datencenter hinterlegen, wo seine etwas krakelige Handschrift in die gängige PC-Schrift umgewandelt wurde. Nikolai war von Anfang an hier gewesen, seit die Kuppel errichtet wurden war. Er hatte das Glück gehabt, einer privilegierten Familie anzugehören. Daß der Reichtum seiner Familie hier in der Kuppel eine eher untergeordnete Rolle spielte, damit hatte er sich abgefunden. Sie hatten alle neu anfangen müssen. Sowohl die Menschen in den Städten als auch die Menschen hier. Immerhin gab es in der Kuppel nicht die Krankheit, an der die Menschen draußen zugrunde gingen, früher oder später, es war eigentlich egal. Tag für Tag entdeckten die Kameras tote Menschen auf den Straßen. Nikolai war immer wieder überrascht, mit was für einer Gleichgültigkeit andere Menschen an den Leichnamen vorübergingen. Oft vergingen Stunden, bis die sogenannten Bestatter anrückten, den Toten auf die Transporter warfen und zur nächsten Verbrennungsanlage fuhren, deren Schlote vierundzwanzig Stunden am Tag rauchten und die Asche der Toten in die verseuchte Luft bliesen. Für einen Moment hielt Nikolai inne. Er überlegte, was für einen Wochenschnitt Jean hatte. Er wollte gerade in den Akten nachschauen, als der Alarm losging. Ein lauter Piepton ertönte und das Licht wechselte auf Notstrom. Nikolai sprang auf und rannte in den Beobachtungsraum. Dort angekommen, stand er in einem heillosen Durcheinander.

„Was ist passiert?“ schrie er. Er erhielt keine Antwort. Nikolai bahnte sich einen Weg durch die aufgeregte Menschenmenge, bis er die Monitore erreicht hatte. Er entdeckte Jean, welcher mit einem der Techniker diskutierte. „Jean!“ schrie er. Er winkte ihn zu sich. Jean war sehr aufgeregt. „Nikolai, ich kann nichts dafür!“ „Was ist überhaupt los?“ „Ein Sprung!“ Nikolai sah ihn entgeistert an. „Ein Sprung? Wer hat die Genehmigung dafür erteilt.“ Jean deutete zu einem PC-Monitor und sagte: „So wie es aussieht... wir.“ „Wir? Wie ist das möglich?“ „Nikolai, keine Ahnung. Auf alle Fälle ist alles schiefgelaufen, was schiefgehen kann. Sieh dir die Werte an.“ Nikolai sah angestrengt auf den Monitor. Er traute seinen Augen nicht. Er sah Jean an und sagte: „Das kann unmöglich sein. Ein Sprung innerhalb einer Wohnung in der Nordstadt?“ Nikolai wurde schlecht. Warum mußte ausgerechnet ihm so etwas passieren. „Alles in Ordnung?“ fragte Jean. „Nichts ist in Ordnung!“ Er atmete tief durch. „Hat man schon beim Teleporter nachgefragt?“ „Ja. Die wissen von nichts.“ „Was?“ „Nikolai, ich habe selbst dort angerufen.“ Wie war das möglich? Ein Sprung außerhalb des Teleporters? „Befindet sich das Objekt noch in der Wohnung?“ fragte Nikolai. „Nein, wer auch immer das war, er ist bereits zurück.“ „Keine Möglichkeit, festzustellen, wer es war?“ Jean verneinte. Alle hatten sich etwas beruhigt. Nikolai hob den Arm und sagte laut: „Also gut, Leute. Jeder setzt sich an den Computer. Mannschaft Eins nimmt sich die Kameraaufzeichnungen vor. Mannschaft Zwei verfolgt jedes einzelne Signal, welches das Radar empfangen hat. Ich werde Radon benachrichtigen.“ „Viel Glück.“ sagte Jean. Nikolai wußte, daß Jean es ernst meinte. „Danke.“

07
Nordstadt
Die Bewohner hatten alle zur selben Zeit den Eindruck, als ob etwas in das Haus eingedrungen war, was nicht hierher gehörte. Keiner konnte sagen, was es war, aber jeder hatte das Gefühl, daß etwas Fremdes sich im Haus aufhielt.

Chandra stellte sich gerade vor, wie es wäre, lesen und schreiben zu können. Sie hatte die Augen immer noch geschlossen. In dem Augenblick, als Chandra sie wieder öffnete, geschah mit ihr ein zweites Mal das, was ihr am Morgen passiert war. Chandras Kopf wurde auf das Bett gedrückt, ihre Hände und Füße verkrampften, ihr Körper wurde durchgeschüttelt. Ihre Augen waren so weit aufgerissen, daß es schmerzte. Und dann, wie aus dem Nichts, erschien die Gestalt. Den Mund weit offen, und doch keines Wortes oder wenigstens Lautes fähig sah Chandra die Gestalt. Es war ein Mensch. Zumindest glaubte sie es. Sie war wie aus dem Nichts erschienen. Sie flackerte. Im einem Moment war sie da, im anderen auch schon wieder verschwunden, als ob es eine Simulation war. Die Gestalt raste durch Chandras Wohnung. Chandra versuchte ihre Augen zu schließen, es gelang ihr nicht. Urplötzlich blieb die Gestalt stehen und sah Chandra an. Die Gestalt kam auf sie zu. Doch etwas schien sie abzulenken. Die Gestalt drehte sich wie wild um die eigene Achse und wie ein Wirbelsturm raste sie auf eine der Wände zu. Dann war die Gestalt verschwunden.

Chandras Körper entspannte sich. Chandra schrie. Und endlich gelang es ihr, ihre Augen zu schließen. Die Schmerzen ließen nach. Chandra fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, erinnerte sie sich nur noch daran, daß sie auf dem Bett gelegen hatte, als sie einen erneuten Anfall bekam. So gründlich sich Chandra auch untersuchte, sie konnte keine Anzeichen der Krankheit entdecken. Sie lehnte sich ganz nah an den Spiegel. Ihr Atem beschlug die glatte Fläche der Scheibe. „Aber dafür muß es doch irgendeinen Grund geben.“ Sie glitt mit ihrer Hand über den Spiegel, als ob sie versuchen wollte, ihr Spiegelbild wegzuwischen. Dann legte sie sich wieder in das Bett, und trotz des Lärms schlief sie schnell ein.

Am Abend verließ Chandra die Wohnung, um zur Arbeit zu gehen. Als sie die Wohnungstür schloß, wußte sie sofort, daß etwas anders war als sonst. Die Warnschilder an den Fahrstühlen waren verschwunden. Chandra wurde mißtrauisch. Erst vor einigen Wochen hatte jemand im fünfzigsten Stock die Schilder entfernt. Ein Mann war ums Leben gekommen, als sich die Türen öffneten und er in den leeren Schacht fiel. Chandra drückte den Knopf. Sie hörte, wie von unten etwas zu ihr hoch fuhr. Schließlich ertönte eine Art Klingel und die Fahrstuhltür öffnete sich. Sie sah in keinen Abgrund. Vor ihr lag die Kabine, frisch lackiert und man konnte sogar noch den Geruch der Reinigungsmittel riechen. Vorsichtig betrat Chandra den Fahrstuhl. Als sie den Knopf für das Erdgeschoß drückte, schlossen sich die Türen und sie fuhr nach unten. Es war unglaublich. Chandra traute ihren Ohren nicht, es gab sogar Fahrstuhlmusik. Eine klassische Melodie, welche das leise Summen der Kabine auf dem Weg nach unten übertönte. Der Fahrstuhl hielt und Chandra verließ die Kabine. Mit einem Lächeln öffnete sie die Haustür, nur noch ein Schritt, und sie würde auf der Straße stehen. Doch heute war alles anders.

Da war keine Straße, kein Lärm, keine Menschen. Chandra war nicht einmal überrascht, als ihr klar wurde, wo sie sich befand. Sie stand auf einer grünen Wiese, sie sah einen blauen, mit kleinen weißen Wolken bedeckten Himmel. Die Sonne ließ alles funkeln und glitzern, so wie sie es jeden Morgen in dem einen Moment tat. Das erste Mal in ihrem Leben empfand Chandra so etwas wie Glück. So ein Gefühl, daß sich das Leben doch lohnen würde, irgendwie. Langsam steigerte sich dieses Gefühl. Chandra spürte, wie sie euphorisch wurde. Nicht so, als wenn sie auf dem Schwarzmarkt ein gutes Geschäft getan hatte, nein, das hier war noch besser. Sie war vollkommen allein. Fast ehrfurchtsvoll kniete sie sich auf den Boden und berührte das Gras, die Blumen, die dunkle Erde. Sie grub ihre Finger in das Erdreich und hatte schließlich etwas Erde in ihrer Hand. Sie roch leicht daran. Es roch gut, und frisch. Dann erblickte sie vor sich den Schatten eines Menschen. Sie hob ihren Kopf und sah in das Gesicht einer Frau. Sie sah in ihr Gesicht. Und diese andere Chandra, die vor ihr stand, sie hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und ihre Haut war übersät von kleinen rötlichen Flecken. Als diese Chandra den Mund aufmachte, ihr Blut aus der Nase zu tropfen begann, schrie Chandra...

Chandra schrie und wachte schweißgebadet auf. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie hatte einen furchtbaren Traum gehabt. Alles schien so real gewesen zu sein. Als Chandra bemerkte, wie ihr der Schweiß über das Gesicht lief, stand sie schnell auf und eilte in das Badezimmer, wo sie sich gewissenhaft abtrocknete. Dabei vermied sie es, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, in den Spiegel zu blicken. Als sie ihre Wohnung verließ, sah sie zu den Fahrstühlen. Die Schilder hingen noch an den Türen. Etwas erleichtert machte sich Chandra auf den Weg zu Sebastians Kino. Dieses Mal traf sie keinen Menschen, als sie die Treppe hinabstieg.

08
Nordstadt
Auch heute kamen keine Besucher, kein einziger hatte sich in das Kino verirrt. Dabei hatte Sebastian an diesem Abend einen echten Klassiker im Programm. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Leute damals in die Kinos strömten, um sich das anzusehen. Und DiCaprio wurde praktisch über Nacht zum Megastar.“ hatte Sebastian zu Chandra gesagt. „Was ist aus ihm geworden?“ Sebastian runzelte die Stirn und überlegte. „Ertrunken, in seinem eigenen Pool. Nach einigen Mißerfolgen in Serie...“ Chandra fing an zu lachen. Sebastian konnte sich ebenfalls ein Lächeln nicht verkneifen. Hatte er da eben Chandra einen Witz erzählt, oder so was ähnliches?

Beide saßen am Tisch. Sebastian hatte Tee gemacht. Sie wußte nicht, woher er das alles hatte. Ob er auch zu einem Schwarzmarkt ging? Chandra bezweifelte das, angesichts des hohen Alters von Sebastian. Auf der Straße da draußen würde er keine drei Minuten überleben. Von diesen Überlegungen sagte sie Sebastian nie etwas, auch wenn die beiden ansonsten fast über alles miteinander redeten. „Träumst du manchmal, Sebastian?“ Chandra brach mit dieser Frage das Schweigen. „Manchmal.“ sagte Sebastian und trank einen Schluck Tee. Chandra sah ihn erwartungsvoll an. Er erwiederte ihren Blick und sagte: „Oh, jetzt willst du natürlich wissen, was das für Träume sind, richtig?“ Sie nickte. „Ach Chandra.“ „Erzähle es mir, bitte.“ Sebastian stellte die Tasse auf den Tisch und kratzte sich am Arm. Dann rieb er sich die Augen. „Was ist mit dem Buch? Soll ich nicht lieber...“ Chandra unterbrach ihn. „Du kannst mir morgen weiter daraus vorlesen, und wenn du willst...“ „Was will ich, Chandra?“ „Ich dachte, vielleicht bringst du es mir bei, das Lesen? Und das Schreiben?“ „Ist es dir ernst damit?“ Chandra nickte. Sebastian sah sie an und lächelte wieder. „Also gut, dann kommen wir jetzt zu meinen Träumen, hm?“ Chandra trank etwas Tee, verschränkte dann ihre Arme vor der Brust und hörte Sebastian zu, als dieser von seinen Träumen sprach.

„Ich träume bestimmt oft.“ sagte er. „Aber die meisten habe ich schon wieder vergessen, wenn ich früh am Morgen aufwache. Vielleicht geht es dir ja ebenfalls so?“ Er sah zu Chandra, die aber nichts sagte. „Naja, ist auch nicht so wichtig. Aber manchmal bleiben einige auch in meinem nicht mehr ganz so guten Gedächtnis hängen. In letzter Zeit habe ich eigentlich immer nur von einer Sache geträumt... Die kleine Holzhütte im Wald, der nahe gelegene kristallklare See. Ein Steg, an dem ein kleines Boot liegt. Und ich sitze am Ende des Steges. Meine Füße berühren leicht die Oberfläche des Wassers. Ich bin zufrieden. Ein alter glücklicher Mann, gesund. Zufrieden. Und wenn die Sonne langsam untergeht und alles einen rötlichen Schimmer bekommt, setzt sich meine Frau neben mich, mit einer Flasche guten Wein und zwei Gläsern. Zusammen beobachten wir den Sonnenuntergang, nippen ab und zu an den Gläsern, halten uns ganz fest. Nach und nach kann man die Sterne am klaren Nachthimmel sehen, eine Sternschnuppe rast über das Firmament. Und dann plötzlich, wie von Zauberhand, schweben wir beide über den See und tanzen, als ob wir nie alt geworden wären. Und dabei sind wir noch so verliebt wie am ersten Tag, als wir uns trafen.“

Ohne es selbst zu merken, war Sebastian aufgestanden und hatte angefangen, sich langsam zu drehen. Dabei hielt er seine Arme so, als ob er jemanden festhalten würde. Seine Augen waren verschlossen. Er bewegte sich so durch das Foyer und er summte dabei eine Melodie, die wohl nur er kannte. Chandra hatte nichts unternommen, als Sebastian plötzlich aufgestanden war. Er war so sehr damit beschäftigt, ihr seinen Traum zu erzählen, daß er alles um sich herum vergessen hatte. Chandra sah den alten Mann an, der in seinen Träumen das Leben lebte, wie er es noch nie zuvor gelebt hatte. Nie konnte. Sebastian blieb stehen und öffnete die Augen. Er machte einen leicht verunsicherten Eindruck.

„Chandra?“ „Du hast einen sehr schönen Traum, Sebastian. Ich beneide dich deswegen.“ Er setzte sich wieder zu ihr. „Es ist der Traum eines alten senilen Mannes, der jeden Tag sterben kann. Du brauchst mich nicht zu beneiden.“ Sebastian nahm die beiden Tassen. „Möchtest du noch etwas Tee?“ „Ja, gerne.“ Sebastian ging weg und kam nach einer Weile wieder. Er gab Chandra eine Tasse. „Vorsichtig, er ist noch ziemlich heiß.“ Sebastian hatte seine Tasse mit beiden Händen umschlossen. Dann sagte er zu Chandra: „Was ist mit dir? Möchtest du mir nicht etwas von deinen Träumen erzählen?“ Chandra sah Sebastian an und sagte leise: „Nein, ich habe keine Träume. Tut mir leid.“ Es war das erste Mal, daß sie ihn angelogen hatte. Aber sie wollte den glücklichen Augenblick, den er hatte, nicht mit ihrem dunklen Traum zerstören, ihn nicht noch mehr beunruhigen mit dem zweiten Anfall. „Ah.“ sagte Sebastian knapp. Dann herrschte wieder Schweigen im Foyer. Dann sagte Sebastian: „Ehe ich es vergesse.“ und zog einen kleinen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. Wortlos nahm Chandra den Umschlag an sich, es war der wöchentliche Lohn, den sie von Sebastian bekam. „Geh jetzt nach Hause, Chandra.“ sagte Sebastian. „Aber ich habe noch eine Stunde.“ „Nein, das schaffe ich auch allein. Wir sehen uns morgen, einverstanden?“ Chandra stand auf. „Alles in Ordnung mit dir, Sebastian?“ „Ja, geh jetzt.“ Als Chandra das Kino verlassen hatte, ging Sebastian nach oben in seine Wohnung, die direkt über dem Kino lag. Und dann konnte er nicht anders. Er fiel in seinen alten Sessel und begann zu weinen.

09
Kuppel
„Innerhalb einer Wohnung der Nordstadt? Habe ich Sie richtig verstanden?“ Nikolai schluckte. Er konnte nur hilflos mit den Schultern zucken und antworten: „Ja, Radon.“ Er hatte große Angst. Radon galt zwar als gerechter Mann, aber noch nie hatte Nikolai ihn so wütend erlebt. Radon blieb an einem der Panoramafenster stehen, die sein großes Büro zierten, und einen wahrlich atemberaubenden Ausblick auf das boten, was sich innerhalb der Kuppel befand. „Also gut.“ sagte Radon und ging auf Nikolai zu. „Kommen Sie mit.“ „Sir?“ „Ich sagte, daß Sie mich begleiten sollen. Wir werden den Teleporter aufsuchen.“ Ohne weiter abzuwarten entfernte sich Radon. Nikolai hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Trotzdem folgte er Radon.

Er hatte Mühe, dessen Tempo zu halten. Auf dem Weg zum Teleporter fing Radon an, Nikolai etwas über die Kuppel zu erzählen. Offenbar wußte er nicht, daß Nikolai bereits von Anfang an hier war. „Ich habe sie geplant.“ sagte Radon. „Reiche Industrielle, Regierungschefs der Ölstaaten haben sie finanziert. Ein ganzes Heer von erstklassigen Ingenieuren hat sie erbaut. Und dennoch nenne ich sie mein Eigen. Es ist meine Kuppel, Nikolai. Wer sich in ihr befindet, lebt nach meinen Regeln. Und jeder, einschließlich meiner Person, hat sich an diese Regeln zu halten. Sonst würde hier ein Chaos ausbrechen, und wir hätten in kürzester Zeit Zustände wie in den Städten da draußen. Dreiundzwanzig Jahre leben wir nun schon hier. Ohne die Krankheit, die alle Menschen außerhalb der Kuppel hinwegrafft. Und jetzt das. Ungenehmigte Sprünge in die Städte. Das ist schon schlimm genug, aber mitten in einer Wohnung? Hat man herausgefunden, um welche Wohnung es sich handelt?“ Nikolai sagte: „Es war mit eines der ersten Häuser, die wir nun mit Kameras in allen Wohnungen ausstatten. Es war wirklich großes Glück, daß der Sprung ausgerechnet in diesem Haus stattfand.“ „Glück? Sind Sie der Ansicht?“

Sie hatten den Teleporter erreicht, aber Radon blieb stehen und sah sich um. „Was sehen Sie, Nikolai?“ Nikolai wußte nicht so genau, auf was Radon hinaus wollte. „Radon?“ „Sagen Sie mir, was Sie sehen, wenn Sie sich umschauen.“ „Nun, Sir... Ich sehe Wiesen, saubere Gebäude, gesunde Luft.“ „Ist das alles?“ „Sir?“ „Was ist mit den Menschen, Nikolai? Sehen Sie nicht, wie glücklich und zufrieden alle sind, die das Privileg haben, in unserer Gesellschaft zu leben. Alle haben sich arrangiert. Ehemalige Präsidenten arbeiten heute als Servicekraft im Media-Bereich. Multimillionäre pflegen die Grünanlagen. Ich kann und will nicht zulassen, daß dies hier endet. Wenn die da draußen etwas von unserer Existenz erfahren sollten, brechen noch schlimmere Zeiten an. Ich rede von einem offenen Krieg, Nikolai. Von einem Krieg gegen uns. Die werden alles tun, um hierherzugelangen. Ich habe immer gedacht, jeder würde wissen, was auf dem Spiel steht. Aber trotzdem gibt es anscheinend eine Gesellschaft innerhalb der unseren. Und sie tut alles, um uns zu vernichten, das Fortbestehen der Menschheit zu verhindern. Irgendwann gibt es in den Städten nichts mehr außer leerstehenden Hochhäusern und menschlichen Knochen, die auf den Straßen verstreut sind. Wir sind hier die einzigen, die noch gesund sind. Die letzten fünftausend Menschen, die eine Chance haben, weiterzuleben.“ Radon packte Nikolai an den Schultern. „Verstehen Sie, Nikolai. Wir sind die letzten. Wir dürfen nicht zulassen, daß den Menschen in der Kuppel das gleiche geschieht wie den Menschen in den Städten. Wir dürfen das nicht. Und ich werde alles tun, um das zu gewährleisten. Verstehen Sie?“ „Ja, Sir. Ich verstehe.“ sagte Nikolai. Er verstand nur zu gut. Radon nickte ihm zu. Beide betraten den Teleporter.

Die Angestellten waren überrascht, als Radon plötzlich vor ihnen stand. „Wer hatte zum Zeitpunkt des Vorfalls die Aufsicht?“ wollte Radon wissen. Eine Frau kam auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. Mit nervöser Stimme sagte sie: „Ich, Sir.“ „Und Sie sind?“ „Laura Antoine, Sir. Wenn Sie mir die Gelegenheit geben, Ihnen zu erklären...“ Radon unterbrach sie. „Nein, Sie und Ihre Leute trifft keine Schuld. Nikolai hier bestätigte mir bereits, daß im Teleporter alles nach Vorschrift verlaufen sei.“ Laura sah zu Nikolai und formte mit den Lippen ein stummes Danke. Nikolai lächelte etwas verlegen. Radon bemerkte das, tat aber nichts. Er räusperte sich kurz, und alle gaben ihm ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit.

„Der Sprung ereignete sich innerhalb der Kuppel.“ sagte Radon. „Aber außerhalb des Teleporters. Was nun unsere, Ihre Aufgabe sein wird, ist herauszufinden, welche Personen unter uns die Möglichkeit und das Wissen haben, einen Sprung in eine der Städte durchzuführen.“ Ein Raunen ging durch die Menge und es wurde etwas lauter. „Gut.“ sagte Radon leise und wandte sich an Nikolai. „Sie werden das übernehmen... gemeinsam mit Laura.“ Nikolai war erstaunt. „Sir, ich habe mein eigenes Team.“ „Sie beide haben ab sofort Zugang zu allen Gebäuden. Ungehindertes Zugriffsrecht auf alle Unterlagen. Ich wünsche eine schnellstmögliche Aufklärung.“ sagte Radon, als ob er Nikolais Einwand überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Zu Laura sagte er: „Das Chaos muß im Keim erstickt werden, damit die Ordnung aufrecht erhalten werden kann.“ Laura nickte. „Ich werde Sie nicht enttäuschen, Sir.“ sagte sie. Radon winkte ab und entgegnete: „Nein, machen Sie nicht solche Versprechen.“ Er wollte gerade den Teleporter verlassen, als er sich noch einmal umdrehte und zu den beiden sagte: „Ich bin zu jeder Zeit erreichbar. Wenn es Fortschritte in dieser Angelegenheit gibt, lassen Sie mich es unverzüglich wissen.“ Laura und Nikolai nickten. Als Radon weg war, sah Laura Nikolai vorwurfsvoll an. „Was sollte das eben? Nikolai!“ „Verzeih mir, aber ich denke, daß unsere Beziehung zueinander vielleicht störend für den Fall sein könnte.“ Laura schüttelte mit dem Kopf. „Komm jetzt, es gibt viel zu tun.“

10
Kuppel
Nikolai und Laura saßen vor einem der Monitore in der Radarstation. „Womit willst du anfangen?“ fragte Laura. „Eine Übersicht der letzten dreißig Sprünge, die ungenehmigten mit eingeschlossen.“ Laura gab auf der Tastatur die entsprechenden Befehle ein. Kurz darauf erschien eine Tabelle, in der die Namen der Springer, die Sprungzeit sowie das Sprungziel verzeichnet war. „Da, siehst du?“ „Ja. Das müssen die ungenehmigten sein. Keine Namen, nur Zeit und Ziel.“ Nikolai nickte. „Immerhin so etwas wie ein Anfang. Hier haben wir die vier von gestern und heute. Die anderen beiden verteilen sich über einen größeren Zeitraum.“ „Nikolai?“ „Ja?“ „Hast du eine Vermutung, wer dahinter stecken könnte?“ „Ich weiß nicht. Viele können es ja nicht sein. Vielleicht einer aus dem elitären Kreis, drüben im IT-Center.“ „Ja, das denke ich auch. Kein Mensch weiß doch, was die dort hinter den hohen Mauern alles ausbrüten. Keiner kommt dort ohne die entsprechenden Befugnisse rein. Nicht einmal das Sicherheitspersonal, welches das Gebäude bewacht.“ „Was redest du da, Laura?“ fragte Nikolai und sah sie an. „Das ist fast schon paranoid!“ „Wer soll es denn sonst sein, als einer von denen, Nikolai? Du denkst ebenfalls so, oder nicht?“ „Es war eine vorsichtige Vermutung, nichts weiter. Können wir jetzt bitte weitermachen.“ Er haßte es, wenn Laura sich so verhielt, so mißtrauisch gegenüber anderen. „Und wenn es Menschen aus der Stadt sind?“

Nikolai gab es auf. Wenn Laura einmal damit anfing, konnte sie nichts und niemand so schnell wieder davon abbringen. Er drückte eine Taste und eine weitere Tabelle erschien auf dem Bildschirm. Er hatte nun Zugriff auf die digitalen Kopien von den Videobändern der Kameras. Laura redete immer noch davon, daß es entweder Menschen aus den Städten waren, oder aber es nur der elitäre Kreis des IT-Centers sein konnte. Während er sich Bild für Bild der letzten dreißig Tage aufmerksam ansah, sagte er zu Laura: „Die Menschen da draußen haben nicht die technischen Möglichkeiten für solch einen Sprung. Das müßtest du doch wissen, Laura.“ Sie sagte nichts mehr. Ob sie schmollte? Es war ihm egal, er war froh, wenigstens für einen kurzen Moment etwas Ruhe zu haben. Zu Hause würde sich schon wieder alles ergeben. Alles in allem führten sie eine glückliche Beziehung, und kleine Streitigkeiten gehörten nun mal dazu.

Stunde um Stunde verging. Nikolai taten langsam die Augen weh. Auf den Bildern hatte er nichts entdecken können. Überall das gleiche Bild. Menschen, deren Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, wenn sich ein Sprung in ihrer Nähe abspielte. Er hatte fast alle Bilder durch. Eines der letzten zeigte eine junge Frau, die angelehnt an einer Hauswand stand. Er konnte fast den Schmerz fühlen, den sie gehabt haben mußte, als sich der Sprung vollzog. Es war einer der ungenehmigten. Normalerweise gingen sie kein Risiko ein, wählten Orte, an denen sich keine Menschen aufhielten. Manchmal ließ es sich eben nicht vermeiden, das Risiko hatten sie einkalkuliert, und es hielt sich in Grenzen. Aber dem Verursacher der ungenehmigten Sprünge schien es völlig egal zu sein. Dann hatte er das Bild aus der Wohnung, wo sich der letzte Sprung ereignet hatte. Nikolai stutzte. „Laura, sieh dir das mal an.“ Sie legte einen Arm um ihn. „Was?“ „Hier, die beiden Bilder. Fällt dir etwas auf?“ Laura sah sich die Bilder an. Nach einer Weile sagte sie: „Das kann unmöglich sein.“ Nikolai nickte. „Ja, eigentlich schon. Aber es ist die selbe Frau. Es muß die selbe Frau sein. Augenfarbe und Nasenpartie identisch, wenn wir den Mundschutz wegfiltern...“ Er gab ein paar Ziffern ein, Sekunden später war der Mundschutz weg. Sie sahen jetzt die Frau, wie sie an der Wand stand, verkrampft, und vor ihnen die anderen Menschen, die sich auf den Behälter stürzten, den die Frau verloren hatte. Es gab keine Zweifel, die Gesichter auf den beiden Bilder waren identisch. Es war ein und die selbe Frau. „Warum sind die anderen nicht von dem Sprung betroffen?“ fragte Laura. „Das weiß ich nicht.“ sagte Nikolai. „Auf alle Fälle müssen wir das Radon sagen. Wie spät ist es?“ „Zu spät, Nikolai. Er wird schon schlafen. Kann das nicht bis morgen warten?“ „Er hat gesagt, egal wann, Laura. Egal wann.“ Er druckte die beiden Bilder aus. „Na los, gehen wir.“

11
Nordstadt
Chandra nahm all ihren Mut zusammen und klopfte an die Tür. Sie hörte, wie jemand laut fluchte. Dann wurde die Tür von einem alten dicken Mann geöffnet. Als er Chandra sah, wischte er sich die Hände an seinem alten dreckigen Unterhemd ab. Chandra bereute es bereits, jemals an diese Tür geklopft zu haben. „Was kann ich für dich tun, Kind?“ fragte er. „Ich... ich wohne im vierzigsten Stock, unter Ihnen. Man erzählt sich, Sie seien Arzt?“ „Wer sagt das?“ „Einige.“ Er kratzte sich am Kinn. „Kann sein.“ sagte er. „Aber ich habe keine Zulassung mehr.“ Chandra wußte auch warum. Der Mann war um die vierzig, unzählige Flecken bedeckten die Haut. Daß er überhaupt noch Haare hatte, grenzte fast an ein Wunder. „Also, was willst du?“ fragte er erneut. „Sir, ich belästige Sie nur ungern.“ sagte Chandra. Dann holte sie tief Luft und sagte: „Ich möchte, daß Sie mich untersuchen.“ Er fing an zu lachen. „Kind, geh in eine der Kliniken.“ „Nein, wir alle wissen, was mit denen passiert, die da hingehen.“ Er hörte auf zu lachen und wurde ernst. „Ja, das stimmt.“ Alle Menschen wußten, daß die Kliniken in der Stadt nichts weiter waren, als Wartesäle für die Krematorien. Nur völlig verzweifelte oder lebensmüde Menschen gingen in die Kliniken. Aber Chandra war nicht verzweifelt, oder lebensmüde. Sie war einfach nur besorgt. Irgendeiner mußte ihr doch sagen können, warum sie die Anfälle bekam. Selbst wenn es ein dicker, dreckiger Mann war, der früher mal Arzt gewesen war.

„Na dann komm mal rein.“ sagte er und stieß die Tür auf. Chandra war sich sicher, einen Fehler zu machen, trotzdem betrat sie die Wohnung. „Ich bin Norman Loomax. Du kannst Mister Loomax zu mir sagen, Kind.“ sagte er. Sie hatten das Wohnzimmer erreicht. „Sollten wir nicht die Desinfektion anwenden?“ fragte sie. Loomax fing wieder an zu lachen. „Das ist eine der großen Lügen, die sie uns aufgetischt haben. Desinfektion. Was soll das bringen? Die Ventilatoren sind kaputt, die Luftschächte verstopft. Desinfektion bringt nichts.“ Chandra sah ihn entgeistert an. „Ach Kind, hör auf. Du fängst ja gleich an zu heulen.“ Loomax wollte wieder lachen, aber irgendwie konnte er nicht. Vielleicht war er zu weit gegangen. Er kratzte sich am Arm und sagte: „Okay, böser Scherz. Natürlich desinfizieren wir erst mal alles. Du kannst das Bad benutzen. Ich habe zwei von den Dingern.“ Chandra nickte und ging ins Bad. „Deine Kleidung brauchst du dir gar nicht erst wieder anzuziehen.“ rief er ihr hinterher.

Als Chandra ins Badezimmer ging, holte er einige Bücher aus dem Regal. Unter seinem Bett zog er einen alten Koffer vor und pustete den Staub ab. Loomax wußte nicht mehr ganz genau, wann er ihn das letzte Mal geöffnet hatte. Neun, vielleicht zehn Jahre? Dann kam Chandra aus dem Bad zurück. Sie war nackt, und Loomax wußte genau, wie unangenehm ihr das war. „Dabei fällt mir ein, wie heißt du überhaupt?“ „Chandra.“ „Na gut, Chandra, wie willst du bezahlen?“ „Ich habe etwas Obst dabei, es wäre ein guter Tausch für Sie, Mister Loomax.“ Er nickte und fragte sie: „Also Chandra? Was fehlt dir? Sind es die ersten Anzeichen der Krankheit?“ „Nein, damit hat es nichts zu tun, glaube ich. Ich hatte nur... ich hatte zwei Anfälle innerhalb kürzester Zeit, Krämpfe, Schüttelfrost. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.“ Loomax streifte sich ein paar Handschuhe über, die er aus dem Koffer hervorgeholt hatte. Er ging auf Chandra zu. „Keine Angst.“ sagte er, als sie etwas zurückwich. „So einer bin ich nicht. Wirklich, du kannst mir glauben.“ Dann tastete er ihren Körper ab, suchte nach verdächtigen Knoten in ihrer Brust, nach Flecken auf der Haut. Er prüfte ihre Haare. „Nein, die Krankheit kann es nicht sein. Etwas anderes vielleicht, mal sehen.“

Er nahm eines der Bücher und schlug es auf. „Kannst du lesen, Chandra?“ „Nein.“ „Ist auch nicht so wichtig. Wie alt bist du? Fünfundzwanzig?“ „Dreiundzwanzig.“ „Hm, ein schönes Alter.“ „Wie meinen Sie das, Mister Loomax?“ Er schaute auf. Hatte er gerade so etwas wie Small Talk betrieben? „Vergiß es!“ sagte er. Er nahm eines der anderen Bücher. „Nimmst du regelmäßig Nahrung zu dir?“ wollte er wissen. „Ja.“ „Hm, gut.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Nichts, eine rein ärztliche Frage.“ Chandra wurde es langsam kalt. „Kann ich mich wieder anziehen?“ Er sah sie an. „Oh. Ja, ja natürlich. Entschuldige.“ Sie ging in das Badezimmer. Loomax warf das Buch auf den Tisch. Er konnte Chandra nicht helfen, jedenfalls nicht so schnell.

Bevor Chandra ging, wollte er einiges über sie wissen. „Kannst du dich an Allergien oder ähnliches in deiner Kindheit erinnern?“ „Nein.“ „Hast du Schutzimpfungen bekommen? Damals muß das noch üblich gewesen sein.“ „Nein.“ „Und es war dein zweiter Anfall, richtig?“ „Ja.“ Loomax schüttelte den Kopf und sagte: „Vielleicht eine Art von Grippe.“ Er wußte nicht mehr weiter. Chandra ging zur Tür. „Danke für das Obst.“ sagte Loomax, als er Chandra aus seiner Wohnung ließ. „Und, du sagtest, vierzigster Stock? Die zehnte Tür rechts?“ Chandra nickte und sagte: „Danke, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, Mister Loomax.“ „Schon gut, Kind.“ sagte er. „Wenn ich etwas in Erfahrung bringen sollte, werde ich dir eine Nachricht in den Türrahmen klemmen, einverstanden?“ „Ja, danke.“ Dann war Chandra weg und Loomax schloß die Tür.

Was konnte er schon tun. Das einzige, was er an ihr entdeckt hatte, war ihre Schönheit. Er konnte ihr nicht helfen., er wußte nicht wie. Er sah die Bücher auf dem Tisch. Ich kann ihr nicht helfen, dachte er noch einmal. Aber dann holte er andere Bücher aus dem Regal und setzte sich auf sein altes Bett. Loomax wußte, daß er jeden Tag sterben konnte. Warum sollte er seinem Leben nicht ein letztes Mal einen Sinn geben, indem er einer jungen Frau half? Er biß in einen Apfel und begann in den Büchern zu lesen, in der Hoffnung etwas zu finden, was Chandra weiterhelfen konnte. Später legte er die Bücher beiseite und holte sich einen runter. Verdammt, dachte er, dieses Mädchen war wunderschön...

12
Kuppel
Nikolai und Laura befanden sich auf dem Weg zu Radons Gemächern. „Was willst du ihm sagen?“ fragte Laura. „Auf jeden Fall bitte ich dich, deinen Verdacht mit dem IT-Center erst einmal für dich zu behalten, einverstanden?“ Laura sagte nichts. „Das ist also ein Ja?“ fragte er. „Laura?“ „Ich werde es nicht erwähnen, in Ordnung.“ Nikolai gab ihr einen Kuß. „Danke.“ „Schon gut. Jetzt verrate mir, was du ihm sagen willst.“ „Nun, genau das, war wie gesehen haben. Den Beweis haben wir dabei.“ Er hielt die beiden Bilder hoch. „Nämlich das ein Mensch zweimal das Opfer eines ungenehmigten Sprunges wurde.“ „Und weiter?“ Nikolai legte einen Arm auf ihre Schulter und blieb stehen. „Es ist zugegeben noch nicht ganz ausgereift, weiß du?“ „Du hast dir von der Radarstation bis hierher schon etwas überlegt?“ fragte Laura. Nikolai nickte und lächelte etwas verlegen. „Willst du es mir erzählen?“ Dann erzählte ihr Nikolai von seinem kühnen Plan. Als er fertig war, sah ihn Laura entgeistert an. „Das ist verrückt, Nikolai.“ „Ich weiß, Laura. Ich weiß.“ „Das wird er nie zulassen. Nie.“

Dann waren sie an Radons Gemächern angekommen. „Wir werden sehen.“ sagte Nikolai und drückte den Knopf der Sprechanlage. Radons Stimme war zu hören. „Wer ist da?“ „Sir, Laura Antoine und Nikolai Sandell.“ Ein Summen ertönte und die Tür ging auf. „Nie, Nikolai, nie.“ sagte Laura leise. Dann betraten sie den Raum. Hinter ihnen schloß sich die Tür wieder. Laura hatte sich geirrt. Radon war begeistert von Nikolais Vorschlag. „Es ist natürlich nur eine Idee, eine von vielen womöglich, Radon.“ sagte Nikolai. Der winkte ab. „Was halten Sie davon, Laura?“ Laura überlegte ganz genau, was sie jetzt sagen würde. „Nun, es klingt logisch. Ein sehr mutiger Vorschlag. Sicherlich durchführbar.“ Radon lächelte und sagte: „Ja, darauf kommt es an. Das er durchführbar ist. Am besten, wir besprechen das gleich mit dem Rat.“ Nikolai hob beschwichtigend die Arme. „Sir, wir sollten nichts überstürzen.“ Radon interessierte das nicht. Statt dessen gab er seinem Personal die Anweisung, daß sich der Rat innerhalb von einer Stunde im Besprechungsraum einfinden sollte. „Sie haben jetzt noch ein wenig Zeit, Nikolai, um das ganze noch präziser darzustellen. Was mich betrifft, meine Zustimmung haben Sie. Nur den Rat müssen Sie noch überzeugen.“ Er wandte sich an Laura. „Und Sie, Laura. Sie müssen jetzt zu Ihrem Freund stehen.“

13
Kuppel
Der Rat hatte sich versammelt. Zwölf Männer saßen um den runden Tisch in dem großen Raum mit den Panoramafenstern. Radon hatte sich auf seinen erhöhten Stuhl gesetzt. „Meine Herren.“ sagte er mit ernster Stimme. „Als erstes möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, daß ich Sie zu so später Stunde noch habe herkommen lassen. Aber es ist ein bedeutungsvoller Moment.“ Er deutete auf Nikolai und Laura, die etwas abseits standen. Er wandte sich wieder dem Rat zu. „Es geschieht nicht oft, aber es geschieht.“ Er stand auf. „Wir alle wissen um die Gefahr, die von den ungenehmigten Sprüngen ausgeht.“ Die zwölf Männer pflichteten ihm bei. Radon ging zu einem der Fenster. „Nun, es besteht die durchaus gerechtfertigte Hoffnung, diesem Spuk ein schnelles Ende zu bereiten. Alles andere wird Ihnen Nikolai Sandell erklären.“ Er sah zu Nikolai. „Nur keine Angst, erklären Sie es dem Rat genau so, wie Sie es mir erklärt haben.“ Radon setzte sich wieder.

Nikolai holte einige Bilder hervor und verteilte sie an den Rat. „Was Sie hier sehen, sind Aufnahmen der Überwachungskameras, wie wir sie täglich bekommen. Auf dem Bild ist eine Frau abgebildet, die zufällig anwesend war, als einer der Sprünge getätigt wurde. Sie sehen die typischen Krämpfe, die starren Augen. Uns ist das zur Genüge bekannt.“ Er sah zu Radon, der aber keine Reaktion zeigte. Nikolai fuhr fort. „Was noch auffällt, sind die anderen Menschen, die auch anwesend sind. Sie scheinen in keinster Weise von dem Sprung betroffen zu sein, verhalten sich weitestgehend normal, wenn man das angesichts der Bilder sagen kann.“ Im Rat wurde es lauter, als die Männer auf den Bildern sahen, wie sich die Menschen auf den Behälter stürzten, den die Frau verloren hatte. „Das ist aber nicht das Ungewöhnliche an der Sache.“ sagte Nikolai und verteilte weitere Bilder. „Am Abend des selben Tages geschah ein weiterer, von uns nicht autorisierter Sprung. Dieses Mal mitten in einer Wohnung der Nordstadt. Sie alle hier sind bereits davon in Kenntnis gesetzt worden. Unser Glück war es, daß der Sprung in einem der Häuser stattfand, die seit einigen Tagen mit Kameras ausgestattet sind. Daher konnten meine Partnerin Laura Antoine und ich auch... und Sie müssen mir glauben, daß auch wir sehr überrascht waren... daher konnten wir auch entdecken, daß die Frau auf dem ersten Bild völlig identisch ist mit der Frau auf dem zweiten Bild, welches in der Wohnung aufgenommen wurde.“ Nikolai hielt einen Moment inne, um dem Rat die Gelegenheit zu geben, über diese Tatsache zu diskutieren. Alle redeten durcheinander. Vereinzelt gelang es Nikolai einige Wortfetzen zu verstehen. Er holte tief Luft und unterbrach sie. „Es besteht kein Zweifel an der Richtigkeit der Fotos. Kein Zweifel an der Frau, es ist ein und die selbe. Was Laura und ich uns fragen, und Sie sicherlich auch, ist das Warum. Noch nie hat es einen Menschen zweimal getroffen. Noch nie. Womit wir bei meinem Plan angelangt wären.“

„Haben Sie vielen Dank, Nikolai.“ sagte Radon. „Das war sehr... lehrreich.“ Für einen Moment herrschte absolute Stille im Raum. Leise sagte Radon: „Meine Herren, wir werden dieses Mal den umgekehrten Weg gehen. Wir werden keinen Menschen in die Stadt bringen, sondern einen Menschen in die Kuppel. Um es auf den Punkt zu bringen, diese Frau.“ Er hielt eines der Bilder hoch. „Wir werden dafür sorgen, daß sie den Quarantänebereich nicht verlassen wird. Der Sprung wird perfekt sein. Ein perfektes Timing.“ Er sah zu Nikolai und Laura. „Dafür werden Sie sorgen.“ Sie nickten. „Wir werden sie fragen, ob sie von uns, von den Sprüngen weiß. Es muß einen Zusammenhang geben. Das ist kein Zufall. Wer auch immer für die ungenehmigten Sprünge verantwortlich ist, er scheint sich für die Frau zu interessieren. Wir sollten ihm daher zuvorkommen. Gibt es Einwände?“ Radon setzte sich wieder

Zehn Minuten später befanden sich nur noch er mit Nikolai und Laura im Raum. „Alles weitere liegt nun bei Ihnen.“ sagte Radon. „Der Rat hat eindeutig entschieden. Die Genehmigung ist erteilt worden.“ Er rieb sich die Augen. „Es liegt bei Ihnen.“ „Danke, Sir.“ sagte Nikolai. Laura und er verließen den Raum. Radon saß noch immer auf seinem Stuhl. Er wußte nicht genau, ob aus der Frau überhaupt etwas herauszuholen war. Aber wenn die Chance bestand, warum sollte er sie nicht nutzen? Als Laura und Nikolai das Gebäude verlassen hatten, mußte sich Nikolai setzen. „Nikolai, was ist?“ „Die Aufregung. Daß sie es so schnell, so ohne Gegenargumente annehmen würden, hätte ich nicht gedacht.“ Er stand auf und streckte sich ein wenig. „Aber das sollte uns jetzt nicht weiter stören. Wir haben viel vorzubereiten.“ „Ja, eine Menge Arbeit.“ sagte Laura. Sie standen noch eine Weile im Freien, bevor sie zurück zur Radarstation gingen.

14
Nordstadt
Chandra war heute früher als sonst zu dem kleinen Kino gegangen. Sie war morgens aufgewacht, und sie konnte sich nicht helfen, aber sie hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Sebastian. Der alte Mann hatte ihr sich fast völlig offenbart, und sie hatte ihn belogen, hatte ihm gesagt, daß sie keine Träume hatte. Chandra war auf dem Schwarzmarkt gewesen und hatte das Messingband ihrer Mutter gegen etwas eingetauscht, von dem ihr Sebastian schon so oft erzählt hatte. Etwas, mit dem er als Kind immer gespielt hatte. Chandra hoffte, ihm damit eine kleine Freude bereiten zu können. Sie stand vor dem Kino und wollte die Tür aufmachen, aber sie war zu. Es war auch kein Licht an. Selbst in der Wohnung über dem Kino brannte kein Licht. Chandra hatte plötzlich große Angst. Sie wußte, daß Sebastian wahrscheinlich der älteste Mensch in der Stadt war. Aber wenn er jetzt... Ein schrecklicher Gedanke formte sich in ihrem Kopf. Sie hämmerte an die Tür und horchte. Nichts. „Sebastian?“ schrie sie. „Sebastian!“ Er konnte nicht tot sein. Das konnte er einfach nicht. Das durfte nicht sein. „Sebastian!“ schrie Chandra wieder und wieder. Tränen der Verzweiflung liefen ihr Gesicht herunter. Wieder schlug sie gegen die Tür. Schluchzend lehnte sie ihren Kopf an die Tür.

„Den haben sie abgeholt.“ sagte jemand hinter ihr. Schnell wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, versuchte selbstbewußt zu sein. Sie drehte sich um. Vor ihr stand ein junges Mädchen, das gelangweilt an ihrem Cape zupfte. „Wen haben sie geholt?“ „Na den alten Mann aus dem Kino hier. Kanntest du ihn?“ „Wo haben sie ihn hingebracht?“ Chandra beugte sich zu dem Mädchen hinunter und packte es fest am Arm. „Du tust mir weh.“ „Wo haben sie Sebastian hingebracht? Sag es mir!“ Das Mädchen versuchte Chandra abzuschütteln, aber die hielt sie unerbittlich fest. „In eine der Kliniken.“ „Welche Klinik?“ schrie Chandra das Mädchen an. Das Mädchen bekam es mit der Angst zu tun. „Wirst du mich umbringen?“ fragte sie. „Was sagst du da?“ „Wirst du mich töten?“ Chandra sah das Mädchen an. Es glaubte tatsächlich, daß sie ihr etwas antun könnte.

Sie ließ es los. „Ich werde dir nichts tun. Du mußt mir nur sagen, in welche Klinik sie ihn gebracht haben.“ Sie kniete sich vor das Mädchen. „Ich muß es wissen. Sebastian ist mein Freund.“ „Aber er wird so oder so sterben, bei dem Alter.“ Chandra rang um Fassung. Dann sah sie dem Mädchen mit festem Blick in die Augen und sagte leise: „Aber keiner hat so einen Tod verdient. Du nicht. Ich nicht. Und auch Sebastian nicht. Egal, wie alt man ist. Verstehst du das? Niemand hat das verdient.“ Das Mädchen hielt dem Blick von Chandra stand. Doch schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit sagte sie: „Es ist die Klinik da oben, drei Blocks entfernt.“ Chandra stand auf und sagte zu dem Mädchen: „Wie heißt du?“ „Annabell. Warum willst du das wissen?“ Chandra umarmte sie. „Ich danke dir, Annabell.“ Dann rannte Chandra los.

15
Nordstadt
Über dem Eingang stand in großen Buchstaben ‚Klinikum‘. Der Putz war von den Wänden abgefallen, wie bei den meisten der Häuser in der Stadt. Es roch nach Tod. Chandra holte ein Tuch unter ihrem Cape hervor und hielt es sich vor das Gesicht. Der Mundschutz allein reichte nicht. Dann betrat sie die Klinik. Im Eingangsbereich türmten sich die Leichen von Menschen. Chandra blieb kurz stehen. Dann bahnte sie sich ihren Weg durch die Menschenmassen. Sebastian war nicht unter den Leichnamen dabeigewesen. Aber bei der Unmenge, die hier herumlagen, fast achtlos in die schmutzigen Ecken geworfen, war es nahezu unmöglich, festzustellen, ob sich Sebastian nicht doch schon unter den Toten befand.

Dann hatte sie endlich einen der vielen Schalter erreicht. Ein städtischer Angestellter saß hinter der Glaswand. Seinem Äußeren nach zu urteilen, hatte die Krankheit bei ihm das Endstadium erreicht. Er war nichts weiter als eine billige und austauschbare Arbeitskraft für die Stadtoberen. „Möchten Sie sich einäschern lassen?“ fragte er Chandra. „Nein, ich bin auf der Suche nach einem...“ Sie überlegte kurz. „Nach einem Angehörigen.“ Der Mann im Schalter setzte ein gequältes Lächeln auf. „Junge Frau, sehen Sie sich um. Alle, die hier sind, suchen nach Angehörigen. Also noch mal, wenn Sie freiwillig aus dem Leben scheiden wollen, müssen Sie eines der Formulare ausfüllen. Wenn Sie nicht schreiben können, werde ich das für Sie übernehmen.“ „Nein, Sie hören mir nicht zu. Ich will noch nicht sterben. Ich suche wirklich jemanden. Er muß hier sein.“ Der Mann fuhr unbeeindruckt fort. „Nennen Sie mir Ihren Namen.“ forderte er Chandra auf. Chandra gab es auf und schlug mit der Faust wütend gegen die Glasscheibe. „Wo befinden sich die Unterkünfte für die Kranken? Können Sie mir wenigstens das sagen?“ „Dafür bin ich nicht zuständig.“ Chandra sah ihn mit einem Blick an, der, würde es denn funktionieren, dieses sturen Beamten auf der Stelle in ein Häufchen Asche verwandeln würde. Die Glasscheiben begannen zu vibrieren.

Chandra entfernte sich vom Schalter. Irgendwo mußte es doch sein. Sie entdeckte eine Tafel an der Wand. Sie verstand die Zeichen nicht, die darauf abgebildet waren. Wenn sie doch nur lesen könnte. Chandra hielt einen schnell vorbeieilenden Mann am Ärmel fest. „Bitte! Helfen Sie mir.“ Der Mann zögerte, sagte dann aber: „Was kann ich für Sie tun?“ „Die Unterkünfte der Kranken. Wo sind die?“ Sie zeigte auf die Tafel. Der Mann überflog die Beschriftung der Tafel und sagte: „Okay, Sie müssen die Treppe rauf in die zweite Etage, dann nach rechts. Laut dem Plan dort müssen die sich da befinden.“ „Danke.“ sagte Chandra und rannte die Treppen hoch.

Als sie das Stockwerk erreicht hatte, ging sie nach rechts. Ein langer Flur erstreckte sich vor ihr. Mehrere Tragen standen auf dem Boden direkt an den Wänden. Einigen Menschen, die auf den Tragen lagen, war bereits das Gesicht zugedeckt worden. Auf den schmutzigen Laken der Toten war mit schwarzer Kreide ein Kreuz vermerkt. Es war das Zeichen für den sofortigen Abtransport ins Krematorium. „Sebastian?“ rief Chandra, als die den Flur entlang lief. „Sebastian!“ rief sie erneut, dieses Mal etwas lauter. Viele der noch lebenden Menschen antworteten ihr. „Ich bin hier.“ „Ich bin Sebastian.“ „Hol mich hier raus.“ Aber Chandra ignorierte die Rufe. Sie wußte, Sebastian, sollte er noch leben, würde klug genug sein, um sie mit den richtigen Worten auf sich aufmerksam zu machen. Chandra ging in die Krankenzimmer, in denen die Menschen zusammengepfercht worden waren. In jedem einzelnem Raum rief Chandra „Sebastian?“ Sie hatte keine Antwort erhalten. Wieder beschlich sie dieses furchtbare Gefühl. Das Gefühl, mehr als nur einen Freund verloren zu haben. Sie hatte nun fast alle Zimmer nach ihm durchsucht. Immer noch keine Spur von Sebastian. Sie versuchte den Gedanken zu verdrängen, daß er bereits in einem der Öfen verbrannt worden war. „Sebastian! Verdammt, wo bist du?“ Noch zwei Zimmer lagen vor ihr. Es ist zwecklos, dachte Chandra. Sebastian, er ist tot. Und dann, durch den Lärm und die zahlreichen Schreie hindurch vernahm sie das Wort, auf das sie gesetzt hatte.

„Chandra!“ rief jemand. Sebastian! Der Ruf kam aus einem der zwei Zimmer, die noch vor ihr lagen. Sie ging als erstes in das von ihr aus gesehene linke. Und da lag er. Inmitten von Leichen und lebenden Menschen. Als sie ihn sah, stürzte Chandra sich auf ihn und drückte Sebastian an sich. „Ich dachte, ich hätte dich verloren.“ flüsterte sie ihm ins Ohr. Sebastian drückte Chandra fest an sich. Er konnte ihren Schmerz, ihre Angst fühlen. „Das dachte ich auch.“ sagte er leise. „Das dachte ich auch.“ Einige Minuten saßen sie so da, sich gegenseitig umarmend. Für einen kleinen Augenblick hatten sie das Elend um sich herum vergessen. „Bring mich hier raus, Chandra.“ sagte Sebastian. Chandra drückte ihn an sich und sagte: „Ja. Laß uns gehen.“ Sie stützte ihn, als sie langsam die Treppen hinab gingen. „Halte durch.“ sagte Chandra. „Gleich sind wir draußen.“ Unendlich lange dauerte der Weg zum Ausgang. Sebastian war die Angst, die er hatte, anzusehen. „Sebastian, nur noch wenige Meter.“ sagte Chandra. Der Mann hinter dem Schalter, der Chandra zuvor noch abgewiesen hatte, sah, wie sie mit einem alten Mann die Klinik verließ. Es interessierte ihn nicht. Im Grunde genommen war es ihm egal. Er selbst konnte jeden Tag sterben. Was interessierten ihn da schon die anderen.

Chandra und Sebastian hatten die Klinik endlich hinter sich. Mühsam schleppte sie den alten Mann zum Kino. Als sie es erreicht hatten, fragte Chandra: „Hast du den Schlüssel dabei?“ Sebastian schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Du wirst sie aufbrechen müssen. Oh Chandra, es tut mir so leid.“ „Kannst du für einen Moment stehen?“ Sebastian hob den Daumen. „Ich bin gleich wieder da.“ sagte Chandra und ging weg. Als sie weg war, sackte Sebastian zusammen und fing an zu weinen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Dann war Chandra wieder da. Sie hatte ein Brecheisen in der Hand. Sie setzte an, und wenige Sekunden später war die Tür offen. „Komm jetzt, gleich hast du es geschafft.“ sagte sie. Sie half ihm aufzustehen. Mit letzter Kraft schleppte sie ihn hoch in seine Wohnung, legte ihn auf das Bett und nahm ihm den Mundschutz ab. Chandra fiel in den Sessel und schrie auf.

Sebastian war nicht fähig, sich zu rühren. Er sah an die Decke seiner Wohnung. „Ich weiß, es war dumm von mir.“ sagte er. „Aber der Bote ist nicht gekommen. Da war ich selbst auf dem Schwarzmarkt.“ Chandra stand auf, ging zu ihm und setzte sich auf das Bett. „Das hättest du nicht tun sollen.“ sagte sie. Er umklammerte ihre Hand und sagte: „Auf dem Rückweg bin ich zusammengebrochen. Es dauerte nicht einmal Minuten, bis sie mich in die Klinik gebracht haben. Es ist schon seltsam. Die Toten werden auf der Straße liegengelassen, und die Lebenden... die werden als erstes weggeschleppt.“ „Jetzt ist es vorbei.“ sagte Chandra. Sie sah in das Gesicht von Sebastian. Sie sah die ganze Furcht, die er gehabt hatte. „Jetzt ist es vorbei. Du bist in Sicherheit.“ sagte sie. Sebastian sah sie an. „Die ganze Zeit habe ich daran gedacht, dich nicht mehr wiederzusehen. Das... Chandra, die ganze Zeit.“ Er fing wieder an zu weinen. Chandra legte ihren Kopf auf seinen Bauch. „Ich weiß, was du meinst, Sebastian.“ sagte sie. „Es war für mich das gleiche Gefühl. Nur dieses Mal hätte ich meinen... Vater verloren. Und du deine...“ Sie hörte Sebastians altes Herz pochen. Und Sebastian fühlte die Sehnsucht, die von ihr ausging. So lagen sie eine Zeitlang auf dem alten Bett, bis beide eingeschlafen waren. In dieser Nacht träumte Sebastian nicht von seiner Frau, wie er mit ihr über den See schwebte. Er träumte von einer nie existierenden Tochter, die er nun endlich gefunden hatte. Und diese Tochter war Chandra.

16
Kuppel
Einige Tage waren vergangen. Nikolai und Laura waren vollauf beschäftigt mit dem Projekt. Sie hatten einige aus ihren beiden Teams zu sich versetzen lassen. Laura war immer noch von dem Gedanken besessen, die Sprünge würden von einigen aus dem IT-Center verursacht. Nikolai wurde das langsam zuviel. „Laura, hör auf damit!“ sagte er. „In das IT-Center kommt keiner rein. Nicht einmal wir, trotz unserer Befugnisse. Keiner stellt Fragen über das Wie und Warum. Wichtig ist doch nur, daß wir ohne das IT-Center den Menschen in den Städten schutzlos ausgeliefert wären. Was glaubst du eigentlich, wem wir die ganzen technischen Neuerungen zu verdanken haben?“ Laura schaltete ihren Computer aus. Nikolai hatte das Gefühl, als würde sie nach Argumenten suchen. Sie sah auf den schwarzen Monitor des Bildschirms und sagte leise: „Es läßt mir einfach keine Ruhe, daß sich Menschen unter uns befinden, die ich noch nie gesehen habe. Die den ganzen Tag in ihren Labors an Experimenten arbeiten, die alles mögliche anrichten können. Ich bin doch nur besorgt.“ „Aber das bin ich doch auch. Und auch die anderen. Deshalb hat der Rat, hat Radon dem ganzen hier zugestimmt. Sie sind besorgt, wie wir alle. Laura, sieh mich an!“ Er drehte ihren Kopf zu sich. „Versuche wenigstens für die Dauer des Projekts nicht mehr an das IT-Center zu denken. Konzentrieren wir uns lieber auf den bevorstehenden Sprung, okay?“ Laura nickte und bootete den Computer erneut. Kurze Zeit später war sie bereits dabei, die nötigen Daten für den Teleporter zu berechnen.

Es würde eine Premiere werden. Drei Menschen würden gleichzeitig einen Sprung machen. Theoretisch war dies für den Teleporter kein Problem, da waren sich alle einig. Nur in der Praxis wurde dieser Fall noch nie getestet. Aber für Testversuche fehlte die Zeit. Alles mußte schnell gehen. In Rekordzeit hatten sie die Quarantänestation den Bedürfnissen eines Menschen aus der Stadt angepaßt, hatten die exakte Luftfeuchtigkeit und Temperatur erzeugt. Für den Menschen hatte der Sprung eigentlich nur Vorteile. Die Biofilter im Teleporter würden die Krankheit nahezu zum Stillstand bringen, um ein vielfaches das Fortschreiten einschränken. Die Frau würde doppelt so alt werden, wie die anderen Menschen, wenn sie denn jemals wieder die Kuppel verlassen sollte. Natürlich hatten Radon und Nikolai auch über die Möglichkeit nachgedacht, die Frau einfach hierzubehalten. Warum sie wieder nach draußen in den sicheren Tod schicken? Aber diese Option wollten sie sich bis zuletzt offenhalten. Die vielen Simulationen am Computer waren vielversprechend. Alles schien zu passen. Die Frage war nur, ob dies auch für den entscheidenen Moment zutraf. Nikolai war optimistisch. Es mußte einfach klappen.

17
Kuppel
Morgen sollte es nun sein, der Sprung in die Stadt. Laura und Nikolai waren auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Nikolai konnte es sich nicht aussuchen, ihr Weg führte vorbei am IT-Center. Laura hatte die letzten Tage nicht ein einziges Wort über ihre Gedanken bezüglich dieses Gebäudes geäußert. Vielleicht hatte sie ihren Verdacht endgültig begraben. Doch als sie schließlich das Center passierten, ging Laura kurzerhand darauf zu. Er wußte, das dies geschehen würde, dafür kannte er Laura zu lange. Vielleicht liebte er sie gerade deswegen. Weil sie sich nicht so einfach anpaßte, wie die anderen, wie er selbst. Obwohl es ihm überhaupt nicht gefiel, blieb ihm nichts weiter übrig, als Laura zu folgen. „Laura!“ schrie er leise. „Warte! Bleib stehen.“ Dann hatte er sie eingeholt. „Was hast du vor?“ „Ich will es mir aus der Nähe ansehen, Nikolai. Ich will es mir einfach nur ansehen.“ „Warum willst du dich unnötig der Gefahr aussetzen. Ich dachte, wir hätten das geklärt.“ Laura sah ihn trotzig an und sagte: „Für mich ist eben nicht geklärt. Ich habe einen Verdacht. Ich muß einfach.“ Nikolai sah nach oben zum künstlichen Nachthimmel der Kuppel. „Also schön, ich werde dich begleiten. Was soll ich anderes tun?“ „Danke.“ sagte sie und gab ihm einen Kuß. Er streichelte ihre Wange. „Aber keine unsinnigen Aktionen. Versprich es mir.“ „Versprochen.“ Dann gingen sie langsam zum IT-Center.

Es wurde nicht nur von zahlreichen Sicherheitsleuten bewacht. Hohe Mauern zogen sich um das Gebäude, und man konnte sich nur an einer einzigen Stelle Zugang in den inneren Bereich verschaffen. Als Nikolai und Laura das Tor erreichten, erschienen mehrere der Sicherheitsleute. Laura stieß Nikolai leicht. Er nickte leicht mit dem Kopf. Er hatte es gesehen. Sie trugen Waffen. Niemand sonst tat das. Eigentlich dürfte es hier keine Waffen geben. Die Menschen hier verließen sich voll und ganz auf die schützende Kuppel, die sich über das Areal wölbte.

Ein bewaffneter Mann kam auf sie zu. Er hatte seine Waffe auf sie gerichtet. Ein anderer leuchtete sie mit Taschenlampen an. „Das ist Sperrzone.“ sagte der Mann. „Gehen Sie. Sofort!“ Laura ließ sich nicht beeindrucken und zeigte ihm ihre Zugangsberechtigung, die sie von Radon erhalten hatte. „Sie müssen mich und meinen Begleiter durchlassen.“ sagte sie. Nikolai sah sie entsetzt an. Hatte sie ihm nicht gerade versprochen, nichts unsinniges zu tun? Und jetzt das. „Na los, machen Sie das Tor auf!“ forderte Laura. Der Mann lächelte und sagte: „Die Berechtigung gilt hier nicht. Wie ich schon sagte, dies ist Sperrzone, selbst für Radon.“ „Reden Sie keinen Unsinn.“ sagte Laura und schob den Mann einfach zur Seite. Mit sicherem Schritt ging sie auf das Tor zu, vor das sich andere Sicherheitsleute aufstellten. „Laura! Komm zurück!“ rief Nikolai, doch sie schien ihn nicht zu hören. „Besser, Sie hören auf Ihren Freund. Wir wollen von den Waffen kein Gebrauch machen.“ sagte der Mann und um es ihr noch einmal zu verdeutlichen, entsicherte er seine Waffe und zielte auf Laura. „Was machen Sie da, Mann. Sie können Sie doch nicht erschießen.“ herrschte Nikolai ihn an. „Wenn sie mir keine andere Wahl läßt, muß ich meine Befehle befolgen, Sir. Rufen Sie sie zurück.“

Laura war am Tor angekommen. „Laßt mich durch.“ befahl sie. Die anderen zeigten keine Reaktion. Nikolai kam angerannt und zog sie vom Tor weg. „Laß mich los. Was machst du denn?“ schrie Laura. Er hielt sie fest und sagte zu ihr: „Wir gehen jetzt, Laura. Hast du verstanden? Wir werden jetzt gehen. Und keinem wird etwas geschehen.“ Sie wehrte sich, aber Nikolai war zu stark für sie. Als sie sich vom IT-Center entfernt hatten, entspannte sich der Mann wieder. Er gab den anderen das Signal, wieder in den Innenbereich zu gehen. Er selbst ging direkt in das Center, um den Vorfall zu melden. Laura hatte es endlich geschafft, sich von Nikolai loszureißen. Sie standen vor ihrer Wohnung. „Was hast du dir dabei gedacht, mich einfach da wegzuholen, Nikolai?“ Sie sah sehr wütend aus. Nikolai versuchte, ruhig zu bleiben. „Laß uns das drinnen besprechen.“ Er öffnete die Tür und wartete. Laura machte eine verachtende Geste und betrat die Wohnung. Er folgte ihr.

Als er die Tür schloß, drehte er sich zu Laura um und sagte: „Was ich mir dabei gedacht habe? Ich? Ich?“ Er sagte es noch einmal: „Ich?“ Er sah sie kopfschüttelnd an. „Was sollte das denn da eben. Du hättest tot sein können, Laura. Verstehst du? Die hätten dich erschossen, wenn ich dich nicht zurückgehalten hätte. Erschossen! Und mich auch, weil ich mich dann wahrscheinlich auf sie gestürzt hätte.“ Er schlug mit der Faust an die Wand. „Laura, ich möchte nur wissen, was mit dir los ist. Dieses IT-Center, es beherrscht dich mittlerweile.“ „Unsinn!“ wehrte Laura ab. „Es beherrscht mich keineswegs. Ich will nur wissen, was die da drinnen machen. Mehr nicht.“ „Aber... es muß doch noch andere Wege geben, als mir nichts dir nichts einfach dort aufzutauchen und Ärger zu machen. Das kann es doch nicht sein. So bist du doch sonst nicht!“ „Ach laß mich in Ruhe!“ sagte Laura und ging in das Schlafzimmer. Er sah ihr hinterher. Unter diesen Umständen konnte sie ihn morgen nicht in die Stadt begleiten. Zum einen war sie abgelenkt, zum anderen würde sie genau das zu einem Risiko machen. Nikolai überlegte, wie er ihr das am besten beibringen konnte. Er sah auf die Uhr. Noch vierzehn Stunden bis zum Sprung. Es war kurz nach Neun Uhr abends.

Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Sanft glitt er mit seiner Hand über die glatte Tischoberfläche. Laura kam aus dem Schlafzimmer zurück, stellte sich hinter ihn und begann ihm die Schultern zu massieren. „Du wirst mich morgen nicht begleiten können, Laura. Nicht in deinem momentanen Zustand.“ sagte er leise. Sie hielt einen Moment inne, machte dann aber weiter. Er konnte hören, wie Laura leise zu weinen begann. Nikolai stand auf und umarmte sie. Er wußte, daß sie ihn verstehen würde. Und Laura verstand. „Tut mir leid.“ sagte er. „Nein Nikolai, das muß es dir nicht. Ich wäre ein Risiko. Du hast ja gar keine andere Wahl.“ sagte Laura. Sie sah ihn an. „Die hast du nicht, Nikolai.“ „Laura?“ „Ja?“ Er legte ihre Hände in die seinen. Dann schaute er zu Boden uns sagte: „Während meiner Abwesenheit wirst du dich vom IT-Center fernhalten. Ich verlange es nicht von dir. Ich bitte dich darum. Wenn ich wieder zurück bin, wenn die Sache vorbei ist... ich verspreche dir, ich gebe dir mein Wort darauf. Glaube mir. Dann werden wir uns um das IT-Center kümmern, einverstanden?“ Sie sagte nichts. Er berührte ihr Gesicht. Dann sagte er noch einmal: „Einverstanden?“ Laura fiel es schwer, er wußte das, aber schließlich sagte sie: „Einverstanden. Dann machen wir es so.“ „Gut. Danke.“ Dann küßten sie sich und gingen in das Schlafzimmer. Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte Laura: „Besser, du schläfst jetzt, Nikolai.“ Er fuhr mit seiner Hand zärtlich über ihren nackten Körper. „Nein, jetzt noch nicht.“

18
Nordstadt
Chandra war die Nacht bei Sebastian geblieben. Als sie sich an ihn geschmiegt hatte, ihm ihre Gefühle anvertraute, in dem Moment waren sie eine Familie gewesen. Vater und Tochter. Noch während sie darüber nachgedacht hatte, war Chandra eingeschlafen. Später erwachte sie wieder. Sebastian hatte eine Hand auf ihren Rücken gelegt, so als ob er sie beschützen wollte. Darauf bedacht, ihn nicht in seinem Schlaf zu stören, war sie vorsichtig aufgestanden, um sich in den alten Sessel zu setzen. Sie beobachtete ihn. Sein unregelmäßiges Atmen. Das leichte Zittern seiner Hände, selbst im Schlaf. Sie nahm ihr Cape und holte das Geschenk für Sebastian hervor, welches sie auf dem Schwarzmarkt erstanden hatte. Sie stellte es neben den altmodischen Wecker auf die kleine Kommode, die neben dem Bett stand. Die Zeiger des Weckers zeigten Drei Uhr Nachts an. Es war Zeit, zu gehen. Sie zog sich das Cape über. Bevor sie sich den Mundschutz anlegte, gab sie Sebastian einen Kuß auf die Stirn. Dann verließ sie die kleine Wohnung über dem Kino.

Viele Tage waren nun seit dieser Nacht vergangen. Sebastian hatte nichts über ihr Geschenk gesagt. Sie fragte auch nicht danach. Alles verlief so wie früher, langsam kehrte wieder die Normalität zurück. Chandra arbeitete einige Stunden im Kino und Sebastian erzählte ihr von früher. Beide erwähnten nicht mit einer einzigen Silbe den Vorfall mit der Klinik. Chandra wurde auch nicht mehr von den merkwürdigen Anfällen geplagt, vielleicht war es wirklich nur eine Grippe gewesen, wie Loomax es vermutet hatte. Und dann plötzlich, eines Tages, war Chandra verschwunden. Einfach so.

19
Kuppel
Es war soweit. Nikolai und Jean hatten sich in die Schutzanzüge gezwängt und standen nun auf der Plattform des Teleporters. Jean hatte in seinem Rucksack noch einen weiteren Schutzanzug, für die Frau, welche sie nun zu sich holen würden. Radon und der gesamte Rat waren anwesend. Laura war zu Hause geblieben. Nikolai hatte sich mit ihr darauf geeinigt. Jean war überrascht gewesen, als er kurzfristig in das Team rückte, um mit Nikolai zusammen den Sprung in die Stadt zu machen. Aber in Nikolais Augen war Jean der beste Ersatz für Laura. Außerdem war er in das Projekt voll integriert gewesen. Nikolai überprüfte noch einmal seinen Anzug, ob alles luftdicht versiegelt war. Je länger die Prozedur andauerte, um so nervöser wurde er. Die Techniker an der Steuereinheit des Teleporters gaben ihr Okay. Dann wurde der Countdown eingeleitet. Alle verließen die Plattform. Radon hatte beiden zum Abschied die Hand gereicht und ihnen Glück gewünscht. Für ihre Rückkehr konnten sie das gut gebrauchen. Wenn sie nicht genau im Quarantäneraum landeten, würde in der Kuppel eine Katastrophe ausbrechen. „Ganz ruhig.“ sagte Nikolai zu Jean, aber eher zu sich selbst. Der Countdown näherte sich seinem Ende. Nikolai schloß die Augen. Sekunden später wurde die Plattform in ein grelles weißes Licht getaucht. Blitze schossen durch die Luft und ein tiefes Brummen war zu hören. Als das Licht wieder weg war, wurden die Schutzwände heruntergefahren. Als Radon und die anderen durch die Fenster auf die Plattform sahen, befand sich dort keiner mehr. Nikolai und Jean waren weg.

20
Nordstadt
Das letzte, woran sich Nikolai erinnern konnte, war Lauras Gesicht, an das er gedacht hatte, bevor sein Körper in Milliarden von Atomen geteilt wurde, welche durch die Kuppel hindurch zur Nordstadt rasten, um sich an den vorgegebenen Koordinaten zu materialisieren. Er mußte sich erst wieder etwas orientieren. Wo war er? Es gab keinen blauen Himmel, kein Gras. Feiner Ascheregen fiel zu Boden. Er sah verfallene Häuser. Nikolai begriff langsam. „Jean?“ Jemand hustete. Dann hörte er eine vertraute Stimme sagen: „Ich bin hier, Nikolai.“ Jean holte zwei Spritzen aus dem Rucksack. „Ein Mittel gegen die verseuchte Luft. Stoß sie direkt durch den Anzug!“ Beide verabreichten sich das Serum. Sie kamen wieder zu Kräften. „Sieh dir das an, Jean.“ sagte Nikolai. „Wie konnte es nur soweit kommen.“ Sie waren in einem der unbewohnten Teile der Stadt gelandet. Überall standen leerstehende Häuser. „Alle Städte platzen aus den Nähten, und hier ist kein Mensch, kein einziger.“ sagte Jean. „Komm jetzt, wir müssen in das Zentrum. Hast du das Cape und den Mundschutz für mich?“ fragte Nikolai. „Hier.“ Sie mußten so unauffällig wie möglich wirken. Jean packte die Verpackung der Spritzen und Kleidung wieder in seinen Rucksack. Sie durften keine Spuren hinterlassen. Dann machten Nikolai und Jean sich auf den Weg in das Zentrum der Nordstadt.

Unterwegs unterhielten sie sich. „War das dein erster Sprung, Jean?“ „Ja.“ „Meiner auch. Es hat sich so seltsam angefühlt. Die Ärzte hatten es erwähnt, aber trotzdem.“ „Ja, ich glaube, man kann einen Menschen nicht auf einen Sprung vorbereiten.“ „Wie meinst du das?“ „All die Theorie mag ja schön und gut sein, aber es am eigenen Leib zu erfahren, es ist ein sehr großer Unterschied.“ Sie hatten bewohntes Gebiet erreicht. Nikolai blieb stehen und hielt Jean fest. „Da, ein Stadtmensch.“ Sie sahen eine alte Frau, die sich mit Unterstützung einer verrosteten Gehhilfe mühsam über die Straße quälte. „Sollen wir ihr helfen?“ fragte Jean. „Nein, keiner würde das hier tun. Es würde nur unnötig auffallen.“ erwiederte Nikolai. Sie gingen weiter.

Je näher sie dem Zentrum kamen, um so mehr Menschen waren auf den Straßen. Nikolai gab sich große Mühe, gleichgültig zu wirken, als sie an Leichen vorbeigingen. Menschen dabei zusehen mußten, wie sie andere Menschen brutal überfielen. Und über allem lag diese verseuchte Luft, voll mit der Asche von verbrannten Menschen. „Mir wird schlecht, Nikolai!“ keuchte Jean und blieb stehen. Nikolai zog ihn in eine der Nebenstraßen. „Was ist los?“ „Das ist zuviel für mich, damit habe ich nicht gerechnet.“ „Ja.“ sagte Nikolai. „Das hat keiner.“ Während Jean ein Mittel gegen Übelkeit aus dem Rucksack holte, ging Nikolai wieder zurück zu der Hauptstraße. Es war entsetzlich. Auch er hatte den verwesten Leichnam gesehen, wie Jean. Doch er schien es besser zu verkraften als sein Freund. Unvorstellbar, daß es hier mal Leben gab, richtiges Leben, frei von Krankheiten und katastrophalen Zuständen. Er sehnte sich zurück in die Kuppel. Als Nikolai so auf der Straße stand, um ihn herum eine einzige Trostlosigkeit herrschte, wollte er nur noch zurück nach Hause zu Laura, sie umarmen, sie festhalten, sie bei sich spüren. Erst seit einigen Stunden war er in der Stadt. Er wußte bereits jetzt, daß er Wochen brauchen würde, um diese Erfahrungen verdrängen zu können.

Jean berührte ihn leicht am Arm und sagte: „Alles wieder in Ordnung. Wir können weiter.“ Nikolai nickte und sagte: „Ja, laß uns weitergehen.“ Die Wolkenkratzer waren aus der Ferne schon beeindruckend gewesen, aber als sie das Zentrum erreicht hatten, kam es Nikolai und Jean vor, als ob die riesigen Häuser direkt bis zum dunklen Himmel reichen würden. Dann hatten sie endlich ihr Ziel erreicht. „Ist es das Haus?“ „Ja.“ sagte Nikolai und öffnete die Eingangstür. Die Fahrstühle waren außer Betrieb. Jean stöhnte. „Vierzig Stockwerke, Nikolai! Zu Fuß!“ „Komm schon.“ sagte dieser und stieg die Treppe rauf. Es war dunkel, das Licht funktionierte nicht, aber man hatte an alles gedacht. Vorsichtig leuchteten sie mit den Taschenlampen auf die vor ihnen liegenden Stufen der Treppe. Man konnte schließlich nie wissen. „Wie heißt die Frau eigentlich?“ „Das weiß ich nicht, Jean. Keine Ahnung.“ „Und woher wissen wir, welche Wohnung es ist?“ „Jede Kamera, die sich in einer Wohnung befindet, hat die gleiche Bezeichnung wie die Wohnung. Zumindest das wissen wir. Noch weitere Fragen?“ Jean sagte nichts. Schweigend stiegen sie Stufe um Stufe hinauf in den vierzigsten Stock. Kein Mensch lief ihnen im Treppenhaus über den Weg. Wenn nicht der Lärm aus den Wohnungen zu hören gewesen wäre, man hätte denken können, daß das Haus menschenleer war.

Dann standen sie vor der Tür. „Vierzig Zehn Neunzehn.“ sagte Nikolai. „Wir sind da.“ „Was jetzt?“ Nikolai wies Jean an, ruhig zu sein. Einen kleinen Moment zögerte er, aber dann klopfte er an die Tür. Nichts geschah. „Und wenn sie gar nicht da ist?“ fragte Jean leise. Das konnte unmöglich sein, sie hatten die Wohnung die letzten Tage ununterbrochen mit der Kamera überprüft. Die Frau mußte da sein. Nikolai sah auf seine Uhr. „Es ist noch viel zu früh für sie, sie kann noch nicht weggegangen sein, wie sie es jeden Abend macht.“ Er klopfte erneut. Wieder folgte keine Reaktion. „Schläft sie?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Und wenn sie tot ist?“ fragte Jean. Nikolai dachte nach. Die Möglichkeit war durchaus vorhanden. In den paar Stunden, die sie hier waren, konnte viel passieren. „Also gut.“ sagte Nikolai. „Dann gehen wir jetzt rein.“ Er holte ein kleines Gerät unter seinem Cape hervor und hielt es an das Türschloß. Ein hoher Piepton war zu hören, und mit einem leichten Knarren öffnete sich die Tür. Sie betraten die Wohnung. Bevor Jean die Tür schloß, sah er noch einmal in den Flur, um sich zu vergewissern, daß sie keiner gesehen hatte. Die Frau war nicht anwesend. „Was jetzt?“ fragte Jean. „Wir werden warten.“ sagte Nikolai. „Irgendwann muß sie ja auftauchen.“

Nikolai hoffte inständig, daß die Frau noch lebte, und nur etwas von ihren täglichen Gewohnheiten abgewichen war. All die Bemühungen, die ganzen Anstrengungen wären umsonst gewesen. Und er müßte jetzt nicht in einer kleinen schäbigen Wohnung inmitten des unerträglichen Lärmes auf einen Menschen warten, der ihnen womöglich noch nicht einmal nützlich sein würde. Alles beruhte auf seine Vermutungen. Wie würde Radon, würde der Rat reagieren, wenn sich sein Plan als Fehlschlag erwies? „Es ist unglaublich.“ unterbrach ihn Jean bei seinen Überlegungen. „Was?“ „Wir befinden uns im vierzigsten Stock eines gigantischen Hochhauses. Und trotzdem kann man den Lärm noch immer hören.“ „Ja Jean, es ist eine laute, verseuchte und brutale Stadt.“ Die Sirenen der Polizeiwagen schienen überall zu sein. Schüsse fielen, Schreie waren zu hören. „Ich weiß nicht, ob ich es hier lange aushalten könnte.“ sagte Nikolai. Sie hörten ein Geräusch. Sie sahen zur Tür. Diese öffnete sich und jemand betrat den Raum. Es war die gesuchte Frau.

21
Nordstadt
Für Norman Loomax war die ohnehin schon kaputte Welt ein kleines Stückchen weiter zusammengefallen, als man ihm die Zulassung entzog, als Arzt weiterhin tätig zu sein. Damals, vor zehn Jahren begannen die Massenentlassungen in den Krankenhäusern. Und schon bald gab es nur noch die Kliniken und Verbrennungsanlagen für diejenigen, die der Krankheit zum Opfer gefallen waren. An diesem Morgen war Loomax früh aufgestanden. Er wußte nicht warum, aber seit Chandra ihn das erste Mal um Hilfe gebeten, ihn auf die Desinfektion aufmerksam gemacht hatte, seit diesem Tag benutzte er täglich die Maschine. Auch wenn es albern war, so gab es ihm wenigstens das Gefühl, das die Desinfektion seiner Kleidung doch irgendwie einen Sinn ergab. Funktionalität der Ventilatoren und Luftschächte hin oder her. Er tat es einfach. Und woran er selbst nicht mehr geglaubt hatte, sein Interesse für die Medizin war wieder erwacht.

Er hatte sämtliche Bücher nach Hinweisen für Chandras Anfälle durchsucht. Aber stets blieb es bei seiner ersten Einschätzung. Grippe. Aber die war höchst selten. Als er noch Arzt war, gab es vielleicht ein oder zwei Fälle pro Jahr, praktisch gar nicht. Und jetzt, zehn Jahre später? Es konnte keine Grippe sein, irgendetwas anderes, aber keine Grippe. Loomax hatte einen Zettel an Chandras Wohnungstür befestigt, mit der Bitte, sie noch einmal untersuchen zu dürfen. Er hatte an ihre Tür geklopft, aber entweder war sie nicht da oder Chandra wollte sie einfach nicht öffnen. Er hatte diesen Jungen getroffen, der im Treppenhaus herumlungerte. Loomax überlegte ein wenig, wie hieß der Bengel noch? Lubber? Der Junge hatte ihm einiges über Chandra erzählt. Daß sie ein nettes Mädchen war, immer freundlich zu Lubber sei. Loomax war davon völlig überzeugt. Ihre Art, wie Chandra sich gab, in der Tat, seit langer Zeit hatte niemand mehr so mit ihm gesprochen.

Er war auf dem Weg zu Chandras Wohnung. Sie hatte immer noch nicht reagiert. Aber vielleicht hatte auch nur irgendeiner den Zettel entfernt, und Chandra wußte gar nicht, daß er versucht hatte, sie zu erreichen. Loomax hielt sich am Geländer der Treppe fest, jeder Schritt schmerzte. Als er endlich den vierzigsten Stock erreicht hatte, hörte er aus Chandras Wohnung Lärm. Es war kein gewöhnlicher Lärm, wie es ihn jeden Tag gab, egal, wo man sich gerade aufhielt. Loomax hörte aufgeregte Stimmen. Dann plötzlich schrie Chandra. Loomax hämmerte gegen die Tür. „Chandra! Chandra, ich bin es, Loomax!“ Er hörte, wie sie nach ihm schrie. „Loomax, helfen Sie mir.“ Loomax war verzweifelt. Er bekam die Tür nicht auf. Dann wurde es plötzlich still. Er hörte weder Chandra, noch die anderen, die bei ihr waren. Nein, dachte Loomax. Sie haben sie umgebracht.

Noch während er darüber nachdachte, schossen vier Gestalten direkt aus der Wand in den Flur. Loomax wurde an die Tür gedrückt. Fassungslos und starr vor Angst sah er, wie die vier Erscheinungen mühelos über den Boden schwebten. Sie flackerten, als ob sie Hologramme wären. Loomax Herz raste, er spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Eine der Gestalten schien ihn direkt anzusehen. Es war ein Mensch, die Gestalt sah aus wie Chandra! Loomax versuchte, seine Augen zu schließen. Er wollte nur noch weg, weg von diesem Alptraum. Aber er konnte nicht. Er stand zitternd an der Tür zu Chandras Wohnung. Und dann waren sie weg.

Der Hausflur war wieder leer. Der allgegenwärtige Lärm war wieder zu hören. Die ganze Zeit lang war es still gewesen. Loomax schrie auf und rutschte zu Boden. Er zitterte noch immer. Er wußte nicht, warum er diesen Anfall bekommen hatte. Aber er schien sich so abgespielt zu haben, wie Chandra es beschrieben hatte. Unerwartet, ganz plötzlich. Er lehnte sich zurück. Er hatte nicht die Kraft aufzustehen. Er bekam kaum Luft. Er fühlte, wie Schweiß sich in seinem Mundschutz sammelte. Loomax hustete. Ein letztes Mal versuchte er an Chandras Wohnungstür zu klopfen. Aber er war so schwach, daß er nicht einmal den Arm heben konnte. „Chandra.“ flüsterte Loomax. „Tut mir... tut mir leid.“ Sein Mundschutz fiel ihm vom Gesicht. Sein Leben lief vor ihm ab. Es war ein sinnloses Leben gewesen. Ohne Zukunft. Und jetzt würde er hier elendig sterben. Vor der Wohnungstür einer jungen Frau, die er kaum kannte, ihn aber um Hilfe gebeten hatte. „Tut mir leid.“ flüsterte er noch einmal. Dann war Norman Loomax tot.

22
Kuppel
Völlig erschöpft lagen Nikolai und Jean im Quarantänebereich. Der Sprung war perfekt gewesen, die Koordinaten waren exakt berechnet worden. Nur eine einzige Sache störte. „Wo ist sie?“ wurde Nikolai von einem der bereitstehenden Mediziner gefragt. „Nikolai, verstehen Sie mich? Wo ist die Frau?“ Einige Pfleger wollten ihm auf die Beine stellen. „Nein!“ wehrte Nikolai ab und deutete zu Jean. „Kümmert euch erst um ihn.“ Jean lag noch immer bewußtlos auf den Boden. Sein Anzug war an der Seite aufgerissen worden, Blut kam zum Vorschein. Jean wurde auf eine Trage gelegt und aus dem Raum gebracht. „Er wird versorgt, Nikolai.“ „Gut.“ sagte Nikolai und stand aus eigener Kraft auf. „Ich muß sofort mit Radon sprechen.“ „Wollen Sie mir nicht zuerst sagen, was passiert ist?“ „Ich kann es mir ja nicht einmal selbst erklären.“

Nikolai rieb sich die Augen. Dann fragte er: „Hat sich während unserer Abwesenheit ein Sprung ereignet?“ „Nein. Radon hatte es untersagt.“ „Nicht einmal ein ungenehmigter?“ „Nikolai, was ist passiert?“ „Offenbar sind wir nicht die einzigen gewesen, die diese Frau zu sich holen wollten.“ Nikolai schüttelte den Kopf. „Ich muß jetzt... sofort... zu Radon.“ Es war abzusehen, was nun folgte. Seine Stimme war immer schwächer geworden. Nikolai wurde ohnmächtig und fiel um. „Verständigen Sie Laura Antoine. Sie soll zur Krankenstation kommen.“ wies der Mediziner einen der Pfleger an. „Und geben Sie Radon Bescheid, daß die Mission offenbar gescheitert ist.“ Sie legten Nikolai ebenfalls auf eine Trage und verließen den Quarantänebereich.

Am Nachmittag befanden sich Laura und Radon bei Nikolai in dessen Krankenzimmer. „Jean?“ „Ist außer Lebensgefahr.“ sagte Radon. „Wer hat ihm das angetan, Nikolai?“ fragte Laura. „Ich weiß es nicht.“ sagte Nikolai. „Wir befanden uns in der Wohnung der Frau. Sie war nicht da, also warteten wir. Dann tauchte sie auf. Es ging ziemlich schnell. Jean spritzte ihr das Serum. Wir machten sie für den Sprung fertig. Doch als ich das Signal auslösen wollte, erschien plötzlich eine vierte Person wie aus dem Nichts.“ „War es ein Mensch?“ fragte Radon. „Schwer zu sagen. Ich denke schon. Dieser... Mensch griff sofort Jean an. Dieses Wesen... dieser Mensch hatte Klauen, die mühelos Jeans Anzug zerrissen und ihn verletzten. Bevor ich reagieren konnte, packte es... er sich die Frau und verschwand. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit Jean ebenfalls wieder den Sprung zu vollziehen.“

Nikolai richtete sich etwas auf. Er sah Laura an. „Das ist alles viel zu schnell gegangen.“ Radon verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Nun, ein ungenehmigter Sprung ist heute nicht registriert worden, Nikolai. Daher gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, die haben es geschafft, diese Sprünge mittlerweile vor uns zu verbergen. Oder... aber das kann nicht sein.“ „Oder was?“ fragte Laura. Radon holte tief Luft und sagte leise: „Oder jemand anderes ist hier am Werke. Keiner von den Menschen. Keiner von denen, welche die ungenehmigten Sprünge zu verantworten haben. Keiner von uns. Sondern jemand oder etwas völlig Neues. Um dies herauszufinden müssen wir endlich die finden, die uns das Leben mit diesen Sprüngen schwer machen. Um die Frau kümmern wir uns später, wenn sie nicht schon tot ist.“ „Radon, dürfte ich mich dazu äußern?“ Nikolai wußte, was jetzt kommen würde. Aber er hinderte Laura nicht daran. Vielleicht hatte sie ja doch Recht. „Nur zu, Laura. Sprechen Sie.“ sagte Radon. Als Laura ihm ihre Vermutung erläuterte, nickte Radon. Laura hatte Nikolais Hand umklammert. Dann sagte Radon: „Warum nicht? Sie und ich, Laura, wir werden dem IT-Center einen Besuch abstatten.“ Laura nickte und gab Nikolai einen Kuß. „Wenn ich wieder da bin, erzähle ich dir alles, ja?“ Nikolai lächelte. „Ich werde dann immer noch hier sein.“sagte er. Laura und Radon verließen das Zimmer.

23
Hinter dem Nebel - Tag 1
Das erste, was Chandra spürte, als sie aufwachte, war diese unheimliche Stille. Kein Lärm von Polizeisirenen, keine Schüsse und Schreie. Sie hörte nur sich selbst. Wie sie atmete. Wie ihr Herz schlug. Da waren diese zwei Männer gewesen, die sie in den Anzug gezwängt, ihr gewaltsam diese Spritze verabreicht hatten. Und dann plötzlich dieser andere. Die Dunkelheit, dieses Nichts, als sie durch den leeren Raum gerast war. Und jetzt? Wo befand sie sich jetzt? Chandra sah einen blauen Himmel. „Er ist blau.“ flüsterte sie leise. „Ja, das ist er. Gefällt er dir?“ sagte eine Stimme. Chandra war zwar überrascht, aber sie blieb ruhig. Die Stimme kam von überall. „Gefällt er dir?“ fragte die Stimme erneut. „Ja. Sehr sogar.“ sagte Chandra. Sie sah immer noch nach oben zu dem blauen, wunderschönen Himmel. „Und wo bin ich?“ fragte sie. Sie erhielt keine Antwort. Statt dessen verfärbte sich plötzlich das prächtige Blau des Himmels in ein dunkles, schmutziges Grau und die Stimme sagte: „Steh jetzt auf.“ Obwohl sie sich sträubte, folgte Chandra der Aufforderung. Sie sah keines der riesigen Hochhäuser, also konnte sie auch in keiner Stadt sein. Vor ihr erstreckte sich eine mit dunklem Sand bedeckte Ebene. Nebel umgab sie. Ab und zu ließen Windböen kleine Sandstürme entstehen, nur für wenige Sekunden. Chandra wußte nicht warum, aber sie empfand eine innere Ruhe. Einen inneren Frieden. Wie in dem Moment, wenn die Sonne die Stadt am frühen Morgen erhellte. „Ich bin im Nichts.“ sagte sie. „Nein.“ entgegnete ihr die Stimme. „Nein, du bist hinter dem Nebel.“ Chandra nickte und lächelte. „Und wie lange werde ich hier bleiben?“ „Bist du bereit bist für das, wofür du bestimmt bist.“ sagte die Stimme. „Bis ich bereit bin?“ „Ja. Und wir haben nicht viel Zeit. Jetzt wissen sie von uns. Sie werden versuchen, uns ausfindig zu machen, zu töten.“ Dann wurde es wieder still. Sie sah eine Hand, die ihren Arm berührte. Eher eine Klaue. Wie die eines Tieres.

24
Kuppel
Der Rat hatte sich versammelt. Es gab wichtiges zu bereden. Der Ausbau der Kamerasysteme in den Städten. Die Steigerung der Todesrate in den letzten Wochen. Besondere Priorität jedoch hatte die Aufdeckung und Zerschlagung der Verschwörer im IT-Center. Barrel, einer der Ratsmitglieder, stand auf und sagte: „Ich muß nicht erwähnen, wie nahe wir dem Abgrund waren. Aber wie konnte dies geschehen? Wie war es den Verschwörern möglich, wochenlang unser System zu sabotieren?“ Radon nickte. „Eine gute Frage, Barrel.“ sagte er. „Ich muß eingestehen, daß es meine Schuld war. Ich hätte von Anfang an alles was die Kuppel betrifft nicht aus der Hand geben dürfen. Es schmerzt, von einem Freund hintergangen worden zu sein. Flex war der Leiter des IT-Centers. Er bat mich damals, das Center unabhängig vom Rat zu lassen. Es war wohl sein Forscherdrang, der ihn dazu trieb. Und ich alter Narr habe zugestimmt. Flex bekam freie Hand. Keiner seiner Mitarbeiter war irgendeiner Behörde, geschweige denn dem Rat Rechenschaft schuldig. Wie hätte ich, oder einer von Ihnen, ahnen können, daß sie gegen uns konspirieren würden.“

Radon ging an das Fenster und sah hinaus, wie er es oft tat, wenn sie sich versammelten. „Weiß man inzwischen, um wen es sich bei dieser dritten Macht handelt?“ fragte jemand. „Nein, die Verhöre haben noch nicht fruchten können. Alles was sie sagen ist, daß sie im Auftrag der dritten Macht gehandelt haben. Dritte Macht. Diese Bezeichnung klingt furchterregend, nicht wahr?“ Keiner antwortete. Radon drehte sich um. Es war wie immer, sie hatten Angst vor ihm. Und jetzt war es schlimmer geworden. Er hätte diesen Fehler nie begehen dürfen. Er räusperte sich. „Es kursieren Gerüchte. Schauergeschichten über die dritte Macht.“ sagte er. „Die Sprünge haben aufgehört. Die Gerüchte müssen das auch. Lassen Sie uns alles tun, um wieder Normalität in unsere Gesellschaft zu bringen.“ Dann beendete er die Versammlung. Radon ließ Flex zu sich bringen.

Da saß er nun vor ihm, der Mann, der einmal sein bester Freund gewesen war. Die Verhöre hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. „Hat man dich gut behandelt?“ fragte Radon. Flex lachte verächtlich und sagte: „Du selbst hast doch die Art der Verhöre angeordnet. Also spar dir dein Mitgefühl.“ Radon nickte. „Also gut, Flex. Kommen wir gleich zur Sache. Die dritte Macht. Wer steckt dahinter?“ Flex spuckte auf den Boden. Der Blick, mit dem er Radon ansah, war voller Hass. „Ich warte, Flex.“ sagte Radon. „Wenn du einsichtig bist, mit mir kooperierst, Flex, dann wird das hier schnell vorbei sein.“ „Das ist es so oder so.“ „Wie meinst du das?“ „Du kannst sie nicht mehr aufhalten, Radon. Dafür ist es zu spät.“ Flex fing an zu lachen. „Und weißt du, was das Beste daran ist?“ „Nein, Flex.“ „Du hast es ermöglicht, Radon. Du und deine Kuppel, dein Versuch, dich vor den Menschen da draußen zu verstecken. Erinnerst du dich noch an damals? Wir beide waren in der Forschung tätig. Weißt du noch? Deine Bemühungen, Aids zu bekämpfen? Du hattest hohe Ziele. Aber dennoch bist du kläglich gescheitert. Vergiß nie, wem die Menschen diese Krankheit zu verdanken haben, Radon. Vergiß das nie!“

Radon schlug Flex ins Gesicht. „Sei ruhig, Flex. Das ist Vergangenheit.“ „Ist es das, ja? Warum ist das überhaupt passiert, hm? Warum habe ich mich darauf eingelassen? Diese Kuppel zu errichten? Mich in ihr zu verstecken?“ „Auch du hast davon profitiert, Flex. Auch du.“ „Ja, das habe ich. Und ich bereue jeden verdammten Tag, den ich hier in der Kuppel verbracht habe. Aber wie ich schon sagte, Radon. Du kannst sie nicht mehr aufhalten. Sie werden kommen. Und sie werden zerstören, was du erschaffen hast.“ „Wer? Diese dritte Macht?“ „Ja, Radon. Die dritte Macht.“ „Dann sag mir endlich, wer dahintersteckt, Flex.“ „Ich kann dir nur sagen, was ich weiß. Wir haben die Sprünge gemacht, um von den anderen abzulenken. Ihr habt eure gesamte Aufmerksamkeit nur unseren Sprüngen gewidmet, dabei die wesentlichen jedoch übersehen. Glaubst du wirklich, du warst der einzige, der Schutz gefunden hatte vor der Krankheit, die wir erschaffen haben?“ Flex lachte wieder.

Radon sah ihn fassungslos an. „Es gibt eine zweite Kuppel?“ Er erhielt keine Antwort. „Flex!“ Aber Flex lachte nur noch lauter. „Du wirst es mir nicht sagen, hm?“ fragte Radon. „Vielleicht wird es von den anderen einer, wenn ich mit denen fertig bin. Was dich betrifft, Flex, so wirst du in eine der Städte verbannt. Du wirst Zeit genug haben, darüber nachzudenken, was ihr uns angetan habt.“ Flex hatte aufgehört zu lachen. „Du wirst mich wiedersehen, Radon.“ sagte er. „Und ich danke dir, wenigstens bin ich dann frei.“ „So, bist du das dann, ja?“ Radon lächelte. „In der Tat. Gewissermaßen bist du frei, jedoch nur für eine kurze Zeit.“ „Wegen der Stadt? Davor habe ich keine Angst. Das einzige, was mir Grund zur Furcht gibt ist, daß ich den Augenblick nicht mehr erleben werde, wenn deine Kuppel zerstört wird, und ihr euch der Realität stellen müßt.“ „Dieser Augenblick wird niemals geschehen.“ sagte Radon. „Niemals! Das werde ich nicht zulassen. Koste es, was es wolle.“ „Du würdest den Tod deiner eigenen Tochter in Kauf nehmen?“ Flex schüttelte den Kopf. Dann sagte er: „All die Jahre habe ich versucht mir einzureden, daß du trotz deiner Schuld im Innersten so etwas wie Reue empfindest. Aber mir ist klar geworden, daß du ein Monster geworden bist. Ohne Herz, und ohne Gewissen. Du kannst mich nach draußen schicken, aber du kannst nicht verhindern, daß sie kommen werden. Das kannst du nicht, Radon. Und jetzt tu, was du tun mußt, alter Freund.“ Er reichte Radon seine Hand. Dieser jedoch lehnte die Geste von Flex ab. Radon sagte kühl: „In wenigen Stunden wirst du erkennen, wie die wirkliche Realität aussieht.“

25
Nordstadt
Als die letzten Besucher das kleine Kino verlassen hatten, schloß Sebastian die Türen ab, machte das Licht im Saal und Foyer aus und ging nach oben in seine kleine Wohnung. Er hatte sich damit abgefunden, daß Chandra nun nicht mehr da war. Fast ein Jahr war es her, daß Chandra das letzte Mal im Kino gewesen war, kurz nachdem er beinahe in der Klinik gestorben wäre. Ihr Verschwinden war ein Rätsel. Für Sebastian ergab dies alles keinen Sinn. Dieser Leichnam vor Chandras Wohnung, ein Mann namens Norman Loomax, was hatte er da zu suchen? Kannte Chandra den Mann? Sebastian hatte herausgefunden, daß Loomax früher Arzt gewesen war. Hatte Chandra Loomax um Rat gefragt, was ihre merkwürdigen Anfälle betraf?

Sebastian holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Er hatte wieder mit dem Trinken angefangen. Er hasste sich dafür. Seit Jahren hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt, aber irgendwie konnte er anders nicht mehr sein tägliches Dasein akzeptieren. Er lebte immer noch. Sicher, er hätte in eine der Kliniken gehen können, aber Sebastian hatte zu große Angst. Wie er es schaffte, das Kino überhaupt noch einigermaßen zu betreiben, wußte er selbst nicht. Nur eines war wichtig. Nämlich, daß Chandra verschwunden war, einfach so. Oft dachte er daran, daß sie ermordet worden war. Sebastian schaute auf die Uhr. Es war spät geworden. Neben der Uhr stand das Geschenk, welches er von Chandra bekommen hatte. Er nahm es in seine Hand und setzte sich in den alten Sessel. „Du weißt nicht, wie glücklich du mich gemacht hast, Chandra.“ sagte er leise. Er wollte sich erst gar nicht vorstellen, wieviel Chandra dafür eingetauscht hatte. Was zählte war, daß dieses äußerst wertvolle Geschenk ihn jeden Tag auf das Neue an Chandra erinnerte. Er nahm einen Schluck aus der Flasche. Er dachte oft an sie. Er vermisste Chandra. Die Gespräche, die sie geführt hatten. Ihre Art, einfach alles. Wie so oft, wenn er sich Gedanken über sie machte, fing er an zu weinen. Kein normales Weinen. Eher ein Weinen, als wenn ein Vater sein Kind verloren hatte. Irgendwann schlief er endlich ein. Die leeren Flaschen stapelten sich mittlerweile in der Wohnung.

26
Nordstadt
Er stand vor Chandras Wohnung. Vorsichtig klopfte er an die Tür. „Es ist offen.“ rief eine Stimme. Sebastian machte die Tür auf und betrat die Wohnung. „Hallo Sebastian.“ sagte Chandra. Sie kam auf ihn zu und umarmte ihn. „Wie geht es dir?“ fragte er. „Gut, danke.“ sagte sie. Beide setzten sich auf das Bett. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ sagte er und gab ihr ein Buch. „Träumen Androiden von elektrischen Schafen?“ sagte Chandra. „Es ist ein gutes Buch.“ sagte Sebastian. Chandra nickte. „Ja, wenn du es sagst.“ Sie stand auf. „Gehen wir spazieren?“ fragte sie. „Ja, eine gute Idee.“ Sie verließen die Wohnung und fuhren mit einem der Fahrstühle nach unten.

Als sie schließlich im Freien standen, sagte Chandra: „Wunderschön, nicht wahr?“ Sebastian nickte. „Ja, es ist herrlich.“ Sie standen auf einem Steg, an dem ein kleines Boot lag. Am Ende des Stegs setzten sie sich. „Kristallklar.“ sagte Sebastian. „Möchte jemand Wein?“ sagte eine Stimme hinter ihnen. Es war Sebastians Frau. Sie gab Chandra und ihm ein Glas. „Ein guter Jahrgang.“ sagte sie. Chandra fing an zu lachen. Sebastian sah sie fragend an. „Ach nichts.“ sagte Chandra. Sebastians Frau hatte sich ebenfalls gesetzt. „Seht.“ sagte sie. „Die Sonne geht unter.“ „Ich bin froh, euch beide bei mir zu haben.“ sagte Sebastian und sah nach oben. Die ersten Sterne waren zu sehen. „Es macht mich glücklich.“ Sebastian gab seiner Frau einen zarten Kuß. „Ich liebe dich.“ sagte er. Seine Frau fuhr ihm durch sein graues Haar. „Ich weiß.“ sagte sie. Über ihnen schoss eine Sternschnuppe über den klaren Nachthimmel. Und dann, wie es jedes Mal in diesem Traum war, dann erschienen die anderen. Sie kamen aus dem Wasser direkt auf sie zu. Und jedes Mal töteten sie Sebastians Frau und Chandra. Und jedes Mal, wenn Sebastian versuchte, es zu verhindern, wachte er auf.

Sebastian saß noch immer in dem Sessel. Er hatte furchtbare Kopfschmerzen. Dieser Traum, er hatte ihn immer häufiger in den letzten Wochen. „Das ist doch alles Scheiße.“ sagte Sebastian zu sich. Er schleppte sich zum Kühlschrank. Er hatte kein Bier mehr da, geschweige denn Schnaps. Zuerst dieses merkwürdige Beben anfang der Woche, dieses seltsame Licht, was er und die anderen Menschen in der Stadt in weiter Ferne gesehen hatte, die Druckwelle. Und jetzt das. „Scheiße.“ sagte er noch einmal. Neben dem Kühlschrank auf dem kleinen Tisch lag ein Messer. Sebastian nahm es und ging wieder zurück in das Wohnzimmer. Seine Angst war weg. Vielleicht war er auch zu betrunken. Aber plötzlich hatte er dieses Verlangen. Einfach Schluß zu machen. Es gab einfach nichts mehr, wofür er noch leben sollte. Er setzte das Messer an die Pulsader seiner linken Hand und schloß die Augen. Jetzt, in diesem Moment würde er sich das Leben nehmen. Er holte tief Luft. Er war bereit. Und dann klopfte plötzlich jemand an seine Tür.

27
Hinter dem Nebel - Tag 23
Jeder neue Tag, den Chandra in ihrer neuen Heimat erleben durfte, brachte sie immer und immer wieder ins Staunen. Sie hatte sich nie vorstellen können, daß Menschen fähig waren, so ein Bauwerk zu errichten. Die Kuppel hatte eine enorme Größe. Sie erinnerte sich an den ersten Tag, als sie mit ihrem Begleiter in der mit dunklem Sand bedeckten Ebene stand und er ihr gesagt hatte, daß sie sich nun hinter dem Nebel befand. Die Tarnvorrichtung war perfekt. Den Menschen in den Städten war diese Gegend als Nebelland bekannt, da das ganze Jahr über dichter grauer Nebel die Ebene umgab. Von außen betrachtet würde keiner vermuten, daß hier Menschen leben konnten, keiner. Fast einen Monat war Chandra nun schon hier. Sie hatte erst wenige der hier lebenden Menschen kennengelernt. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Gabrielle Sybex, welche ihr zur Betreuung und Eingewöhnung zugeteilt worden war. Gabrielle holte sie jeden Morgen aus dem luxuriösen Apartment ab, das man Chandra gegeben hatte. Sie hatte sich immer noch nicht an das bequeme Bett und das viele Licht gewöhnt. Das Einschlafen fiel ihr schwer. Chandra hatte sich eingestehen müssen, daß sie den Lärm vermisste. Stets hatte sie ihn verflucht, und nun, da er nicht mehr da war... Am meisten jedoch bedauerte Chandra, ihren Freund Sebastian nicht bei sich zu haben. Sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschieden können. Ob es ihm gut ging? Oder war er bereits tot? Keiner hier in der Kuppel konnte oder wollte ihr darüber Auskunft geben. Immer, wenn Chandra das Thema Nordstadt ansprach, wirkte selbst Gabrielle ihr gegenüber verschlossen, als ob es verboten war, über das zu reden, was sich außerhalb der Kuppel tat.

Ein leises Summen ertönte. Gabrielle war da, um sie abzuholen. Chandra nahm den kleinen Rucksack, den sie bekommen hatte, ging zur Tür und machte auf. „Guten Morgen, Chandra.“ sagte Gabrielle. „Wie geht es dir? Hattest du eine angenehme Nacht?“ Chandra verzog leicht das Gesicht und sagte: „Hallo Gabrielle. Ich glaube, ich brauche noch ein wenig, um mich an die Stille zu gewöhnen.“ „Auch das wird dir gelingen, Chandra.“ sagte Gabrielle. „Ja, möglich.“ sagte Chandra. Ihr war aufgefallen, daß Gabrielle darauf aus war, ihre Worte wohl überlegt zu wählen. Ihre Sprechweise wirkte daher etwas steif, aber es störte Chandra nicht weiter. Es war nur ein wenig gewöhnungsbedürftig. „Und? Was machen wir heute?“ fragte Chandra. „Du hast erst einen kleinen Teil der Kuppel seit deiner Ankunft kennengelernt, Chandra. Daher schlage ich vor, dich mit dem ganzen Komplex vertraut zu machen, bevor du dich deiner eigentlichen Aufgabe widmest, deinem Grund, hier bei uns zu sein.“ „Oh ja, meine Bestimmung. Das hat Zander bereits gesagt, als er mich aus der Stadt geholt hat.“ Gabrielle sagte nichts. Wie jeden Morgen versuchte Chandra, sie in ein Gespräch zu verwickeln, was ihr Hiersein betraf. „Und die anderen beiden Typen bei mir in der Wohnung? Gehören die auch zu euch?“ Und wie jeden Morgen schwieg Gabrielle. Es war zwecklos.

Also stellte Chandra keine Fragen mehr. Keine Fragen über die klauenartigen Hände von Zander. Keine Fragen darüber, warum Zander die beiden anderen Männer angegriffen hatte, bevor er schließlich mit ihr durch den Raum gerast war. Sie betraten das Freie. „Entschuldigst du mich bitte?“ sagte Chandra und ging zu einer der Grünflächen, die es hier zu Dutzenden gab. Gabrielle blieb stehen und wartete geduldig, als Chandra sich auf den Rasen kniete und mit ihrer Hand sanft über das Gras glitt. Es ist wie in meinem Traum, dachte Chandra, nur das es hier mein anderes Ich nicht gibt. Sie lächelte zufrieden und stand wieder auf. „Danke.“ sagte sie zu Gabrielle. „Keine Ursache. Ich kann es nachempfinden. Es muß dich sehr glücklich machen.“ „Ja. Das hier ist nicht die Nordstadt, oder eine der anderen. Das hier ist fast wie das Paradies. Ein blauer Himmel, auch wenn er künstlich ist. Das Gras, die Blumen... die Luft. Es ist ganz anders als in den Städten.“ sagte Chandra. Sie gingen weiter.

„Darf ich dir eine Frage stellen, Chandra?“ „Natürlich.“ „Es betrifft... die Stadt.“ Gabrielle war stehengeblieben. Chandra sah die Frau an. Noch nie, seit sie Gabrielle kannte, hatte diese sie irgendwas über die Städte gefragt. „Gabrielle?“ „Wie ist das, wenn man ohne Mutter, ohne Vater aufwächst? Hattest du nicht Angst?“ Chandra war leicht geschockt. Eine solche Frage hatte sie von Gabrielle nicht erwartet. Sie zuckte mit den Schultern. „Was soll ich dir darauf antworten? Meinen Vater habe ich nie gekannt. Meine Mutter ist gestorben, als ich neun Jahre alt war. Sebastian hat mich aufgelesen, mir ein halbwegs normales Leben ermöglicht. Du fragst, wie es ist, ohne Eltern aufzuwachsen? Wärest du überrascht, wenn ich dich fragen würde, wie es ist, mit Eltern in so einer Stadt groß zu werden?“ Gabrielle sah, wie einzelne Tränen Chandras Augen entwichen. Sie holte ein sauberes Tuch aus ihrer Jacke hervor und gab es Chandra. „Ich habe nicht gewollt, daß dir meine Frage Kummer bereitet.“ Chandra nahm das Tuch und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann sagte sie: „Nein. Nein, Gabrielle. Ich bin dir nicht böse deswegen.“ Gabrielle nickte. Dann gingen sie weiter. „Also, was machen wir heute?“ fragte Chandra. Gabrielle bewunderte Chandra. Ihr ganzes Leben hatte sie in dieser Stadt verbracht, ohne zu ahnen, welches Potential in ihr schlummerte, nur darauf wartete, entfesselt zu werden. „Ich schlage vor, als erstes die medizinische Abteilung aufzusuchen. Danach werden wir uns die Klimastation ansehen, einverstanden?“ Chandra nickte und sagte: „Einverstanden. Vielleicht könnten wie es ein wenig... regnen... lassen?“ Sie fing an zu lachen. Gabrielle sah sie an und fing ebenfalls an zu lachen.

28
Hinter dem Nebel - Tag 54
„Biolie... Bbb... Biologiek?“ fragte Chandra und sah fragend Mister Chance an, ihren persönlichen Lehrer. „Fast, Chandra, fast. Korrekt heißt es Biologie. Und was lehrt die Biologie?“ Solche Fragen empfand Chandra als langweilig. Leicht verärgert sagte sie: „Die Lehre von den Lebewesen und Lebensvorgängen bei Pflanzen, Tieren und Menschen.“ „Korrekt.“ sagte Mister Chance. „Sie sind eine fleißige Schülerin. Ich kann es immer noch nicht glauben, wieviel Wissen Sie sich in den wenigen Wochen angeeignet haben.“ „Ich habe einen guten Lehrer.“ sagte Chandra. Sie wußte, daß sie Chance damit zufriedenstellte, wenn sie ihm ein wenig schmeichelte. Sie wußte nicht, wofür sie das alles brauchte. Biologie, Mechanik, Medizin. Es ergab keinen Sinn. Natürlich war Chandra dankbar, daß sie Gelegenheit hatte, Versäumtes nachzuholen. Aber wenn man sie im Dunkeln ließ und ihr nicht den Grund nannte, warum man das alles für sie tat? Verstohlen sah sie auf die Uhr. Fast drei Stunden war sie bei Mister Chance im Hörsaal. Sonst war keiner anwesend, nur sie und Mister Chance. Noch quälende dreißig Minuten fehlten Chandra, dann würde sie Gabrielle treffen.

Chandras liebstes Freizeitvergnügen in ihrem von höheren Mächten streng durchplanten Leben hier in der Kuppel war es, Gabrielle aus Büchern vorzulesen, welche sie ihr gab. Chandra war sich sicher, daß Gabrielle alle Bücher schon kannte, aber da Gabrielle sich nicht anmerken ließ, daß sie es eventuell langweilig fand, trafen sie sich regelmäßig vor der Bibliothek, wo sie sich auf die Wiese setzten, und Chandra aus den Büchern las.

„Chandra?“ sagte Mister Chance. Sie war wohl in Gedanken versunken gewesen. „Ja? Entschuldigen Sie, Mister Chance. Ich war nur...“ „Abwesend.“ vollendete Chance ihren Satz. Er sah auf die Uhr. „Also, machen wir Schluß für heute.“ Er kam auf sie zu und gab ihr ein dickes Heft. „Ich erwarte, daß Sie mindestens fünfundsiebzig Prozent der Aufgaben lösen. In Brüchen ausgedrückt sind das wieviel, Chandra?“ Chandra überlegte kurz und sagte dann leise: „Drei Viertel?“ „Wie bitte?“ „Drei Viertel!“ sagte Chandra etwas lauter. Chance nickte zufrieden. „Sie brauchen keine Angst zu haben, Chandra. Sie können offen und laut sprechen. Ich bin dafür da, Ihre Fehlerquote so gering wie möglich zu halten. Und, mit Verlaub gesagt, bei Ihren Fortschritten würde es mich nicht wundern, wenn Sie eines Tages überhaupt keine Fehler mehr vorzuweisen haben.“ Dann entließ er sie aus seinem Unterricht. Draußen wartete bereits Gabrielle auf Chandra. Doch irgendwas stimmte nicht. „Gabrielle? Alles in Ordnung?“ fragte Chandra. „Es gibt Schwierigkeiten.“ „So? Was denn für welche?“ „Es hat mit dir zu tun, Chandra.“ „Mit mir?“

29
Kuppel
Es war purer Zufall gewesen, daß sie die andere Kuppel gefunden hatten. Nicht einmal Radon hatte daran gedacht, ausgerechnet im Nebelland zu suchen. Sie studierten die Karte, die vor ihnen auf einer großen Leinwand projiziert wurde. Das Nebelland lag einige hundert Kilometer östlich der Nordstadt, tief im Inneren des Landes. Die Kuppel, die sich darin verbarg, war der ihren ähnlich. Im Wesentlichen bestand der Unterschied darin, daß Radons Kuppel keinen zusätzlichen Schutz wie Nebel brauchte. Sie verließen sich voll und ganz auf die Tarnvorrichtung, die von einem Satelliten mit Energie gespeist wurde, welcher sich direkt über ihnen in einer festen Umlaufbahn um die Erde befand. Seine Geschwindigkeit passte sich automatisch der Erdrotation an, so daß er milimetergenau den ihm vorgegebenen Kurs beibehielt. Das einzige, worüber sie sich bisher Sorgen machen mußten, waren unerwartete Sonnenstürme oder kleine Meteoriten, die den Satelliten beschädigen konnten. Selbst dafür hatte Radon Maßnahmen getroffen. Falls der Satellit doch einmal ausfallen sollte, würde innerhalb von Minuten ein anderer seinen Platz einnehmen. Radons Techniker und Ingenieure hatten dreizehn Satelliten da oben. Alles hätte in Ruhe weitergehen können, aber dann kamen zuerst die ungenehmigten Sprünge, dann die Verschwörung der Wissenschaftler im IT-Center, die für ihre mehr als absurden Ideale in die Städte verbannt wurden, und jetzt... Eine zweite Kuppel. Radon hatte des öfteren die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß es noch mehr gab, über den ganzen Planeten verteilt. Doch er war immer davon ausgegangen, daß sie die letzten waren, die der Krankheit entfliehen konnten. Der von ihm erschaffenen Krankheit...

30
Französisch Dschibuti (Ehemalige Republik Dschibuti), Golf von Aden, Juli 2011
Das Labor war hermetisch abgeriegelt. Es unterlag der höchsten Sicherheitsstufe des Militärs. Jeder Wissenschaftler, jeder hochrangige General, der mit dem Projekt befaßt war, durfte den Stützpunkt nicht verlassen. Alle hatten Verschwiegenheitsklauseln unterzeichnen müssen. Der Stützpunkt lag etwa zwanzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Seit die Franzosen das Land vor drei Jahren besetzt, und damit die Handelsblockade zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten aufgehoben hatten, lastete auf jedem ein gehöriger Druck. Der Dollar hatte rasch wieder den Euro verdrängt, und nun arbeiteten Europäer und Amerikaner fieberhaft an einem Serum gegen die Weltseuche Aids. Die gegenseitige Verachtung, der Gedanke an Ruhm... Eine Zusammenarbeit war unmöglich. Es war schlicht und ergreifend pure Konkurrenz. Denn wer als erster Aids besiegte, dem winkten nicht nur weltweite Bewunderung, sondern auch Milliarden. Früher wäre eine Kooperation vielleicht einmal denkbar gewesen, aber die Zeiten waren längst vorbei.

Flex zwängte sich in den luftdichten Anzug. Er gab Radon ein Zeichen, der bereits auf ihn am Eingang zum Labor wartete. Flex kam sich immer wieder wie ein Astronaut vor, wenn er den Anzug trug. „Erde an Radon. Bereit, den Feind zu bekämpfen?“ fragte er scherzhaft. „Das hier ist kein Spiel!“ erwiderte Radon. Flex winkte ab. „Ja, schon gut. Du bist hier der Chef.“ „Ja, Flex. Das bin ich. Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Aber das hier ist zu wichtig, um Späße zu machen. Verstehst du?“ „Ja, habe ich. Also los, laß uns reingehen.“ sagte Flex verärgert. So kannte er Radon gar nicht. Aber er wußte, das würde sich wieder legen, wenn sie am Abend gemeinsam in der Kantine bei einem Bier zusammensaßen und über die Fortschritte diskutierten. Er konzentrierte sich. In den letzten Wochen waren sie nur mühsam vorangekommen. Aus Quellen des britischen Geheimdienstes hatten sie erfahren, daß die Amerikaner ein wirksames Serum an Nagetieren getestet hatten. Zwar wurde der HIV-Virus nicht vollständig zerstört, aber es war ihnen gelungen, das Imunssystem wieder zu stärken, und somit das Leben der Versuchstiere um ein Vielfaches zu verlängern. Sie hatten die Schleuse durchquert. Ihr Team war bereits anwesend.

„Guten Morgen.“ sagte Radon. „Die Chinesen können von mir aus an ihren Marsplänen festhalten. Wir jedoch, wir haben zu arbeiten.“ Er sagte den selben Satz jeden Tag aufs Neue. Aber es schien zu wirken. Alle, eingeschlossen Flex, wurden von Ehrgeiz gepackt. Sie waren entschlossen, alles zu tun, um den Amerikanern zuvorzukommen. In den Gefriertruhen waren sämtliche bekannte Krankheitserreger verwahrt. Fast jeder wurde schon auf das HIV-Virus angesetzt, aber scheinbar mühelos passte es sich an und mutierte nur noch zu einer neuen, tödlicheren Variante. Radon und Flex hatten heute vor, einen Primaten mit dem Virus zu infizieren, um ihn anschließend mit ihrem neu entwickelten Serum zu testen. Der Affe wehrte sich, als ob er wüßte, was auf ihn zukam. Flex hatte jedes Mal einen inneren Kampf zu überwinden. Er war sich sicher, die Tiere spürten es. Ihren nahenden Tod. Es war wie bei den Vögeln, Hunden und Katzen. Die spürten auch, wenn sich ein Erdbeben oder Vulkanausbruch andeutete. Er schluckte schwer. Der Affe hatte keine Chance. Radon presste ihn auf die Liege, während Flex die Gurte festzog. Ein letztes Mal bäumte sich der Affe auf und schlug noch einmal wild um sich. Dabei berührte er mit seinen scharfen Krallen Radons Anzug. Der bemerkte nicht, daß ihm der Affe einen feinen, winzigen Schnitt an seinem Schutzanzug zugefügt hatte. „Dafür haben wir keine Zeit.“ sagte Radon angesichts des Widerstandes und versetzte dem Affen kurzerhand einen Schlag in dessen Gesicht. Flex tat der Affe leid. Aber letzten Endes würde er vielleicht den Menschen helfen, auch wenn er starb. Er wußte es selbst, daß ihm diese Gedanken nur ein wenig Trost spenden konnten. Verdammt, dachte Flex, du hast einen Job zu erledigen. Er half Radon, die genaue Dosierung des Serums zu bestimmen.

Als sie zwei Stunden später fertig waren, hatte der Primat einen grauenhaften Tod hinter sich. Sie hatten nichts tun können. Die Mutation kam viel zu plötzlich. Die Augen des Affen hatten sich gelb verfärbt und aus Nase und Ohren war Blut geflossen. Radon nahm den Kadaver und warf ihn in einen Behälter. „Wieviele haben wir noch?“ fragte er. „Was?“ „Flex, von den Primaten! Wieviele?“ „Zwanzig, zweiundzwanzig.“ „Für morgen sollen drei vorbereitet werden.“ sagte Radon und ging zur Schleuse. „Radon!“ rief ihm Flex hinterher, aber Radon hatte die Schleuse bereits durchquert. Einige Tage später beklagten sich die Menschen im Stützpunkt über Kopfschmerzen und Reizhusten. Wochen später war für die Menschen Aids kein Thema mehr. Eine neue Seuche hatte sich ausgebreitet. Was half es da noch, daß die Amerikaner es schließlich vier Jahre später geschafft hatten, Aids auszurotten. Viele Menschen wären bereit gewesen, Aids gegen die neue Krankheit einzutauschen, welche die Erde nun heimgesucht hatte.

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Kuppel
Radon hatte die Augen geschlossen. Das war nun neununddreißig Jahre her. Was konnte er dafür, daß die Schleuse damals versagt hatte? Er erinnerte sich, wie er den Schutzanzug in den Händen gehalten, den Riß bemerkt hatte. Radon hatte keinem etwas gesagt. War er deshalb verantwortlich für den Tod von Millionen Menschen? Immerhin hatten sie sich angepaßt. Es war fast so wie Aids. Die Inkubationsphase dauerte sogar noch länger. Meist starben die Menschen erst mit vierzig oder fünfundvierzig Jahren. Radon machte sich darüber keine Gedanken mehr. Was geschehen war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Und Flex? Und die anderen? Die waren dankbar gewesen, als er sie in seine Pläne miteinbezogen hatte. Deshalb verloren sie auch kein Wort, hatten mit ihm gemeinsam den Vorfall vertuscht, die Untersuchungen bewußt sabotiert. Sollte Flex doch in der Stadt verrecken! Keiner würde ihm glauben, daß es eine unsichtbare Kuppel geben würde. Warum mußte er auch ausgerechnet Jahre später seinem Gewissen Tribut zollen. „Verdammter Narr. Törrichter, alter Narr.“ sagte Radon leise zu sich. Und was war das für eine Sache mit seiner angeblichen Tochter. Du würdest deine eigene Tochter opfern? Das hatte Flex ihm vorgeworfen. Aber er hatte keine Tochter. Er war sich sicher. Grübelnd ging er von einem Ende seines Schlafzimmers zum anderen. Er überlegte. Und dann, kurz bevor die Sonne am künstlichen Horizont der Kuppel aufging, dann fiel es ihm wieder ein.

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Hinter dem Nebel - Tag 54
Diesen Abschnitt der Kuppel kannte Chandra noch nicht. Er lag weit vom Zentrum entfernt. Es gab hier keine Wiesen, geschweige denn Parkanlagen, wie es sie sonst überall gab, egal, wo man sich befand. „Wo sind wir hier, Gabrielle?“ fragte Chandra. „Sag jetzt bitte nichts mehr, Chandra.“ Gabrielle beugte sich runter auf den Boden und wischte mit der Hand den dunklen Sand weg. Eine Metallplatte kam zum Vorschein. Es stand was darauf. Zutritt nur für Befugte, konnte Chandra lesen. „Wir benutzen sozusagen den Seiteneingang.“ sagte Gabrielle. Neben der Metallplatte war eine kleine Tastatur befestigt worden. Gabrielle gab einen Code ein und wie von Geisterhand teilte sich vor ihnen der Boden. Eine Art Fahrstuhl kam zum Vorschein. „Keine Angst.“ sagte Gabrielle und betrat den Fahrstuhl. „Ich habe kein gutes Gefühl, was Fahrstühle betrifft.“ flüsterte Chandra. „Keine Angst.“ sagte Gabrielle noch einmal und zog sie zu sich in den Fahrstuhl. Dann fuhren sie nach unten. Chandra konnte hören, wie sich über ihnen der Boden wieder schloß. „Wo bringst du mich hin?“ fragte sie. „In das Hauptquartier. Früher oder später hättest du es sowiso kennengelernt.“ „Aha.“ Chandra nickte und murmelte: „Hauptquartier. Klingt wichtig.“ Es sollte ein Scherz sein, aber Gabrielle schien nicht nach Lachen zumute zu sein. Also schwieg Chandra, als sie immer tiefer hinab fuhren. Dann blieb der Fahrstuhl stehen und die Türen öffneten.

Vor ihnen erstreckte sich ein langer, hell beleuchteter Gang, auf dessen Boden in der Mitte eine gelbe Linie aufgemalt worden war. „Wir werden jetzt der Linie folgen. Bleib dicht hinter mir.“ sagte Gabrielle und stieg aus der Kabine. Chandra folgte ihr. Auch wenn ihr Gabrielle die Angst hatte nehmen wollen, sie war da. Mit jedem Schritt, den Chandra tat, wurde sie größer und größer. Wo bringt sie mich hin? Warum sagt sie nichts? Aprupt blieb Gabrielle stehen. Sie standen vor einem großen Stahltor. Links von ihnen befand sich ein Mikrofon. Chandra fiel auf, daß es hier unten ziemlich karg aussah, was die ganze Technik betraf. Alles sah so, sie wußte nicht recht, so alt aus. Gar nicht so fortschrittlich wie oben an der Oberfläche. Vielleicht war das auch nicht wichtig. Vielleicht setzte man hier unten nur auf das, was zählte. Funktionalität. Eine Stimme ertönte. „Identifizieren Sie sich!“ Gabrielle ging zum Mikrofon und sagte laut und deutlich: „Gabrielle Sybex. Ich bringe Chandra.“ Kurz darauf öffnete sich fast geräuschlos das Stahltor. „Treten Sie ein, Chandra.“ befahl die Stimme. Gabrielle nickte sie aufmunternd an. „Nur zu, Chandra. Dir wird nichts geschehen.“ „Du hast mich hierher gebracht, weil es Schwierigkeiten gibt. Es geht um mich. Und ich soll mir keine Sorgen machen? Gabrielle!“ „Ich kann dich nicht begleiten, leider.“ „Du läßt mich allein?“ Gabrielle versuchte, ihre Fassung nicht zu verlieren. „Geh jetzt, Chandra.“ Chandra sah Gabrielle an. Sie war enttäuscht, sie fühlte sich verraten. Dann ging sie durch das Tor. Als sie es durchschritten hatte, blieb sie noch einmal stehen. Sie drehte sich um. Als das Tor begann, sich wieder zu schließen, hob sie die Hand. Gabrielle tat es ihr gleich. Und waren es tatsächlich Tränen, die Chandra bei Gabrielle entdeckte? Sie lächelte. Dann war das Tor zu. Gabrielle ging wieder zurück zum Fahrstuhl und fuhr nach oben. Sie wußte nicht, ob sie Chandra je wiedersehen würde. Ihre Aufgabe war beendet. Alles war so plötzlich gekommen. Als ob das geschehen würde, womit sie alle rechneten, nur nicht so früh. Ob Chandra es durchstehen würde? Die Vorbereitung war viel zu kurz gewesen. Was nützte eine perfekte Vernichtungswaffe ohne das dafür notwendige Wissen? Chandra begab sich auf den Weg zur Universität, um Mister Chance mitzuteilen, daß Chandras Unterricht hier oben zu Ende war.

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Hinter dem Nebel - Tag 54 (Unten)
Chandra war allein und sie hatte Angst. Sie wünschte sich, Sebastian wäre jetzt bei ihr, oder Gabrielle, wenigstens einer der beiden. Sie war in einem großen hellen Raum. Nichts tat sich. Als das Tor sich hinter ihr geschlossen hatte, war sie der gelben Linie weiter gefolgt. Sie endete an einer Tür. Sie hatte auf Anweisungen gewartet. Vergebens. Kurz entschlossen hatte sie die Tür geöffnet. Es war ein Fehler gewesen. Denn als die Tür hinter ihr wieder in das Schloß fiel, gab es keine Möglichkeit mehr, die Tür von innen zu öffnen. Chandra hatte gerufen, geschrien. Gefleht, daß ihr irgendeiner antworten sollte. Es herrschte nur eine eisige Stille. Chandra kauerte sich an die Wand und schloß ihre Augen. Und dann hörte sie wieder die Stimme. „Wir werden jetzt mit Ihrer Ausbildung fortfahren.“ sagte man zu Chandra.

Ein Teil der gegenüberliegenden Wand fuhr hoch und ein Mann betrat den Raum. Was Chandra sofort bemerkte, waren die klauenartigen Hände. So wie bei Zander, dachte sie. „Ja.“ sagte der Mann, der auf sie zukam. „So wie bei Zander.“ Chandra sah ihn entsetzt an. Der Mann blieb vor ihr stehen. Er beugte sich zu Chandra herunter. Seine Augen waren so anders, fast wie die eines Tieres. „Erschreckt Sie mein Äußeres, Chandra?“ fragte er sie. „Sie werden sich an meinen Anblick gewöhnen müssen. Denn von nun an sind Sie meine Schülerin. Ich bin Ihr Lehrer. Ihr Ausbilder.“ Er sah ihr angsterstarrtes Gesicht, wie sie sich an die Wand presste. „Sie haben Angst vor mir.“ sagte er. „So wie bei Ihren Anfällen, nicht wahr? Dieses Gefühl, daß Ihnen etwas weggenommen wurde, etwas Kostbares. Ihnen wird kalt und Sie beginnen zu zittern. Ist es so?“ Chandra nickte. Mühsam gelang es ihr etwas zu sagen. „Ww... bin i... ich?“ Der Mann lächelte. „Sie sind in Sicherheit, Chandra. Sie sind bei mir.“ „Und... u... wer sind Sss... Sie?“ „Mein Name ist Zardos.“

Er berührte sie. Als sie seine Hand spürte, fühlte sich Chandra etwas besser. „Sehen Sie, Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben.“ sagte Zardos. „Ich bin Ihr Freund.“ Er half ihr aufzustehen. „Willkommen in Ihrem neuen Zuhause, Chandra.“ Er sah sie an. „Die nächsten Wochen und Monate werden für Sie sehr anstrengend werden.“ „Was ist mit Gabrielle. Kann ich... kann ich sie sehen... Gabrielle?“ „Nein! Sie hat ihre Aufgabe erfüllt.“ sagte Zardos. „Gabrielle ist für Sie nicht mehr wichtig. Von nun an gelten andere Prioritäten, Chandra. Von nun an gibt es nur noch Sie und mich.“ Zardos legte seinen Arm um Chandra. „Sie werden sich heute noch ausruhen. Morgen früh fangen wir an.“ „Womit?“ wollte Chandra wissen. Zardos lächelte. „Nein, nicht jetzt. Morgen. Ruhen Sie sich aus!“ sagte er. Mit diesen abschließenden Worten ließ er Chandra zurück. Die Wand fuhr herunter und Chandra war wieder allein in dem Raum. Sie sah in einer der Ecken eine kleine Liege stehen. Und wirklich, sie fühlte sich sehr müde. Vielleicht lag es an der Luft, oder etwas anderes. Kaum hatte sie sich hingelegt, fielen ihr die Augen zu und Chandra schlief ein. Es sollte ein traumloser Schlaf werden.

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Hinter dem Nebel - Tag 83 (Unten)
Zardos zeigte Chandra Bilder von Menschen, die zufällig anwesend waren, wenn ein Sprung getätigt wurde. „Sie müssen verstehen, daß es absolut notwendig ist, die Städte zu überprüfen.“ sagte er. Chandra wurde wütend. „Nein. Warum konntet ihr, die anderen nicht einfach es so lassen, wie es war? Warum uns bewachen? Versuchen, uns zu kontrollieren?“ „Stellen Sie sich vor, die Menschen da draußen wüßten, daß wir existieren? Daß es unsere Kuppel gibt, oder die der anderen? Hm? Was glauben Sie, was dann passieren würde?“ Zardos stand direkt vor ihr und sah sie fragend an. „Was glauben Sie, Chandra?“ „Ich denke, sie... wir würden versuchen, eine friedliche Lösung...“ „Unsinn, Chandra! Es gibt keine friedliche Lösung. Dafür ist es zu spät. Dafür hat die andere Kuppel gesorgt, eben mit diesen Sprüngen.“ sagte Zardos. Er gab Chandra einen Umschlag. „Na los!“ forderte er sie auf. Chandra öffnete den Umschlag. Sie wußte bereits, was sie erwartete.

Dutzende Fotos fielen vor ihr auf den Tisch. Auf allen Bilder sah sie Menschen, die mit schmerzverzehrten Gesichtern kauernd auf dem Boden saßen oder versuchten, sich zitternd an den Wänden festzuhalten. So wie sie. So, wie es bei ihr war. „Warum zeigen Sie mir das?“ wollte sie wissen. „Damit Sie verstehen, Chandra.“ sagte Zardos. Chandra sah Zardos an. „Damit ich verstehe?“ „Ja. Wenn die Menschen wüßten, daß wir existieren, sie würden sich wünschen, sie wären tot.“ „Warum sollten sie sich das wünschen?“ „Weil jede Kuppel, die es auf der Erde gibt, alles tun würde, um die Menschen davon abzuhalten, in sie einzudringen. Die Maßnahmen, die dafür notwendig wären, übertreffen die Krankheit bei weitem. Ein noch schlimmerer Tod, Chandra. Es mag absurd klingen, aber es wäre noch schlimmer.“ „Wie meinen Sie das? Atombomben?“ „Davon wissen Sie?“ „Mister Chance war ein guter Lehrer.“ „Ja, möglich. Aber nein, keine Nuklearwaffen oder ähnliches. Die gibt es nicht mehr.“ „Was dann?“ Zardos holte tief Luft. Dann sagte er: „So etwas wie Sie, Chandra. Und wir können von Glück reden, daß wir Sie zuerst gefunden haben.“

„Was soll daß heißen?“ Chandra war aufgestanden. Zardos fühlte ihre Angst, ihre Unsicherheit. „Was soll das bedeuten?“ schrie Chandra. Sie kam auf Zardos zu. Ihre Wut wurde noch größer. Was meinte er damit? So etwas wie sie? „Was soll das bedeuten?“ Chandra stand nun Zardos gegenüber. Der lächelte. „Ja.“ sagte er. „Langsam erkennen Sie es. Ihre wahre Bestimmung, Chandra. Sie wissen es. Sie haben es immer gewußt, immer.“ „Nein!“ schrie Chandra. Und plötzlich wurde Zardos durch den Raum geschleudert. Er prallte gegen die Wand und blieb bewußtlos am Boden liegen. „Was habt ihr mit mir gemacht?“ schrie Chandra. Ihr Zorn war grenzenlos. Die Neonröhren an der der Decke explodierten. Der Raum war nun völlig dunkel. Chandra brach zusammen. „Was habt ihr mit mir gemacht?“ schluchzte sie. Die Notbeleuchtung ging an. Sie sah zu Zardos. Obwohl sie Angst hatte, Wut empfand, wurde ihr bewußt, daß sie es war, die ihn quer durch den Raum geschleudert hatte. Nur mit ihrem Willen. Nur sie, und sonst keiner.

35
Hinter dem Nebel - Tag 84 (Unten)
Sein Kopf war bandagiert worden. Chandra lächelte verlegen und sagte leise: „Tut mir leid.“ Zardos winkte ab. „Es war meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, daß Sie es noch nicht kontrollieren können.“ Chandra lächelte. Zardos fiel es zwar schwer, aber auch er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Haben Sie gut geschlafen?“ fragte er. „Nein. Ich habe über vieles nachgedacht. Über das, was gestern vorgefallen ist. Über mich. Über die Kuppel. Ich habe an Gabrielle und Sebastian gedacht. Ich vermisse sie. Es macht mich traurig... und wütend.“ Zardos setzte sich. „Ich weiß, es ist schwer für Sie. Vielleicht tröstet es Sie ein wenig, wenn ich Ihnen sage, daß Sebastian weiterhin sein Kino führt, daß Gabrielle wieder als Laborassistentin arbeitet, daß Chance einen neuen Kurs leitet. Wie gesagt, vielleicht hilft es Ihnen.“ „Danke.“ sagte Chandra. Zardos nickte zufrieden und sagte: „Ich sollte Ihnen nicht mehr vorenthalten, warum Sie bei uns sind.“ Eine gute Idee, dachte Chandra. „Ja. Das denke ich auch.“ sagte Zardos.

36
Kuppel
Als Radon fertig war, herrschte Schweigen im Rat. Nikolai und Laura, die ebenfalls anwesend waren, sahen sich ungläubig an. „Es ist Ihnen freigestellt, mich abzusetzen.“ sagte Radon. Er hatte ihnen alles erzählt. Angefangen von Französich Dschubati bis hin zu seiner Tochter, die er eigentlich längst vergessen hatte. Aber Flex hatte ihn erinnert. Und nicht nur das. Flex hatte ihn auch daran erinnert, welche Gefahr Chandra für die Kuppel darstellte, für alles. Möglich, daß Flex es gar nicht gewollt hatte, aber es war ihm bei dem Gespräch mit Radon herausgerutscht. Und jetzt war sie bei den anderen. In der anderen Kuppel, im Nebelland. „Alles verändert sich.“ sagte Radon. „Alles hat sich verändert. Bevor Sie eine Entscheidung fällen, sollten Sie eines wissen. Chandra ist nicht nur irgendein Mensch aus irgendeiner Stadt. Sie ist meine Tochter. Und sie ist gefährlich. Wir wissen von den Mutationen. Menschen mit Klauenhänden und dem Instinkt eines Raubtieres. Aber die sind nichts im Vergleich zu Chandra. Sie ist etwas Einmaliges. Allein ihre Gedanken können bewirken, daß Städte dem Erdboden gleichgemacht werden, unsere, eine jede Kuppel zerstört wird, die es gibt. Und die anderen haben sie zu sich geholt. Sie haben sie. Sie haben Chandra. Und das ist mehr als ein Grund, die Kuppel im Nebelland zu zerstören.“ Radon stand wie immer am Fenster. „Wir müssen die Kuppel ausschalten. Wir müssen Chandra... ausschalten.“ Einer aus dem Rat sagte: „Es ist Ihre Tochter!“ Radon drehte sich zu ihnen um und sagte: „Eine Tochter, die ich vor dreiundzwanzig Jahren aufgegeben, verdrängt habe. Ein weiterer Fehler, den ich begangen habe. Aber wenn wir Chandra nicht töten, dann tötet sie uns. Dann tötet sie alles, woran ich... wir geglaubt, wofür wir gelebt haben, einfach alles. Erst wird unsere Kuppel, unser Zuhause zerstört, und dann der Rest. Die Ereignisse überschlagen sich. Ich bin bereit, alles zu tun, um unsere Welt zu erhalten.“ Radon sah die Mitglieder des Rates an. „Meine Frage an Sie ist... sind auch Sie dazu bereit?“ Die Abstimmung des Rates ergab, daß Radon nicht abgesetzt wurde.

37
Dallas, Texas, Amerikanische Förderation, März 2027
Er versuchte alles, sie zum Mitkommen zu überreden, aber es war zwecklos. Aber noch hatte er nicht aufgegeben. „Dann gib mir wenigstens unsere Tochter, Dana!“ flehte er sie an. „Nein, sie bleibt bei mir.“ „Aber sie ist erst wenige Tage alt. Bei uns wäre sie sicher.“ Dana hatte das Kind umklammert. Er würde sie töten müssen, bevor sie es ihm freiwillig gab. „Geh in deine Kuppel! Versteck dich vor der Welt, Radon.“ sagte sie. Einer der beiden Piloten kam auf sie zugerannt. Er blieb vor Dana und Radon stehen und sagte: „Sir, in der Nähe sind Mutanten gesichtet worden. Wir müssen starten. Jetzt!“ Die Triebwerke des kleinen Düsenjets wurden angelassen. „Fünf Minuten!“ schrie Radon durch den Lärm hindurch. Der Pilot nickte und entfernte sich wieder. „Warum tust du mir das an?“ schrie er zu Dana. Sie antwortete nicht. Das war auch nicht nötig. Er kannte ihre Antwort. Er nickte ihr noch einmal zu. „Viel Glück!“ Dann drehte er sich um und lief zu dem Flugzeug.

Als er die Kabine betrat, hatte er bereits das Band zwischen Dana und ihm zerschnitten, welches sie vier Jahre zusammengehalten hatte. Es waren gute Jahre gewesen. „Was ist mit Ihrer Frau?“ fragte einer von den Konzernchefs aus der Ölindustrie, die sie hier abgeholt hatten. „Sie hat es sich anders überlegt.“ sagte Radon trocken. Er ging nach vorn zu den beiden Piloten. „Okay, Sie können starten.“ sagte er. „Sie kennen das Ziel?“ „Ja Sir!“ „Gut. Direkt zur Kuppel.“ sagte Radon und ging wieder nach hinten. Keiner, der sich an Bord befand, sagte ein Wort. Alle waren viel zu sehr damit beschäftig, über das nachzudenken, was nun auf sie zukam. Ihre neue Welt. Ihr letzter Versuch, sich vor der Krankheit zu retten. Sie hatten bereitwillig Radons Pläne finanziell unterstützt, sie waren bereit gewesen, zum Teil ihre Familien zurückzulassen. Radon sah sie sich an. Eigentlich hatte er nie so sein wollen wie sie. Egoistisch, nur auf den eigenen Vorteil bedacht sein. Aber in dem er Dana und Chandra zurück ließ, war er einer von ihnen geworden. Doch für Sentimentalitäten war es nun zu spät. Radon holte sein Laptop hervor und kontrollierte die Datenbank, in der all diejenigen aufgenommen waren, die in der Kuppel ein neues Leben anfangen würden. Eher beiläufig sagte er zu den anderen: „Wenn wir da sind, werden Sie von Flex eingewiesen. Bedenken Sie, hier draußen mögen Sie alle einflußreich gewesen sein. Hier draußen hatten Sie Macht. Das alles hat in der Kuppel keine Bedeutung mehr. Wir alle fangen bei Null an.“ Er wußte, sie würden das aktzeptieren. Denn immerhin lag vor ihnen ein langes Leben mit allen Annehmlichkeiten und ohne die Krankheit.

38
Hinter dem Nebel - Tag 84 (Unten)
„Meine Mutter hat mir nur sehr wenig etwas über meinen Vater erzählt.“ „Sie haben nie nachgefragt?“ Chandra sah Zardos an und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich hielt es nicht für notwendig.“ „Erzählen Sie mir aus Ihrer Jugend, Chandra.“ sagte Zardos. Chandra sah ihn an. Sein bärtiges Gesicht. Seine Augen. Vor ihr stand etwas, was früher einmal ein Mensch gewesen war. Und jetzt wollte ein Mutant von ihr wissen, was sie als Kind erlebt hatte. „Nein, Zardos.“ Er wirkte überrascht. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. „Chandra?“ „Zuerst sagen Sie mir, was mit Ihnen passiert ist. Und warum es hier Mutanten gibt. Sind da noch mehr außer Zander und Ihnen?“ Zardos lächelte und nickte. „Bei uns in der Kuppel leben vierundreißig... Mutanten. Wir glauben, daß es draußen keine mehr gibt. Unsere Art wurde gnadenlos gejagt, schließlich fast ausgerottet. Nun, hier in der Kuppel gab man uns eine Chance. Zufrieden?“ „Wie sind diese Mutationen entstanden?“ wollte Chandra wissen. Zardos setzte sich zu ihr an den Tisch.

Nach einer Weile sagte er: „Im Jahr 2011 ging es los. Der Ausbruch der Krankheit. Egal was man unternahm, sie konnte nicht aufgehalten werden. Einigen wenigen gelang es in Kuppeln wie diese Zuflucht zu finden. Fast alle Konstruktionen, von denen wir wissen, sind von reichen Industriellen oder Ölscheichs finanziert worden. Erdacht und realisiert hat sie aber nur ein Mensch. Radon. Ein Genie. Vielleicht der klügste Mensch, den es je auf der Erde gegeben hat. Ursprünglich sollte es nur eine Kuppel geben. Vermutlich sind ihm die Pläne gestohlen worden. Fakt ist, daß es sieben dieser Kuppeln gibt. Wahrscheinlich neun, das wissen wir nicht so genau. Radon war es auch, dem die Menschen die Krankheit zu verdanken haben. Er und ein Forschungsteam haben 2011 in Französisch Dschubati an einem Wirkstoff gegen Aids gearbeitet. Dabei erschufen sie immer neue, tödlichere Viren. Aus irgendeinem Grund gelangte eines dieser Viren in die Atmosphäre. Den Rest können Sie sich denken. Für achtundneunzig Prozent der Menschen war und ist das Virus absolut tödlich. Für die anderen zwei Prozent... Nun ja.“ Er zeigte ihr seine Klaue. „Man hat herausgefunden, daß es an den Genen liegt. Ich kann nichts dafür, daß ich zu dem geworden bin, was vor Ihnen steht, Chandra. Genausowenig, können Sie etwas dafür daß zu sein, was Sie sind.“ „Was bin ich?“ „Etwas, wovor die anderen Angst haben. Selbst wir haben Angst, Sie bei uns zu haben. Selbst wir, die Sie geholt haben. Und nur aus einem Grund.“ Er holte tief Luft. „Sie sind uns allen überlegen, Chandra. Ihre Gedanken sind Ihre Waffe. Und gestern haben Sie sie bereits angewendet.“ „Ich bin auch ein Mutant? Durch das Virus?“ fragte sie. „Es tut mir leid, Chandra. Aber so ist es.“ Chandra stand auf. „Ich hasse diesen Radon.“ sagte sie. Zardos fühlte, wie Wut in ihr aufkeimte. „Chandra?“ „Ja?“ „Radon ist ihr Vater!“

Chandra sah Zardos an. Ihr Haß wurde stärker. Zardos wußte, was nun kam. Er wußte auch, daß Chandra es nicht unter Kontrolle hatte. Das einzige was ihm blieb war, sich irgendwo festzuhalten. Es hatte nur kurz gedauert, aber das Ergebnis war beeindruckend. Der Raum war völlig verwüstet. Radon lag zwischen den Trümmern, die einmal ein sehr robuster Metalltisch gewesen waren. Mühsam rappelte er sich auf. Er konnte nirgends Chandra entdecken. „Chandra?“ rief er. Nichts. Immerhin hatten die Neonröhren dieses Mal Chandras Zorn standgehalten. Zardos sah sich um. Und dann sah er sie. Chandra war von der Wucht ihres eigenen Ausbruches an die Wand geschleudert wurden. Sie lag auf dem Boden. Zardos lief zu ihr. Sie war bewußtlos. „Chandra?“ sagte er leise. Sie sagte nichts. Aber er konnte ihre Gedanken hören. „Ja.“ sagte er. „Ich weiß, ich weiß.“ Er hob sie auf und brachte sie in die medizinsche Abteilung.

39
Hinter dem Nebel - Tag 108
Chandra öffnete ihre Augen. Sie war nicht in dem Raum, nicht bei Zardos. Sie drehte ihren Kopf ein wenig. Da war ein Fenster. Und sie konnte die Sonne, den blauen Himmel sehen. Wo war sie? „Chandra?“ sagte eine Stimme. Sie lächelte. „Gabrielle, du bist hier?“ „Ich bin bei dir.“ Gabrielle legte Chandras Hand in die ihre und sagte: „Die ganzen letzten Tage.“ „Was ist passiert?“ „Sie wollten ja nicht auf mich hören. Es mußte so kommen. Chandra, du hattest einen... einen Ausbruch. So nennt es Zardos zumindest.“ „Zardos? Hab ich ihn verletzt?“ Chandra fiel es wieder ein. „Nein.“ sagte Gabrielle. „Er hat es gut überstanden. Einige kleine Verletzungen durch das Metall, mehr auch nicht.“ Sie sah Chandra an. „Du hast mir gefehlt.“ sagte sie. „Gabrielle, du... ich habe dich auch vermißt. Wirklich, ich bin sehr froh, dich zu sehen.“ Sie nahm Gabrielles Hand und küßte sie sanft. „Ich habe lange geschlafen?“ Gabrielle nickte. „Es tat dir gut. Kannst du dich noch an alles erinnern?“ Chandra sah wieder zur Seite, dann sagte sie: „Ich bin wütend geworden. Und gegen die Wand geprallt. Nun, und heute aufgewacht. Das ist alles. Nicht viel, oder?“ „Weißt du noch, warum du wütend geworden bist?“ „Wegen meinem Vater.“ sagte Chandra. „Dein Vater?“ „Radon ist mein Vater.“

40
Nordstadt, Oktober 2036
Dana achtete darauf, daß Chandra ihren Mundschutz richtig angelegt hatte. Sie kontrollierte, ob das Cape fest zugeknöpft war. Dann gab sie ihrer Tochter einen Kuß auf die Stirn. „Bereit?“ fragte sie. Chandra nickte und hob den Daumen. Sie strich Chandra zärtlich über das Gesicht. „Ich bin sehr stolz auf dich, weißt du das? Sehr stolz. Na komm, gehen wir.“ Dana nahm den großen Rucksack uns setzte ihn sich auf. Sie stöhnte ein wenig unter der Last, aber es ging. Chandra nahm sie an die Hand. Sie verließen die kleine Wohnung. Draußen auf der Straße standen zehntausende von Menschen, die von der Quarantäne betroffen waren. Alle, die in den Siedlungen vor der Norstadt lebten, mußten ihre Häuser verlassen und sich innerhalb der Stadt ein neues Zuhause suchen. Es ging nur langsam voran. Wer keine gültigen Papiere vorzuweisen hatte, wurde von den Ärzten und Militärs, welche die Einsiedlung überwachten, gnadenlos und ohne eine Spur des Bedauerns abgewiesen. Die Kontrollen waren sehr streng. Dana war heilfroh, als sie am späten Nachmittag mit Chandra endlich die Kontrollen passiert hatten.

Dana blieb stehen und setzte den Rucksack ab. „Alles in Ordnung, Chandra?“ fragte sie. „Ja, Mama. Mir geht es gut.“ antwortete Chandra. „Wo sind wir jetzt?“ „Eine Sekunde, Schatz.“ Dana holte einen Zettel hervor. Ihnen war eine Wohnung direkt im Zentrum zugeteilt worden. „Ich glaube, wir müssen in diese Richtung.“ sagte sie und deutete zu den riesigen Hochhäusern. Chandra hob ihren Kopf. „Werden wir eine Wohnung ganz oben haben, Mama?“ Dana lachte. „Hoffentlich nicht.“ Chandra blickte noch immer nach oben. „Wenn wir ganz oben wohnen würden, dann könnten wir vielleicht einen blauen Himmel sehen?“ sagte sie leise. Dana hörte auf zu lachen. Sie beugte sich zu ihr herunter. Fast schien es so, als ob Dana anfingen würde zu weinen. Im Moment konnte sie es noch unterdrücken. Sie sah ihrem Kind fest in die Augen. „Vielleicht gibt es da oben wirklich einen blauen Himmel, Chandra. Möglich ist alles, nicht wahr? Und wer weiß, eines Tages wirst du ihn sogar sehen können, hm? Du mußt nur an dich glauben. An das, was du bist. Was ganz Besonderes, Chandra. Was Besonderes!“ „War Vater auch etwas Besonderes, Mama?“ „Ja, ja natürlich. Auch er. Aber du weißt, er ist kurz nach deiner Geburt gestorben.“ „An der Krankheit?“ Dana konnte nicht mehr. Sie schluckte schwer, Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Richtig, mein Schatz, dein Vater ist der Krankheit zum Opfer gefallen.“ Sie stand wieder auf. „Wir müssen weiter, Chandra.“ sagte sie.

Am nächsten Morgen hatten sie ihre neue Wohnung erreicht. Die Nacht hatten sie eng aneinander gelehnt in einer der dunklen Seitengassen verbracht. Chandra war enttäuscht. Die Wohnung lag direkt im Erdgeschoß, nicht ganz oben, so wie sie gehofft hatte. Ihre Mutter stand unter der Dusche und Chandra hatte Gelegenheit, aus dem kleinen Fenster zu schauen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Sie sah, wie Jugendliche ältere Menschen über die Straße jagten. Den ganzen Müll. Die Leichen. Und sie sah auch die Asche, die vom Himmel fiel und den Boden bedeckte. Dunkler Schnee, dachte sie. Ihre Mutter hatte den Fernseher eingeschaltet, und während Chandra weiterhin das Geschehen auf der Straße beobachtete, vernahm sie im Hintergrund die Stadtnachrichten, die etwas über Quarantäne und Ausreiseverbot erzählten. Über nächtliche Unruhen, Polizeieinsätze.

„Chandra?“ Mama. Sie kletterte von der Fensterbank runter. „Du bist dran.“ sagte Dana. „Ja, Mama.“ Sie wollte gerade die Tür des Badezimmers zu machen, als Dana ihr hinterher rief: „Und gründlich abtrocknen. Du weißt, wie wichtig das ist. Ja, Schatz?“ Chandra nickte und sagte: „Ja, Mama.“ Dann zog sie sich aus und stellte sich unter die Dusche. Sie liebte das heiße Wasser. Sie konnte nicht recht begreifen, daß nasse Haut draußen tödlich sein konnte. Ihre Mutter hatte gesagt, es würde mit der Krankheit zusammenhängen. Währenddessen hatte sich Dana vor den Spiegel gestellt. Sie sah den rötlichen Fleck auf ihrer Brust. Mit jedem neuen Tag war er ein Stückchen größer geworden. Es war schon merkwürdig. Das alles hätte Chandra und ihr erspart bleiben können. Sie hätten damals nur mit Radon in das Flugzeug steigen müssen. Er hatte sie gefragt, warum sie ihm das antat. Sie hatte nicht geantwortet. Es war nicht nötig gewesen. Er wußte es. Sie hatte es in seinen Augen gesehen, bevor er ihr ‚Viel Glück‘ gewünscht hatte. Warum hast du das unserer Tochter angetan, dachte sie. Sie hörte das Wasser der Dusche. Vielleicht hatte sie wirklich falsch gehandelt. Vielleicht hätte sie wenigstens Chandra mit in diese Kuppel schicken sollen. Doch wer weiß, was Radon mit ihr angestellt hätte, noch mehr Experimente, schlimmere als die während ihrer ungewöhnlich kurzen Schwangerschaft. Dana schlüpfte in eine bequeme Hose an und zog sich ein Shirt an. Ja, dachte sie, Chandra ist mehr als außergewöhnlich. Sie würde ihr nie sagen, zu was sie fähig war. Nie. Sie legte sich auf das Bett und schloß die Augen. Sie war müde. Dann war sie eingeschlafen.

Als Chandra mit dem Duschen fertig war und sich gewissenhaft abgetrocknet hatte, ging sie zurück in das Wohnzimmer. Ihre Mutter schlief. Ganz vorsichtig und leise ging sie zum Bett. Etwas bedrückt sie, dachte Chandra. Sie wußte nicht, was es war, ob es an ihr lag. Behutsam deckte sie ihre Mutter zu, schaltete den Fernseher ab und schaute wieder aus dem Fenster. Dabei strich sie mit ihrer Hand immer wieder über den Armreif, den sie am Morgen von ihrer Mutter bekommen hatte.

Einige Tage später, sie waren gerade auf dem Weg zu den Markthallen, brach Chandras Mutter auf der Straße zusammen. Chandra hatte es erst gar nicht mitbekommen, weil sie ein Stück vor ihrer Mutter lief. Doch dann hörte sie ein paar aufgeregte Stimmen. Sie drehte sich um. Aber sie sah ihre Mutter nicht, nur einen Haufen Menschen, die wild diskutierten, ein Haufen Menschen, der sich erst auflöste, als einer von ihnen es geschafft hatte, Danas Rucksack an sich zu reißen und wegzulaufen. Langsam ging sie auf ihre Mutter zu. „Mama?“ sagte sie. „Mama?“ Sie kniete sich vor den Körper ihrer Mutter. „Mama!“ rief sie und rüttelte an Dana. „Mama? Mama!“ Nichts. Chandra wußte, was passiert war. Aber noch wollte, konnte sie es sich einfach nicht eingestehen. Hilflos sah sie sich um. Keiner tat was, alle gingen achtlos an ihr vorbei. „Mama?“ flüsterte sie und legte ihren Kopf auf Danas Brust. Sie schluchzte. „Was soll ich denn jetzt tun?“

Und irgendwann blieb jemand vor ihr stehen. Chandra hob ihren Kopf. Es war ein Mann, der sie freundlich ansah. „Ist das deine Mutter?“ fragte der Mann. Chandra nickte. Er streckte ihr eine Hand entgegen und sagte: „Komm. Du zitterst am ganzen Körper. Du brauchst Wärme.“ Chandra wollte nicht aufstehen und schüttelte den Kopf. Sie schmiegte sich noch mehr an Dana. Der Mann beugte sich zu ihr runter. „Ist ja gut. Ist gut.“ Er wollte sie berühren, aber Chandra wich zurück. Der Mann nickte und setzte sich zu Chandra auf den schmutzigen Fußweg. „Es ist hart, seine Familie zu verlieren. Ich habe auch niemanden mehr. Ich bin allein, wie du.“ sagte er. Chandra sah ihn an. Was wollte der Mann von ihr? Warum machte er das? Der Mann sah nach oben. „Sie ist jetzt irgendwo dort oben.“ Er zeigte zum Himmel. „Deine Mama ist jetzt dort. An einem schöneren Ort, besser als hier.“ Chandra sah ihn fragend an. Der Mann wirkte traurig, vielleicht noch trauriger, als sie es war. „Ich kann für dich sorgen.“ sagte er. „Jetzt, wo du niemanden mehr hast. Du hast doch sonst niemanden mehr, oder?“ „Nein.“ Der Mann nickte und stand auf. Er klopfte sich den Staub und die Asche vom Cape. „Hab keine Angst.“ sagte er. Chandra ließ ihre Mutter los und stand ebenfalls auf. „Wie heißt du?“ fragte der Mann. „Chandra.“ „Chandra, ein schöner Name. Ich bin Sebastian. Und wir sollten jetzt gehen, es wird dunkel.“ Chandra sah zu ihrer toten Mutter. Sebastian legte ihr eine Hand auf die Schulter und sagte: „Keiner hat verdient, so zu sterben, Chandra. Keiner.“

Dann nahm er Chandra auf den Arm. Während Sebastian mit Chandra zu seinem kleinen Kino ging, entfernten sie sich mehr und mehr von Dana. Chandra hatte Sebastian umklammert. Bald war ihre Mutter nur noch ein kleiner schwarzer Punkt auf der Straße. Chandra schloß die Augen. Sie wollte jetzt an nichts mehr denken. Sebastian hielt sie behutsam fest. „Chandra?“ fragte er. Aber sie antwortete nicht. Er lächelte und drückte sie fest an sich. „Eines Tages bist du darüber hinweg, Chandra. Eines Tages.“ Dann hatten sie das alte Kino erreicht, welches von Sebastian mehr schlecht als recht betrieben wurde.

41
Hinter dem Nebel - Tag 141 (Unten)
Chandra stand hinter einem Kraftfeld und sie war wütend. Zardos hatte ihr versucht zu erklären, daß dieses Kraftfeld nur zu ihrem eigenen Schutz da war, aber sie wußte es besser. Zwar gab es Fortschritte, was die Kontrollte über ihre Macht betraf, aber Zardos und die anderen versuchten sich nur zu schützen. „Glauben Sie wirklich, dieses Kraftfeld wird Ihnen nützen?“ fragte Chandra. Zardos sah sie an und sagte: „Noch ist ihre Macht nicht groß genug, Chandra. Es ist ein Kraftfeld der Stärke Zwanzig, das höchste, was wir aufbieten können. Sie brauchen noch ein wenig Übung, bevor Sie das durchbrechen. Wenn Sie das erst einmal geschafft haben, dann wird Sie nichts mehr aufhalten können, Chandra.“ Er holte sich einen Stuhl und setzte sich vor sie. „Sie müssen annehmen, daß wir Sie gefangenhalten, nicht wahr?“ Sie nickte und schlug mit der Hand gegen das Kraftfeld. „Ja, das nehme ich an, Zardos. Ja, das nehme ich an!“ Er holte tief Luft. „Beruhigen Sie sich, Chandra. Bitte. Ich möchte, daß Sie sich jetzt beruhigen, okay? Ja?“ Er sah sie an. „Schon vergessen? Sie sind bei uns, nicht bei den anderen. Sie sind in guten Händen, Chandra. Wir wollen nur das Beste für Sie.“ Chandra begann zu lachen. Dann sah sie Zardos an und sagte: „Sie wollen, daß ich die andere Kuppel zerstöre. Nur aus diesem Grund habt ihr mich geholt. Nur aus diesem einzigen Grund!“ Zardos beobachtete sie. Chandra lief in ihrem... Käfig hin und her wie ein gefangenes Raubtier, daß nur darauf wartete, auszubrechen.

„Sie haben Recht, Chandra. Ich habe es Ihnen in den letzten Wochen mehrmals gesagt, Ihnen erklärt. Sie sollen die andere Kuppel zerstören...“ „Ich soll Radon umbringen!“ „Auch das, ja. Werden Sie es tun?“ fragte Zardos. Es war das erste Mal, daß er diese Sache direkt erwähnte. Sie zögerte. „Werden Sie es tun?“ fragte er noch einmal. Chandra setzte sich auf den Boden. Sie überlegte. Dann sagte sie: „Ich kenne diesen Mann nicht. Er ist... nicht mein Vater. Nein, das ist er nicht. Er ist für die Krankheit verantwortlich. Er hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich wollte das nicht. Ich hab das nie gewollt.“ Sie sah Zardos entschlossen an. „Ja, ich werde Radon töten. Ich bin bereit dazu. Aber ich bin nicht bereit, fünftausend unschuldige Menschen zu töten. Die haben mir nichts getan.“ „Haben Sie nicht?“ fragte Zardos. „Sie haben sich versteckt. Sie haben mit angesehen, wie die Menschen in den Städten leben, und sie haben nichts getan.“ „Aber das habt ihr doch auch nicht!“ Sie sah ihn herausvordernd an. Zardos lächelte. Ja, sie kam immer näher an den Punkt, zu dem er sie hinführen wollte.

Er hob beschwichtigend seine Hände und sagte: „Oh doch, das haben wir, Chandra. Das haben wir. Diese Kuppel hat Mutanten wie mir Schutz gewährt, als meine Art draußen abgeschlachtet wurde. Diese Kuppel hat nach Ihnen gesucht. Sie sagten neulich zu mir, warum man es nicht alles so lassen konnte, wie es war. Erinnern Sie sich?“ „Ja.“ „Wir wollten nie die Aufmerksamkeit der anderen. Wir waren so etwas wie eine eigene Welt. Aber dann begannen die anderen mit den Sprüngen, mit der Überwachung der Städte. Die Gefahr, dabei von den Menschen entdeckt zu werden, sie war enorm. Wir konnten nicht mehr tatenlos zusehen. Unsere Verbündeten aus der anderen Kuppel spielten uns Informationen über Sie zu. Danach begannen wir mit der Suche. Alles wird wieder so sein, wie es einmal war. Wenn die andere Kuppel, wenn Radon nicht mehr da ist, wird es wieder wie früher sein. Die Menschen leben ihr eigenes Leben in den Städten. Und Sie und ich, und all die anderen, die sich hier in dieser Kuppel befinden, wir leben unser Leben. Ist es nicht das, was Sie wollten, Chandra? Ein Leben unter einem blauen Himmel? Grüne Wiesen, saubere Luft? Alt werden? Das wollten Sie doch, oder? Das haben Sie sich die ganze Zeit gewünscht, nicht wahr? Alt werden.“ Er hatte sich wieder hingesetzt. Wie würde sie auf diese Provokation reagieren.

Chandra setzte sich ebenfalls wieder auf den Boden. Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen ab. „Alt werden.“ sagte sie. „So wie Sebastian? Alles verlieren, was einem lieb und teuer ist? Ich sage Ihnen etwas über das Älterwerden. Zuerst verliert man seine Frau und dann... seine Tochter. Nein! Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ob ich das will.“ „Hier in der Kuppel werden Sie das aber können. Sie werden Ihre Freunde nicht verlieren. Und auch nicht Ihre Kinder. Sie wissen nicht, was die Zukunft Ihnen bringen kann, Chandra. Das weiß keiner, nicht einmal ich.“ sagte Zardos. Er stand auf. „Genug für heute.“ „Sie wollen schon gehen?“ „Werden Sie Radon töten? Werden Sie die andere Kuppel zerstören?“ Chandra stand auf und ging zur Wand. Sie legte ihren Kopf an die kalten Fliesen. Nach einer Weile sagte sie schließlich: „Ja, das werde ich. Unter einer Bedingung.“ Zardos runzelte die Stirn. „Eine Bedingung?“ „Sebastian.“ sagte Chandra. „Was ist mit Sebastian?“ fragte Zardos. „Wenn ich es getan habe. Wenn die Kuppel zerstört ist. Wenn Radon tot ist. Dann holt Ihr Sebastian hierher. Ich will, daß er hier in die Kuppel gebracht wird. Das ist meine Bedingung.“ Zardos sah Chandra, wie sie an der Wand stand, wie sie mit sich kämpfte. „Also gut.“ sagte er. „Wenn es vorbei ist, werden Sie Sebastian wiedersehen.“ „Danke.“ sagte Chandra.

Er nickte. „Morgen werden wir mit Ihrem Training fortfahren.“ Sie hob den Arm. Er nickte noch einmal und verließ dann den Raum. Chandra stand noch einige Zeit an der Wand. Sie dachte über vieles nach. Über Zardos, Gabrielle, Radon. Vor allem aber an den Tag, als ihre Mutter gestorben war, mitten auf der Straße. Sie hatte nichts tun können. Und dann war Sebastian in ihr Leben getreten, einfach so. Als ob er schon sein ganzes Leben nach ihr gesucht hatte.

42
Nordstadt, Januar 2041
Er freute sich. Er wußte, Chandra konnte weder lesen noch schreiben, aber sie konnte gut beobachten. Sebastian nahm sich vor, ihr irgendwann mal das beizubringen. Aber vorerst würde es auch so gehen. „Ja.“ sagte er. „Die rote Taste für den Kartenausdruck. Die gelbe für die Preisklasse. Gut, Chandra, sehr gut.“ Sie freute sich. „Danke, Sebastian.“ „Ach was. Bald brauchst du mich gar nicht mehr, hm?“ sagte er. Es sollte sich irgendwie beleidigt anfühlen, aber wenn es darum ging, anderen was vorzumachen... darin war er noch nie gut gewesen. Er hatte anderen seine Gefühle immer offenbart, zumindest den meisten, die er einmal gekannt hatte, auch wenn er es nicht wollte. Diese Zeiten waren lange vorbei. Er hatte sie alle zurückgelassen, damals, als er in die Staaten geflohen war. Seine Freunde. Lebten sie noch? Sebastian stand auf. „Traust du dir zu, heute allein die Karten zu verkaufen?“ „Ich kann nicht rechnen, Sebastian.“ sagte Chandra. Er nickte. „Ja, daran habe ich nicht gedacht. Aber du könntest die Maschine bedienen, wie wäre es damit?“ Sie lachte. Er wußte, damit hatte er ihr eine Freude gemacht. „Na dann los, leg den Film ein, ja?“ Chandra lief hoch in den Vorführraum.

Er sah ihr hinterher. Chandra war ein gutes Mädchen. Er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als er sie gefunden hatte. Sie lag weinend über ihrer toten Mutter, so hilflos. So unschuldig. Dieser Blick, als sie ihn angesehen hatte. Chandras Augen. Sebastian lächelte. Was hätte er denn tun sollen? Sie einfach dort liegen lassen? Chandra hätte die Nacht nicht überstanden. Nein, er war sich bewußt, das einzig richtige getan zu haben. Er hatte sie kurzerhand mit zu sich nach Hause genommen. Er hatte ihr geholfen. Und jedes Lächeln von ihr, jeder glückliche Ausdruck in ihrem Gesicht bestätigte ihm dies. Das Telefon klingelte. Er nahm den Höhrer ab. Es war intern. „Chandra? Ja, ja. Warte... ja, ich komme gleich.“ Als der letzte in den Saal gegangen war, schloß er die Kasse ab und ging zu Chandra in den Vorführraum. „Gibt es Probleme?“ „Der Ton funktioniert nicht.“ sagte Chandra. „Hm, mal sehen.“ sagte er. „Ah, siehst du?“ Er zeigte auf das alte Dolbygerät. „Du hast die Stecker vertauscht. Ist mir auch öfters passiert, mach dir nichts draus.“ Er steckte alles in die richtigen Positionen und sie konnten die Titelsequenz des Films hören. „Es rauscht sehr stark.“ sagte Chandra. Sebastian lächelte. „Ein altes Kino, alte Geräte. Immerhin funktioniert es noch.“ sagte er. Chandra nickte. Dann sagte sie leise: „Ja... noch.“

43
Kuppel
Alle bisherigen Versuche, in die andere Kuppel einzudringen, waren kläglich gescheitert. Das Vorhaben, Chandra auszuschalten, ließ sich somit nicht verwirklichen. Radon verlangte Erklärungen. Und Laura und Nikolai sowie dutzende andere, die dem Projekt zugewiesen waren, taten ihr Bestes. „Sie haben es geschafft, mit den Leuten im IT-Center Kontakt aufzunehmen. Da hat regelmäßiger Austausch von Informationen stattgefunden. Und wir sind nicht in der Lage, wenigstens in das Innere zu sehen?“ Nikolai war enttäuscht. „Was nützt es uns da, wenn wir wissen, wo die sich befinden?“ Pascal, einer der Techniker, meldete sich zu Wort. „Wir haben immer noch die Möglichkeit, auf konventionelle Waffen zurückzugreifen.“ Nikolai winkte ab. „Ja, ich weiß. Das sollten wir allerdings als letzten Schritt in Betracht ziehen, einverstanden?“ Darin waren sie sich alle einig. Warum unnötig Aufmerksamkeit mit Nuklearwaffen erzeugen. „Was ist mit den Schildfrequenzen?“ fragte Laura. „Die wechseln so schnell, wir können da kaum mithalten.“ „Luftüberwachung?“ „Nein, auch nichts.“ „Und wenn wir einfach springen?“ „Das geht nicht.“ sagte Jean. Er hatte sich von der Attacke in der Nordstadt gut erholt, nur das Atmen fiel ihm noch etwas schwer. Er schüttelte den Kopf. „Wir müssen die genaue Frequenz kennen, ansonsten rasen wir direkt auf ein Energiefeld zu, welches uns in Luft auflösen würde.“ „Aber die haben auch Sprünge hierher gemacht!“ „Nein, haben sie nicht. Es waren immer welche von uns, die die Frequenz kannten. Wie gesagt, Springen ist zwecklos.“ Nikolai stand auf. „Seit Wochen schlagen wir uns mit diesem Problem herum. Was soll ich Radon sagen? Er ist ungeduldig, er verlangt Fortschritte. Das ist ihm wichtiger als alles andere.“

Dann sagte jemand aus den hinteren Reihen: „Und wenn wir ihnen eine Falle stellen, einen von ihnen zu uns locken? Das Sprunggerät des Springers könnte seine Einstellungen mit denen des Schildes ständig aktualisieren.“ Nikolai sah sich suchend um. „Wer hat das gesagt?“ „Ich, Sir.“ sagte jemand und trat zu ihm hervor. „Tarnabi? Sie überraschen mich.“ „Wirklich?“ Nikolai nickte. „Ja, in der Tat. Von Ihnen hätte ich so einen Vorschlag nicht erwartet.“ „Danke, Sir.“ sagte Tarnabi. Alle waren erstaunt über Tarnabi. Noch nie hatte die junge Frau so etwas wie Initiative gezeigt, geschweige denn Einsatzwillen. Und jetzt kam sie mit diesem ungeheuerlichen Vorschlag. „Na, dann erzählen Sie mal.“ forderte Nikolai sie auf. Ihr war es unangenehm, vor so vielen Menschen zu sprechen. Sie war keine gute Rednerin. „Nun, ich... also was ich sagen will. Wenn es uns gelingt, einen aus der anderen Kuppel hierher zu bringen... Also, daß er oder sie zu uns springt, meine ich. Wir könnten das Sprunggerät entwenden, dessen Sprungfrequenz unseren anpassen. Nun, wir hätten dann durchaus die Möglichkeit... einige von uns in die andere Kuppel zu bringen... so eine Art, ich meine, so eine Art... Spezialgruppe oder wie man das nennt. Und die könnten dann diese Frau... ausschalten.“ Sie sah sich verlegen um.

Keiner sagte etwas. Tarnabi wußte, daß sie rot angelaufen war und sie vor lauter Scham am liebsten im Boden versunken wäre. Ich hätte besser meinen Mund halten sollen, dachte sie. Dann lächelte Nikolai. Laura, Jean und die anderen blickten sie anerkennend an. „Ich bin gespannt, was Radon dazu meint.“ sagte Nikolai. Tarnabi wurde schlecht. „Radon?“ fragte sie. Oh nein, nicht Radon. Das würde sie nie durchstehen können. Aber dafür war es jetzt zu spät. Zwei Tage danach stand sie im Besprechungsraum vor dem Rat, vor Radon. Sie zitterte am ganzen Leib. Radon hatte sich geduldig ihr Gestammel angehört. Er war die ganze Zeit ruhig gewesen, hatte keine Zwischenfragen gestellt, er hatte nur zugehört. Daß hatte Tarnabi bei ihren Ausführungen noch mehr irritiert, noch nervöser gemacht, als sie es ohnehin schon war. Als sie endlich geschafft hatte, sah sie zu Nikolai, der sie begleitet hatte. Der nickte kurz und zwinkerte ihr zu. Und dann, nach einer schier endlos dauernden Stille, sah Radon aus dem großen Fenster hinaus auf seine Kuppel. „Machen Sie es so.“ sagte er kurz und knapp. Tarnabi lief der Schweiß am Körper herunter. „Sir?“ fragte sie. Radon drehte sich zu ihr herum. „Es ist ein guter Vorschlag, Tarnabi.“ Zu Nikolai sagte er: „Sie werden das in die Hand nehmen.“ Nikolai nickte und ging zu Tarnabi. „Kommen Sie.“ flüsterte er ihr zu. „Ach, noch etwas.“ sagte Radon. Nikolai und Tarnabi blieben stehen. Radon schien zu überlegen. Dann sagte er: „Sie wird mit dabei sein!“ Er deutete auf Tarnabi. Nikolai nickte erneut. Dann packte er Tarnabi am Arm und zog sie aus dem Raum, bevor sie endgültig ohnmächtig wurde. „Geht es?“ fragte Nikolai. Tarnabi setzte sich auf eine Bank, die in dem Gang stand. „Einen Moment. Ich muß nur etwas verschnaufen.“ sagte sie. Nikolai setzte sich zu ihr und sagte: „Sie brauchen keine Angst zu haben.“

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Hinter dem Nebel - Tag 175
Die junge Funkspezialistin rannte aufgeregt zu ihrem Vorgesetzten. „Sir, das haben wir eben empfangen, ein Hilferuf aus der anderen Kuppel.“ Schönberg sah sie an. „Ein Hilferuf? An uns?“ Sie nickte. „Lassen Sie mal hören.“ sagte er. Sie stellte das Tonbandgerät auf den Tisch und ließ den Mitschnitt ablaufen. Es war verzerrt und man konnte nicht alles verstehen, was die Stimme auf dem Band sagte. „...nter gestürmt... gefangen genom... Sie mich empfangen? Hier spricht Fle... das IT-Center ist gestür... en... raus! Holt mich ra... Flex...!“ Sie drückte auf Stop. „Mehr war nicht drin.“ Schönberg fuhr sich durch das Haar. „Stimmenanalyse?“ „Eindeutig Flex. Jemand muß ihn daraus holen.“ Schönberg traute der Sache nicht. Wenn es eine Falle war? „Wenn es eine Falle ist?“ „Und wenn es keine ist? Wenn es wirklich Flex ist? Er hat sein Leben für diese Sache riskiert.“ sagte sie. „Also gut, geben Sie mir das Band. Ich werde mich darum kümmern.“ sagte Schönberg. Dann ging er in das Hauptquartier. Es dauerte nicht einmal eine Stunde, als eine Rettungsmission für Flex beschlossen wurde. Wenige Tage später hatte sich unter Zanders Führung ein Team gebildet, das bereit war, in die andere Kuppel zu springen, um den Mann zu sich zu holen, der dort drüben für sie der wichtigste Kontakt war, bevor der Funkverkehr mit dem IT-Center zusammengebrochen war. Zander hatte gute Arbeit geleistet, als er Chandra geholt hatte. Es war nur logisch, ihn die Mission führen zu lassen. Alle Beteiligten waren sich sicher, daß es keine Probleme geben würde. Sie irrten.

45
Hinter dem Nebel - Tag 231 (Unten)
Zardos hatte immer noch die schwarze Binde um seinen Oberarm, als er den Raum betrat. Zander war für ihn mehr als nur einer seiner Art gewesen. Zander war sein Freund. „Und dann seid Ihr in eine dumme Falle getappt.“ sagte Chandra und lächelte spöttisch. Sie war noch immer hinter dem Kraftfeld, obwohl sie ihre Macht mittlerweile recht gut beherrschte. Es gelang ihr mehr und mehr sie zu kontrollieren. „Machen Sie sich über mich lustig?“ fragte Zardos. Chandra lachte. „Ich mache mich nicht über Sie lustig, Zardos. Über die anderen. Selbst ich wäre nicht darauf eingegangen. Das war doch offensichtlich.“ Zardos sah sie an. Natürlich, das war es. Er wußte nicht, warum alles so schnell gegangen war. Warum man der Stimmenanalyse einer Frau glaubte, die erst vor wenigen Wochen die Ausbildung zur Funkspezialistin abgeschlossen hatte. Warum nicht einmal Zander Verdacht geschöpft hatte. „Wenigstens wissen wir nun, daß die anderen alles versuchen, Sie zu töten. Sie haben es nicht einmal auf uns abgesehen. Die wollen Sie töten, Chandra. Sie!“ „Ja, und es ist ihnen nicht gelungen.“

Sie hatte sich mit dem Rücken auf den Boden gelegt und sah in die hellen Neonröhren. Sie dachte nach. Zardos sagte irgendwas, aber sie hörte nicht hin. „Deren Eindringen war ebenso planlos und übereifrig wie unsere angebliche Rettungsaktion.“ sagte Zardos. „Nun, ein zweites Mal wird dies nicht passieren.“ Er sah zu Chandra. „Chandra?“ Er wartete. Dann sagte er etwas lauter: „Chandra! Hören Sie mir überhaupt zu?“ Sie drehte ihren Kopf in seine Richtung. „Es ist bald soweit, nicht wahr?“ sagte sie. Zardos sah sie an. Chandra sah wieder nach oben. „Es ist bald soweit. Ich spüre es. In wenigen Tagen ist meine Ausbildung vorbei, Zardos. Dann gibt es nur noch eines zu tun.“ „Chandra?“ „Ich töte Radon, vernichte die andere Kuppel. Und Sie holen Sebastian!“ „Ja.“ sagte Zardos. Endlich war sie soweit. Er hatte es geschafft. Chandra war besessen von Radon, der Kuppel. Er war sich sicher, ganz sicher. Gute Arbeit, dachte Zardos. Da lag sie vor ihm, hinter einem Kraftfeld auf dem kalten Boden. Eine perfekte Vernichtungswaffe. Stärker als alles andere, was man kannte. „Drei Monate, Chandra.“ sagte er. „In drei Monaten ist es soweit. Bis dahin werden Sie sich schonen. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.“ Chandra nickte. Sie versuchte ein wenig zu schlafen.

46
Nordstadt, November 2045
Chandra machte es sich in ihrem Bett gemütlich. Sie hatte den Fernseher eingeschaltet. Normalerweise verfolgte sie die Nachrichten, wenn auch zunehmend desinteressiert. Aber sie hatte heute auf dem Schwarzmarkt gut getauscht. Vor ihrem Bett stand eine kleine Schale mit Weintrauben, äußerst selten und sehr schwer zu bekommen. Chandra hatte sich dafür von ihren geliebten Puppen getrennt, die sie eigentlich nie weggeben wollte. Aber jetzt war es egal. Genüßlich steckte sie sich eine Traube in den Mund, während im Fernsehen irgendein Film aus den Jahren lief, als die Studios noch Geld für Filmproduktionen hatten. Chandra war zufrieden. Sie hatte Obst, es lief ein guter Film im Fernsehen, und nicht einmal der Lärm störte sie an diesem Abend. Es könnte perfekt sein, wenn... Ja, wenn ihre Mutter noch da wäre, dachte sie. Sie hatte es nie so richtig verstanden. Wenn Sebastian so alt werden konnte, er war nun schon achtundsechzig, warum dann nicht ihre Mutter? Sie aß eine weitere Traube.

Plötzlich klopfte es an die Tür. Das war ungewöhnlich. Nur Lubber oder Riffle klopften an Chandras Wohnungstür. Es war auch nicht das Klopfen, wie sie es mit den beiden vereinbart hatte. Dann klopfte es wieder. Sechs Mal kurz hintereinander. Chandra stand auf und ging zur Tür. Sie sah durch den Spion. Es war Riffle. Etwas erleichtert öffnete sie dir Tür. „Riffle, was gibt es?“ fragte sie. Riffle lief eine Träne über das Gesicht und sagte leise: „Chandra, ich konnte nicht... es tut mir leid. Ich wurde gezwungen.“ Er drehte seinen Kopf leicht nach links. Chandra verstand. Bevor sie die Tür wieder zuschlagen konnte, wurde Riffle zu Boden geworfen und ein großer kräftiger Mann stemmte sich gegen Chandras Tür. Sie schaffte es nicht. Der Mann schubste sie in ihre Wohnung. Chandra stolperte über die Schale Weintrauben. Sie fiel zu Boden und stieß sich ihren Kopf dabei an der Bettkante. Sie wurde bewußtlos. Der Mann ging wieder nach draußen. Riffle lag noch immer auf dem Flur. Als er den Mann sah, versuchte er zu fliehen, es gelang ihm nicht. Der Mann packte Riffle, hob ihn auf, schleppte ihn ins Treppenhaus und warf Riffle schließlich die Treppe runter. Als Riffle regungslos liegen blieb, ging der Mann wieder zurück in Chandras Wohnung und machte hinter sich die Tür zu.

Als Chandra ihre Augen öffnete, lag sie auf ihrem Bett. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie hob ihren Kopf. Sie war nackt, und an das Bett gefesselt. Sie hörte, wie jemand ihren Kühlschrank durchsuchte. Er ist immer noch hier, dachte sie. Sie bekam Angst. „Ich habe nichts Wertvolles!“ rief sie. Dann kam der Mann aus der Küche zurück ins Wohnzimmer. Er sah zum Fernseher, der immer noch lief. „Du bist wertvoll!“ sagte er und drehte den Ton des Fernsehers bis zum Anschlag. Er kam auf sie zu und kniete sich an das Bett. Chandra zitterte am ganzen Körper. „Hast du Angst?“ fragte er sie. Seine Augen waren so gefühlslos, seine ganze Art so kalt und abstoßend. „Was wollen Sie von mir?“ Er legte seine Hand auf ihre Brust und begann sie zu massieren. „Gefällt dir das?“ wollte er wissen. Dabei sah er sie immer noch mit diesem ausdruckslosen Blick an, als ob er selbst überhaupt nichts empfand. „Was wollen Sie von mir?“ fragte Chandra wieder. Seine Hand glitt nach unten und war schließlich zwischen ihren Beinen. Er kam mit seinem Kopf ganz nah an sie ran und flüsterte Chandra ins Ohr: „Das weißt du doch! Du weißt doch, warum ich hier bin.“

Und jetzt fiel es Chandra wieder ein. Es war der Mann vom Schwarzmarkt, von dem sie das Obst hatte. Er war ihr gefolgt, und sie hatte es nicht bemerkt. Oh nein, dachte sie. „Bitte nicht.“ flehte Chandra. Sie hatte angefangen zu weinen. Doch ihn schien es offenbar nicht zu stören. Stattdessen stand er auf, zog sich aus und legte sich auf Chandra. Nach wenigen Minuten hatte sich Chandras Verstand ausgeschaltet. Der Mann hatte ihren Willen gebrochen. Teilnahmslos ließ sie die Schläge über sich ergehen. Die Beschimpfungen. Die Vergewaltigungen. Der Mann begann sie zu würgen. Chandra war es egal, sie zeigte keine Gegenwehr. „Wehr dich, du Miststück!“ schrie der Mann und schlug ihr mit der Faust in den Magen. Dann ins Gesicht.

Vielleicht war es Glück für Chandra gewesen, daß sie wieder in eine Ohnmacht fiel, die sie an einen Ort weit weg brachte. An einen Ort, wo es einen blauen Himmel gab. Und ihre Mutter mit offenen Armen auf sie wartete. Und als Chandra gerade Dana berühren wollte, wachte sie auf. Der Mann war weg. Sie lag noch immer gefesselt auf dem Bett. Sie spürte eine warme Flüssigkeit zwischen ihren gespreizten Beinen. Blut? Es war wohl der Schock, der sie so gnadenlos nachdenken ließ. Es muß Blut sein. Er hat mich... Sie wurde wütend. Dann erst, nach dieser Feststellung, erwachte Chandra aus ihrer Lethargie und begann zu schreien. Ihre ganze Wut brach aus ihr heraus. Ihre ganze Verzweiflung, ihr ganzer Hass auf diese ungerechte Welt, in der sie lebte, leben mußte.

Während Chandra in ihrer kleinen Wohnung ihrer Wut freien Lauf ließ, ereigneten sich direkt vor ihrem Haus merkwürdige Vorfälle. Menschen wurden durch die Luft geschleudert, Polizeiautos überschlugen sich. Alle Bewohner des Hauses mußten sich irgendwo festhalten. Es war, als ob ein Erbeben die Stadt heimsuchen würde. Und im Treppenhaus explodierten die Glühbirnen. Nicht nur, daß die Fahrstühle nicht funktionierten, nun würde auch im Treppenhaus völlige Dunkelheit herrschen.

Spät in der Nacht hatte sie sich von den Fesseln befreien können. Chandra stand unter der Dusche. Sie lehnte mit ihrem Kopf an der Wand, während das heiße Wasser an ihr herunter lief. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt, noch nie. Selbst als ihre Mutter mitten auf der Straße gestorben war, selbst da war sie nicht allein gewesen. Chandra dachte nach. Und Riffle? Warum hatte der Mann ihn bei sich gehabt, ihn gezwungen, ihn zu Chandras Wohnung zu bringen? In diesen schmerzvollen Momenten, als sie unter der Dusche stand, wurde Chandra eines bewußt. Sie war siebzehn Jahre alt. Und sie war von der Grausamkeit der Nordtstadt, der Welt gezeichnet, für immer. Niemand konnte ihr zurückgeben, was ihr genommen wurde. Niemand.

Fast eine Woche traute Chandra sich nicht, die Wohnung zu verlassen. Dann, als sie es wagte, und schließlich Sebastians kleines Kino erreicht hatte, sah sie seine Besorgnis, sein Entsetzen. Ihre Bemühungen, die Spuren der Schläge zu beseitigen, hatten nicht gefruchtet. Sebastian wagte es nicht, Chandra anzusprechen. Sie war mehrere Tage nicht zum Dienst erschienen. Sicher, er war verärgert. Aber als er sie sah, wie sie vor ihm stand, bemüht so zu tun, als ob nichts geschehen war, da hatte er es begriffen. Es war kein Unfall, wie Chandra es ihm gesagt hatte. Als Chandra am Abend gegangen war, saß er in seiner Wohnung und dachte nach. Er fühlte sich hilflos. Er hatte Chandra nicht helfen können. Er schaltete den Fernseher ein, aber selbst der konnte ihn nicht ablenken. Sebastian sah die ganze Nacht, selbst im Schlaf, Chandras Gesicht vor sich. Dieses geschundene Gesicht. Die aufgerissenen Lippen. Die Kratzer an den Wangen. Die Blutergüsse unterhalb der Augen. Das war kein Unfall gewesen. Jemand hatte Chandra Leid zugefügt. Sie war doch erst siebzehn Jahre alt, dachte er. Aber das war das Schlimme an der Nordstadt. Hier zählte nicht, wie alt man war. Hier konnte jeder Opfer sein... und Täter.

Einige Tage später erzählte ihm Chandra schließlich alles. Er hatte nicht damit angefangen. Vielleicht hatte sie nur jemanden gebraucht, mit dem sie ihren Schmerz teilen konnte. Es war nur logisch, daß dieser Jemand Sebastian war. Sie saßen im Vorführraum des kleinen Kinos. „Hätte ich zur Polizei gehen sollen?“ fragte Chandra. „Die haben genug mit den Unruhen zu tun.“ sagte er. Er sah sie an. Er versuchte sich vorzustellen, wie es für Chandra gewesen sein mußte. Diese grausamen Stunden. Aber es war zwecklos. Kein Mann kann das. „Und... bist du schwanger?“ Chandra schüttelte den Kopf. „Nein, er hatte sich geschützt. Immerhin, was?“ Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht richtig. Sebastian holte etwas Obst und gab es ihr. „Hier nimm! Ich brauche es nicht. Nicht wirklich.“ Das stimmte, sein ganzes Leben hatte er eigentlich ungesund gelebt, erst als er seine Frau traf, hatte er mit dem Rauchen und Trinken aufgehört. „Danke.“ sagte Chandra und nahm das Obst.

Als Chandra wieder nach Hause gegangen war, fasste Sebastian einen Entschluß. Am nächsten Morgen stand er schon sehr früh auf. Er ging zu den Markthallen. Chandra hatte den Mann gut beschrieben, und wenn er da sein sollte, würde es sicherlich nicht schwer fallen, ihn ausfindig zu machen. Sebastian ging an den vielen Ständen entlang. Und dann hatte er den Mann entdeckt. Eigentlich hatte Sebastian ihn nur zur Rede stellen wollen, aber als er den Mann sah, der mit einem freundlichen Lächeln seine Tauschgeschäfte vornahm, da fühlte er nur noch Abscheu und Hass für den Mann. Dieser Mann, er hatte Chandra weh getan. Mehr als das. Viel mehr. Sebastian verließ die Markthallen und wartete geduldig an einer Straßenecke. In wenigen Stunden würde der Schwarzmarkt für heute seine Tore schließen. Später in der Nacht fanden zwei zufällig anwesende Polizisten in der Nähe der Markthallen einen Toten. Einer unter vielen. Ihm war der Schädel mit einem dumpfen Gegenstand eingeschlagen worden. Wahrscheinlich eine Eisenstange oder etwas ähnliches. Zur gleichen Zeit säuberte Sebastian das Tischbein, welches er abgeschraubt hatte. Zur gleichen Zeit konnte Chandra endlich einmal ohne die in den letzten Tagen wiederkehrenden Alpträume einschlafen. Nichts Ungewöhnliches für die Nordstadt. Es war auch nicht ungewöhnlich, daß am nächsten Tag einer der Stände geschlossen blieb. Viele ärgerten sich nur, daß es ausgerechnet einer der Obststände war.

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Hinter dem Nebel - Tag 315
Der Tag war gekommen, es war soweit. Zardos konnte Chandra nichts mehr beibringen. Sie war nun fähig, ihre Gedanken zu kontrollieren, ihre Macht gezielt einzusetzen. „Gibt es noch andere wie mich?“ hatte sie ihn einmal gefragt. Es war eine schwierige Frage. „Es ist nicht leicht, Ihnen eine vernünftige Antwort zu geben. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht? Möglich, daß es da draußen Menschen gibt, die so wie Sie verändert wurden. Es gibt immer noch Millionen von Menschen, trotz der Krankheit.“ „Aber generell ist es möglich?“ fragte sie. „Ja.“ Da stand er nun vor ihr, und das erste, was ihr einfiel, war dieses Gespräch gewesen. Chandra sah erholt aus. Sie wirkte unbelastet, als ob ihr nichts und niemand etwas anhaben konnte. Er lächelte. Es war ja auch so. Die anderen hatten es versucht. Er konnte sich noch an dieses junge Mädchen erinnern, etwa so alt wie Chandra. Wie sie und die anderen in ihre Kuppel eingedrungen waren. Natürlich war man überrascht gewesen, schließlich hatte man Zander erwartet, und Flex. Stattdessen ein Killerkommando, welches es auf Chandra abgesehen hatte. Aber sie waren gescheitert. Radon war gescheitert, an Chandra. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte Zardos. Chandra nickte leicht und sagte: „Gut. Nun ist es also soweit. Ihr könnt mich auf die anderen loslassen. Ihr könnt mich von der Kette nehmen.“ Zardos gefiel der Sarkasmus überhaupt nicht, den Chandra in den letzten Monaten entwickelte. Das war nicht gut. Er zögerte einen Moment, bevor er das Kraftfeld deaktivierte. Er hatte es Chandra nicht gesagt, aber das Kraftfeld war sowiso nicht stark genug, um Chandra aufzuhalten. Ob sie das wußte? Er vermutete es, aber wenn, dann ließ Chandra es sich nicht anmerken. Sie hatte gelernt, ihre Gedanken vor ihm zu verbergen. „Gehen wir.“ sagte er. Beide verließen den Raum, in dem Chandra fast acht Monate ihres Lebens verbracht hatte.

„Denken Sie an unsere Abmachung.“ sagte Chandra. Zardos lächelte. „Wenn Sie wieder zurück sind, wird Sebastian auf Sie warten.“ Chandra blieb stehen. „Es ist mein Ernst, Zardos.“ Er sah sie an. „Ich weiß.“ sagte er. Sie fuhren nach oben. „Wird Gabrielle da sein?“ fragte sie. Zardos antwortete nicht. „Zardos?“ „Nein, wird sie nicht.“ „Warum nicht?“ Zardos schwieg. Chandra sah ihn an, aber Zardos blickte starr nach vorne und vermied es, sie anzusehen. Als sie den Fahrstuhl verließen und Chandra nach langer Zeit erstmals wieder an der Oberfläche war, fiel es ihr sofort auf. „Was ist hier passiert?“ fragte sie Zardos. Dort, wo die Bibliothek gestanden hatte, lagen nur Trümmer aus Metall und Holz. „Das waren die anderen. Sie sprangen direkt vor die Bibliothek und eröffneten sofort das Feuer. Wir haben sie kaum aufhalten können. Aber das wissen Sie. Schließlich sind sie bis zu Ihnen vorgedrungen. Erst dort, und dank Ihnen, wurden sie schließlich... gestoppt.“ Chandra sah sich um und sagte: „Sie meinen, vernichtet, durch mich.“ Zardos nickte. „Ja natürlich. Vernichtet.“ „Zardos! Was ist mit Gabrielle!“ „Wenn ich Ihnen das sage, ist die ganze Mission gefährdet. Die vergangenen Monate wären umsonst gewesen.“ „Ich habe es unter Kontrolle.“ sagte Chandra. Sie wußte, was passiert war. Warum Zardos die ganze Zeit ihren Fragen in Bezug auf Gabrielle ausgewichen war. „Sie ist tot, nicht wahr?“ fragte sie. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, spürte Chandra so etwas wie Verzweiflung, die Zardos befallen hatte. Er sah sie an. „Sie müssen mir glauben, daß es mir nicht leicht gefallen ist, Ihnen das vorzuenthalten, Chandra. Ich habe jeden Tag mit meinem Gewissen gekämpft, ob ich es Ihnen sagen sollte.“ Er sah zu den Resten der Bibliothek. „Sie stand direkt am Eingang. Sie hat nichts gespürt, war auf der Stelle tot. Das haben mir die Ärzte bestätigt. Ein gezielter Kopfschuß. Gabrielle mußte nicht leiden.“ Chandra sagte nichts. Sie war traurig. „Ich hätte sie gerne noch einmal gesehen.“ Zardos wußte, wie Chandra empfand. „Auch ich habe einen Freund verloren, Chandra.“ sagte er. „Zander ist ebenfalls gestorben, in der anderen Kuppel.“ Chandra nickte. „Ich bin bereit.“ sagte sie. Zardos und Chandra gingen zum Teleporter. Unterwegs kamen sie an vielen Menschen vorbei, die Chandra ehrfurchtsvoll ansahen. Dann hatten sie den Teleporter erreicht. Der Countdown wurde eingeleitet. Noch zwei Stunden bis zu Chandras Sprung. „Viel Glück!“ sagte Zardos und reichte ihr die Hand. „Sie bleiben nicht?“ fragte sie und legte ihre Hand in seine. „Nein, Chandra. Wir sehen uns, wenn alles vorbei ist.“ Zardos nickte ihr zu und entfernte sich dann. Sie sah ihm hinterher. Dann kamen auch schon die unzähligen Ingenieure und Techniker, welche ihr letzte Anweisungen gaben.

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Kuppel
Es war nur eine Frage der Zeit, wann Chandra erscheinen würde. Seit Wochen liefen die Vorbereitungen für ihr Auftauchen. Fast alle, die sich in der Kuppel befanden, wurden mit Waffen ausgerüstet. Nikolai brachte Laura eine Tasse Tee. „Danke.“ sagte sie. „Denkst du noch an sie?“ fragte Laura. „An Tarnabi?“ Sie nickte. „Ja, manchmal schon. Es war ein Fehler, sie springen zu lassen. Radon hätte es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen.“ Er gab sich die Schuld an dem Scheitern des letzten Versuches, diese Frau in der anderen Kuppel unschädlich zu machen. Laura nahm einen kleinen Schluck. Sie stellte die Tasse ab. „Weißt du, was ich mich manchmal frage?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, was denn?“ „Diese Frau, Chandra. Es ist doch die Tochter von Radon.“ „Ja, und?“ „Warum hat er sie verleugnet?“ „Worauf willst du hinaus, Laura?“ „In der letzten Versammlung hatte er doch zugegeben, verantwortlich zu sein für das, was sie heute ist.“ „Laura?“ „Ich will damit sagen, daß er zum Teil dafür gesorgt hat, daß wir uns in der jetzigen Situation befinden, meinst du nicht?“ Sie sah ihn fordernd an. Ob sie seine Zustimmung erwartete? Nikolai begann zu überlegen. Er sagte: „Kann sein, daß Radon in seiner Vergangenheit Fehler gemacht hat. Aber das Resultat Chandra? Ich weiß nicht, Laura. Ich weiß es nicht. Es war doch Radons Frau gewesen, die nicht mit in die Kuppel wollte, Chandra bei sich behielt. Ich denke, auch Dana hatte eine gewisse Mitschuld. Immerhin hat sie ja ihre Tochter behalten, und nicht Radon mitgegeben. Vielleicht wäre es dann gar nicht erst so weit gekommen.“ Laura begann zu lachen. „Oh ja, natürlich! Wir Frauen sind schuld.“ Nikolai stöhnte. Nicht schon wieder solch eine Diskussion. Nicht noch einmal. „Laura! Warum fängst du immer wieder damit an. Haben wir nicht genug zu tun? Chandra kann hier jeden Moment auftauchen. Morgen. Heute.“ Laura setzte sich zu ihm auf den Stuhl und umarmte ihn. „Ich habe Angst, Nikolai. Radons Tochter will uns vernichten. Was haben wir denn getan?“ Er strich ihr über das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Dann sagte er leise: „Was wir getan haben? Wir leben abgeschottet vom Rest der Menschheit, Laura. Wir sind nur auf unseren Vorteil bedacht. Das haben wir getan. Und dafür werden wir nun bestraft. Glaub mir, keiner hat das gewollt. Ich nicht, Radon nicht. Und... Chandra bestimmt auch nicht. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr. Wenn sie kommt, werden wir kämpfen müssen. Wenn es stimmt, was Radon über ihre Fähigkeiten gesagt hat, dann wird es sehr schwer werden. Sie wird wie ein Orkan über uns hereinbrechen.“ „Werden wir sie aufhalten können?“ Er gab Laura einen Kuß. „Ich weiß es nicht, Laura, ich weiß es nicht. Ich denke, daß es sehr schwer werden wird.“ Sie schmiegte sich noch enger an ihn. Er hatte auch Angst. Nikolai wußte nicht, wie es enden würde. Aber er gab der Kuppel, sich und Laura nur geringe Chancen.

49
Kuppel
„Alles verändert sich.“ flüsterte Radon seinem Spiegelbild zu. Er befand sich in seinem Badezimmer. „Alles hat sich verändert.“ Er sah sich an. Die Falten, das graue glatte Haar. „Alles, wofür du gelebt, gekämpft hast, wird zerstört werden.“ Als Radon vor dem großen Spiegel stand, sich betrachtete, in diesem Moment fühlte er sich schuldig. Er hatte die Krankheit erschaffen. Er hatte Chandras Gene verändert. Er allein hatte das Ende für die Kuppel zu verantworten. Ob Flex noch lebte, dort draußen? Radon ging zurück in das Wohnzimmer. Die Versuche, das Unmögliche doch noch zu verhindern, sie waren gescheitert. Allein die letzte Mission war ein Fiasko gewesen. So viele waren gestorben. Allen voran diese junge Frau, Tarnabi. Sie hatte ihn an Dana erinnert, irgendwie. Er konnte nicht genau sagen, was es war, vielleicht die Augen. Tarnabi war gestorben, ebenso wie die anderen, die in die andere Kuppel gesprungen waren. In den vergangenen Tagen hatte Radon keine lachenden Gesichter mehr gesehen. Nur noch Angst war zu spüren. Ob Chandra aufzuhalten war? Konnten die Waffen sie aufhalten? Radon ging zu seinem Schreibtisch, zog eine Schublade auf und holte eine Pistole hervor. Als er sie in seiner Hand hielt, begann er zu zweifeln. Jetzt hilft uns nur noch ein Wunder, dachte er.

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Hinter dem Nebel - Tag 315
Chandra stand auf der Plattform. Sie war allein. In wenigen Minuten würde sich ihr Körper in Milliarden von Atomen spalten, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch das Schutzschild hindurch direkt zur anderen Kuppel rasten, um sich dort in einen Boten des Zorns und Verwüstung zu verwandeln. Für Chandra gab es keinen Weg zurück. Sie war fest entschlossen, ihre Macht gnadenlos walten zu lassen. Es würde kein Erbarmen geben. Und wenn alles vorbei sein würde, dann wartete Sebastian bereits auf sie in der Kuppel. Hinter dem Nebel. Langsam wurden die wärmeabsorbierenden Wände hochgefahren. Sie waren dick genug, um den Wärmeausbruch zu widerstehen, der bei einem jeden Sprung entstand. Chandra schloss die Augen. Jeden Moment konnte es soweit sein. Ihr fuhren so viele Gedanken durch den Kopf, daß es aussichtslos war, sich zu konzentrieren. Von weit her hörte sie eine Stimme, welche die letzten Sekunden des Countdowns ansagte. Ich bin bereit, dachte sie. Bereit. Ich bin bereit. Ich bin bereit. Und dann wurde Chandra auseinander gerissen, ohne daß sie dabei Schmerzen fühlte. Chandras Atome schossen durch den Raum. Sekunden später fügten sie sich wieder zusammen. Und das Erste, was Chandra sah, als sie sich mitten in einem Park in der anderen Kuppel wiederfand, waren die entsetzten Gesichter der Menschen, die sie nun auslöschen würde.

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Nordstadt
Lubber hatte genug von dem Streit zwischen seinen Eltern. Leise schlich er sich ins Bad und steckte den Kamm seiner Mutter in die Tasche. Dann streifte er sich das Cape über und verließ die Wohnung. Es war noch sehr früh am Morgen, eine Zeit, zu der Täter schlafen gingen und Opfer sich noch im Bett befanden und träumten, wenn sie denn das eine hatten, oder das andere konnten. Als er im Treppenhaus stand, blieb er wie jeden Tag stehen und sah hoffnungsvoll nach oben, in der Erwartung, ein bekanntes Gesicht würde ihm entgegenkommen. Aber Chandra war nun einmal weg, verschwunden, seit fast einem Jahr. Und der einzige, der etwas über ihr Verschwinden sagen konnte, war tot, gestorben vor Chandras Wohnungstür. Lubber ging nach unten auf die Straße. Die Markthallen hatten bereits geöffnet, und wenn der Kamm nichts bringen würde, eine seiner vielen Taschenlampen tat es bestimmt auch. Auf dem Weg zum Schwarzmarkt überlegte Lubber, auf was er Lust hatte. Obst? Oder vielleicht ein Tape für seine alte Musikanlage, die er in einer verlassenen Wohnung im vierzehnten Stock gefunden hatte. Der eigentliche Grund, warum Lubber in letzter Zeit immer öfters zu den Markthallen ging, war jedoch der, damit er mit jemandem reden konnte. Früher war das Chandra gewesen, die er ab und zu im Treppenhaus traf. Aber seit sie weg war... Mit seinen Eltern zu reden, es war zwecklos. Lubbers Mutter war wie viele hier in der Stadt arbeitslos, bezog nur eine kleine Sozialhilfe. Und sein Vater? Der arbeitete in einer der Kliniken am Schalter. Und wenn er nach Hause kam, wollte er nur noch Ruhe haben. Doch es endete immer wieder in endlosen Streitereien. Lubber hatte genug davon. Er hatte genug von seinen Eltern. Noch war er zu jung, um einfach auszuziehen, aber in drei Jahren würde er es tun. Das hatte er sich geschworen. Er hatte den Schwarzmarkt erreicht. Er wollte sich gerade desinfizieren lassen, als es begann.

Am Anfang war es nur ein leichtes Vibrieren des Bodens. Ein Erdbeben, weit entfernt, dachte er. Doch dann wurde das Vibrieren stärker und stärker, so daß sich Lubber festhalten mußte, um nicht umzufallen. Plötzlich sahen er und die anderen, die sich bei den Markthallen befanden, ein grelles gelbliches Licht. Lubber schloß die Augen. Das Licht schmerzte und es blendete ihn. Als er seine Augen geschlossen hatte, glaubte er, ein Donnern zu hören, ein leises, schwaches Donnern. Ihm fiel ein, daß er einmal von Nuklearwaffen gehört hatte. Atombomben. Aber so etwas gibt es nicht mehr, sagte er sich. Minuten später raste eine gewaltige Druckwelle durch die Stadt. Menschen wurden durch die Luft geschleudert, Fenster gingen zu Bruch, die wenigen verdorrten Bäume wurde entwurzelt. Autos überschlugen sich, es herrschte Chaos. Als Lubber es wagte, hinter der Mauer hervorzukriechen, wo er Schutz gesucht hatte, blickte er sich um. Überall lagen Tote, erschlagen von Autos oder herumfliegenden Steinen. Die Markthallen waren zusammengebrochen. Was ist hier passiert? Lubber lief nach Hause. Aber da war nichts mehr. Nur noch Reste. Ein gewaltiger Schutthaufen aus Stahl, Beton und morschem Holz. Er sah die fassungslosen Gesichter der Menschen, die ungläubig vor den Trümmern standen, unfähig etwas zu unternehmen. Hörte er Schreie aus dem Inneren des Haufens? Und seine Eltern? Irgendwie verspürte er keine Trauer darüber, daß sie unter mehreren tausend Tonnen Geröll begraben waren, und wahrscheinlich schon gar nicht mehr unter den Lebenden weilten. Was Lubber wirklich bemerkenswert fand war, daß zumindest im Zentrum der Stadt nur die Markthallen und dieses Hochhaus durch die Druckwelle zerstört worden waren. Sicher, sämtliche Häuser in der Umgebung hatten keine Fenster mehr, oder Türen. Aber nur die Markthallen und dieses eine Hochhaus hatte es richtig getroffen. Lubber stand vor dem Haufen Geröll, seinem ehemaligen Zuhause. Dann drehte er sich um und ging davon. Er sah nicht mehr zurück. Er wußte nicht, wohin er gehen würde, was ihn erwartete. Lubber wußte nur eines. Er brauchte keine drei Jahre mehr, um sich von nun an allein durch dieses jämmerliche Leben zu schlagen.

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Kuppel - Exitus
Erschöpft brach Chandra zusammen. Es hatte Kraft gekostet. Langsam lichtete sich der Nebel. Mühsam hob sie ihren Kopf und sah sich um. Mehr und mehr konnte sie erkennen, was sie getan hatte, zu was sie fähig gewesen war. Von der Kuppel war nicht mehr viel übrig. Ihr Zorn, ihre Wut, ihr Wille zur Zerstörung hatte enorme Züge angenommen. In dem Moment, als sie in der Kuppel landete, die Menschen gesehen hatte, die nach den ersten Sekunden der Überraschung ihre Waffen gegen sie erhoben, in diesem Augenblick hatte sie nur einen Gedanken gehabt. Tod! Nichts mehr und nichts weniger. Nur Tod. Also hatte Chandra ihre Arme ausgebreitet, die Augen geschlossen und es einfach getan. Kleine gelbliche Blitze hatten begonnen, sich um ihren Körper zu schlängeln. Die Blitze wurden größer und größer, bis sie schließlich fast die gesamte Kuppel einnahmen. Und dann entzündeten sich die Blitze mit einer Wucht, der selbst Chandra kaum standhalten konnte. Ein gelber Feuersturm verschlang die Kuppel. Und von dessem Zentrum, welches Chandra war, ging eine Druckwelle aus, die mit ohrenbetäubendem Geheul alles in Luft auflöste, was sich ihr in den Weg stellte. Erst viele Kilometer später flachte die Wirkung ein wenig ab, und als die Druckwelle die Nordstadt erreichte, hatte sie ihre Kraft schon fast verloren. Nur noch dunkler Boden, bedeckt mit wenigen Teilen der zerstörten Kuppel sowie eingen Leichnamen lag vor Chandra. Und seit Ewigkeiten sah sie keinen blauen Himmel, sondern einen dunklen, durch Staub und Schmutz fast gräulichen. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Wie lange war sie hinter dem Nebel gewesen? Ein Jahr?

Sie hörte ein Geräusch. Eine Gestalt kam auf sie zu. Ein Mann. Ein großer, alter Mann. Sie wußte, wer er war. Chandra war sich sicher, daß er auch wußte, wer sie war. Der Mann blieb vor ihr stehen. Sie sah die Trauer und die Enttäuschung in seinen Augen. „Ich hatte keine Wahl.“ sagte sie leise. „Nein, die hattest du wohl nicht, Chandra. Du weißt, wer ich bin?“ Sie nickte. „Und du fragst dich jetzt, wie ich das von dir verursachte Chaos überleben konnte, nicht wahr?“ Sie nickte erneut. „Nun, sie mögen mir die Pläne gestohlen haben, aber manches Detail wird erst später neu hinzugefügt.“ „Sie meinen, eine Art Schutzkammer?“ „Ja, Chandra. Eine Schutzkammer. Etwas ähnliches.“ Sie sahen sich an. Chandra fragte: „Und was soll ich jetzt tun?“ „Du würdest deinen Vater töten?“ „Sie haben versucht, mich zu töten, Radon. Wollen Sie das leugnen? Wollen Sie leugnen, daß ich durch Sie so geworden bin?“ Radon holte tief Luft und sagte: „Ich sehe, die anderen haben ganze Arbeit geleistet, dich dazu zu bringen, mich zu hassen.“ „Dafür habe ich nicht die anderen gebraucht. Meine Kindheit hat im wesentlichen dazu beigetragen.“ „Oh, du redest von deiner Mutter... Dana. Ja, auch sie hatte gewiss Anteil daran.“ „Nicht so sehr wie Sie.“ sagte Chandra und hob eine Eisenstange vom Boden auf. Radon ging einen Schritt zurück. „Willst du mich damit umbringen? Mit einer... hm, gewöhnlichen Eisenstange?“ Sie ging auf ihn zu. „Wozu Kraft verschwenden.“ Er ging weiter rückwärts. Radon stolperte und fiel zu Boden. Bevor Chandra die Eisenstange zum Schlag erhob, rief er ihr zu: „Eines solltest du dich noch fragen, Chandra.“ Sie zögerte und sah ihn an.

Er nickte und deutete auf Chandras Schutzanzug. „Die feinen Silberfäden, die eingearbeitet worden sind. Nicht jeder hat so einen Anzug.“ „Es ist mein Anzug.“ sagte Chandra. „Ja, genau.“ rief Radon. „Es ist deiner. Aber glaube mir, die Fäden haben einen bestimmten Zweck.“ Sie senkte die Eisenstange. „Zweck?“ „Sprengstoff, Chandra. Oder etwas anderes, was mit einer Fernzündung ausgelöst werden kann. Oder durch einen Impuls aus dem Orbit, was auch immer.“ Chandra sah sich die Silberfäden an, die quer über den Schutzanzug lagen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Unsinn! Warum sollten die das wollen. Ich bin wichtig für sie.“ „Du warst es, Chandra. Jetzt... nicht mehr. Jetzt nicht mehr.“ Radon hob beschwichtigend die Hand. „Kann ich aufstehen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Also gut.“ sagte er und blieb am Boden sitzen. Sie wird mich so oder so töten, dachte Radon. Warum dann nicht auch die anderen? Er sah sie an. Ob sie seine Gedanken lesen konnte? Wie einige von den Mutanten? Auch Chandra war eine Mutation, einmalig. „Reden Sie!“ sagte Chandra. „Wir hatten auch solche Anzüge.“ sagte Radon. „Es ist einer von den Menschen, die damals in die andere Kuppel eingedrungen sind.“ „Ich trage den Schutzanzug eines Toten?“ „Ja, siehst du? Dort, unterhalb deines Ellenbogens.“ Chandra drehte leicht ihren Arm. Auf dem Anzug war ein rotes R eingraviert worden. „R?“ fragte sie. Radon nickte. „Ja, R wie... Radon. Verstehst du jetzt? Du solltest nur meine Kuppel vernichten, mich töten. Für mehr bist du nicht eingeplant.“ „Das glaube ich Ihnen nicht.“ „Die haben genau solch eine Angst vor dir, wie wir sie gehabt haben, Chandra. Durch... Zufall sind sie dir auf die Spur gekommen. Ich hatte nie vor, in das Leben der Menschen in den Städten einzugreifen. Nicht nachdem, was ich bereits getan hatte.“

Chandra setzte sich ebenfalls auf den dunklen Boden. „Sie reden von dem Virus!“ „Ja, das meine ich. Du mußt verstehen, daß wir damals genau das Gegenteil wollten. Wir wollten den Menschen helfen, sie nicht töten. Damals war Aids geradezu katastrophal für die Menschheit. Besonders die Länder in der sogenannten Dritten Welt waren sehr hart betroffen. Es gab keine Aufklärung, keine medizinischen Einrichtungen. Der Krieg war erst seit kurzer Zeit wieder vorbei und es wurden Mittel gewährt, um die Forschungen an einem wirksamen Impfstoff gegen das Virus voranzutreiben. Wir Europäer standen in Konkurrenz mit den Amerikanern. Es ging um Ruhm, Anerkennung, vor allem ging es um Geld. Ja, wie so oft. Jedes Mal, wenn Flex und ich glaubten, unser Team hätte es geschafft, so hatten wir doch nur eine neue, tödlichere Variante kreiert. Und eines Tages gab es einen Vorfall. Mein Schutzanzug wurde beschädigt, die Schleuse hatte eine Fehlfunktion. So ist es passiert. Der Ausbruch der Krankheit, Chandra. Französisch Dschibuti, 2011.“

Radon räusperte sich und sah zu Chandra. Sie sah ihn an, ohne Regung. Er versuchte zu ergründen, was in ihr vorging. Dann stand Chandra wieder auf und sagte: „Wenn es keinen Impfstoff gab, warum leben Sie dann immer noch?“ Es war eine gute Frage. „Nun, Chandra, das besondere an dem Virus ist, daß sich die Menschen zwar mit ihm infizieren, die Inkubationszeit jedoch bis Ende des dreißigsten Lebensjahres anhält. Erst danach kommt es zum Ausbruch. Das konnten wir feststellen. Und als ich die Kuppel ersann, sie schließlich baute, befanden sich unter ihrem Dach viele der klügsten Köpfe des Planeten. Wir hatten nicht viel Zeit, aber schließlich...“ Er holte eine kleine Kapsel aus seiner Tasche hervor. „Das Serum.“ sagte er und reichte es ihr. Chandra tat nichts. „Du traust mir nicht, das verstehe ich.“ sagte Radon. „Vielleicht kann ich es dir beweisen?“ Chandra sah ihn an und fragte: „Wie?“ „Zieh deinen Anzug aus.“ forderte er sie auf. „Ich soll was?“ „Den Anzug, Chandra. Du mußt ihn einem anderen anlegen. Einem Toten!“

Chandra verstand nicht. „Was soll das bringen?“ „Die eingearbeiteten Silberfäden, Chandra. Ich werde es dir zeigen.“ Zögernd zog Chandra sich aus. Radon sah sich um und entdeckte den Leichnam einer Frau. „Dort drüben, sie hat ungefähr die gleiche Größe wie du. Tue es Chandra!“ Immer noch mißtrauisch, dennoch leicht beunruhigt über Radons Worte, streifte Chandra der toten Frau den Anzug über. „Er paßt nicht ganz, sie ist zu groß.“ „Es wird reichen.“ sagte Radon. Aus einer Innentasche seiner Jacke holte er einen längliche Stab hervor, an dessen Spitze ein Sensor saß. „Hier. Halte die Spitze des Sensors an deinen Daumen, dann an den der Frau.“ Chandra tat es. „Fertig!“ sagte sie. „Die Frau sendet nun die gleichen genetischen Signale aus wie du, Chandra.“ sagte Radon. „Wenn du es getan hast, solltest du dich bei den anderen melden?“ Chandra nickte. „Mach es.“ Chandra holte aus dem Anzug ein kleines Funkgerät und wählte die Frequenz. „Chandra hier!“ Sie wartete. Dann ertönte ein leichtes Rauschen aus dem Funkgerät und eine verzerrte Stimme war zu hören: „Chandra! Sind Sie es?“ „Ja.“ „Haben Sie es getan?“ „Die Kuppel ist zerstört. Alle sind tot.“ Sie sah zu Radon. „Es gibt keine Überlebenden. Ich bin bereit für den Sprung. Holt mich zurück!“ Sie erhielt keine Antwort. „Hallo? Kann mich jemand hören?“ Nichts. Radon lächelte und deutete zu dem Anzug.

Radon hatte die Wahrheit gesprochen. Aus den Silberfäden trat eine Flüssigkeit hervor, die den Anzug in Sekunden auflöste, auch den Leichnam. Bald waren nur noch Knochenreste zu sehen. Chandra ließ das Funkgerät fallen. Radon war aufgestanden und kam langsam auf sie zu. Bevor er sie erreicht hatte, drehte sie sich blitzschnell um und hob drohend die Eisenstange. Radon blieb stehen. „Siehst du, Chandra. Du bist nur benutzt worden. Nicht wir haben den ersten Schritt getan. Wir haben nur reagiert. Aber ich habe zu spät erkannt, was die anderen vorhatten.“ „Das ist Irrsinn!“ schrie Chandra. „Ja, das ist es, Chandra. Irrsinn. Von Anfang an ist es das gewesen.“ Radon schaute nach oben. Dann sagte er leise: „Mein ganzes Leben lang habe ich nur einen blauen Himmel gekannt. Alles verändert sich. Alles hat sich verändert. Wo vorher noch Blau war, ist heute nur noch schmutziges Grau. Ich habe nie gewollt, daß es soweit kommt. Was immer dir die anderen in der Kuppel hinter dem Nebel versucht haben einzureden, was immer sie dir für Versprechen gaben. Nichts davon ist wahr. Zumindest ein Teil davon.“

Chandra sah wie Radon nach oben und sagte: „Ich habe immer von einem blauen und klaren Himmel geträumt. Erst in der Kuppel konnte ich seine Schönheit bewundern. Aber warum soll ich Ihnen glauben, warum?“ „Weil dir keine andere Wahl bleibt, Chandra. Die anderen haben dich verraten. Jeder hätte es getan, jede einzelne Kuppel. Selbst ich. Nur um das aufrecht zu erhalten, was man sich aufgebaut hat. Nur für diesen einen Grund.“ „Aber warum dann diese Kuppel vernichten? Warum dann Sie töten? Warum mich aus meinem bisherigen Leben reißen? Warum? Kein Mensch hätte doch jemals von den Kuppeln erfahren?“ Radon nickte. „Das ist wahr. Aber die Kuppel hinter dem Nebel begann Fehler zu machen. Sie waren die ersten, die Sprünge in die Städte machten. Wir mußten darauf reagieren und begannen systematisch die Städte mit Kameras auszustatten, um die anderen kontrollieren zu können. Leider hat jeder Sprung unangenehme Auswirkungen.“ „Das nennen Sie unangenehm?“ „Es tut mir leid, Chandra. Das alles tut mir unendlich leid.“ Radon schaute zu Boden. „Das alles tut mir unendlich leid. Hätte ich geahnt...

...Gibt es Mutanten in der anderen Kuppel?“ Chandra nickte. „Wurdest du von einem dieser Mutanten vorbereitet?“ Chandra nickte erneut. Radon lächelte. „Ja, dachte ich mir. Chandra, hör mir genau zu. Es sind die Mutanten. Die Menschen haben sie nicht ohne Grund gejagt. Sie sind gefährlich. Und sie haben es zu verantworten.“ „Was?“ „Alles! Es waren Mutanten, die als erstes gesprungen sind. Es waren Mutanten, die damit angefangen haben, nicht wir Menschen! Das waren nicht wir! Wir hatten alles aufgezeichnet. Aber es ist zerstört worden.“ „Durch mich?“ „Ja. Aber in der anderen Kuppel muß es noch Aufzeichnungen geben.“ „Ich werde nicht mehr dorthin gelangen können.“ Radon lachte laut. „Oh Chandra. Du hast allein mit deinen Gedanken all das hier zerstört. Und du glaubst wirklich, daß du nicht selbst in der Lage bist, an Orte zu gelangen, zu denen du willst? Glaubst du das wirklich? Du hast jetzt die Kraft... die Macht dazu!“ Er schüttelte den Kopf. „Haben sie dir das verschwiegen?“ „Ich kann das?“ „Ja natürlich kannst du das. Du bist einmalig. Du bist... einmalig, das bist du.“ Chandra legte ihre zweite Hand um die Eisenstange und flüsterte: „Trotzdem habe ich das nie gewollt, Radon.“ Langsam ging sie auf ihn zu. Radon hatte bereits an die Möglichkeit gedacht, zu überleben. Wie auch immer. Doch jetzt. „Chandra! Du willst mich immer noch töten? Das kannst du nicht tun! Ich habe dir doch geholfen. Ich bin dein Vater!“

Chandra gab ihm einen Schlag mit der Eisenstange, so daß Radon zu Boden fiel. „Nein, Radon. Sie sind nicht mein Vater. Mein Vater ist hoffentlich noch am Leben.“ Dann holte sie aus und stieß die Eisenstange mit all ihrer Kraft durch den Körper von Radon. Ein letztes Mal schnappte Radon nach Luft. Blut lief aus seinem Mund. Dann war er tot. „Aber ich danke Ihnen trotzdem.“ sagte Chandra und nahm die Kapsel mit dem Serum an sich.

53
Kuppel - Exitus
Chandra zog die Stange aus Radons totem Körper und warf sie weg. Er hatte ihr gesagt, daß sie zu allem fähig sei, allein durch ihren Willen. Sie fühlte sich nicht wohl bei diesem Gedanken. Chandra war noch immer nackt, sie begann zu frieren. Sie setzte sich vor Radons Leiche, zog die Knie an ihre Brust und verschränkte davor ihre Arme. Sie zitterte. Was war sie jetzt? War die Mutation, die Radon einst begonnen hatte nun vollendet? War sie wirklich ein Wesen mit uneingeschränkter Macht? Chandra graute es davor. „Das habe ich nie gewollt.“ sagte sie leise zu sich. „Nie.“ Sie spürte die kleine Kapsel in ihrer Hand. Das Serum gegen die Krankheit. Warum wollte er ihr es geben, wenn sie durch ihre Mutation imun gegen die Krankheit war. Warum? Chandra überlegte. Und wenn sie durch das Serum wieder völlig normal werden würde? Ein ganz normaler Mensch. Doch so sehr sich Chandra dies auch wünschte, tief in ihrem Inneren wußte sie, daß sie das nie wieder sein konnte. Ein normaler Mensch wie Lubber, oder Sebastian. Sie lächelte. Aber die waren doch auch nicht normal. Keiner war das. Kein Mensch war das jemals gewesen.

Chandra stand wieder auf. „Meine Gedanken sind meine Macht.“ sagte sie. Ihr war bewußt, daß sie Zerstörung über andere bringen konnte. Aber sollte sie wirklich in der Lage sein, allein durch ihren Willen Zeit und Raum innerhalb kürzester Zeit zu überwinden? Das war doch lächerlich. Chandra schloß die Augen. Nordstadt, dachte sie. Ich will in die Nordstadt. Nichts geschah, sie stand immer noch auf dem dunklen Boden, hunderte Kilometer von der Nordstadt entfernt. Vielleicht sollte sie die Kapsel einfach schlucken, vielleicht würde dann auch alles endlich vorbei sein. Sie sah die Kapsel an. Radon hatte gesagt, die Mutanten im Nebelland seien die wahren Schuldigen, aber warum? War Radon gewillt gewesen, ihr zu helfen? Wußte er, daß sie ihn so oder so töten würde? Was, wenn er in den letzten Minuten seines Lebens Chandra gegenüber Reue empfunden hatte? Wenn er ihr nun wirklich helfen wollte? Chandra schüttelte den Kopf. So viele Fragen, keine Antworten. Sie zog Radon dessen Anzug aus und streifte ihn sich über. Dann atmete sie einmal tief durch und ging in Richtung Norden, in der Hoffnung, die Stadt zu finden, in der sich Sebastian befand. Ich muß es einfach schaffen, sagte sich Chandra. Sie drehte sich kein einziges Mal um, als sie die zerstörte Kuppel hinter sich ließ.

54
Im Nirgendwo - Chandra
Seit Tagen war Chandra unterwegs. Sie hatte nichts gegessen, nichts getrunken. Unter normalen Umständen wäre sie bereits tot gewesen. Eigenartigerweise machte es ihr aber nichts aus. Im Gegenteil, jede weitere Stunde, die sie zielstrebig vorwärts ging, machte sie stärker. Sie hinterfragte das erst gar nicht. Chandra war klar, daß es etwas mit ihrer Mutation zu tun hatte. Was ihr allerdings zu schaffen machte, war die Ungewissheit, wo sie sich genau befand. Am Tag orientierte sie sich nach der Sonne. Chandra war in einer staubigen Steinwüste, mit kleinen Felsen und Geröll, verdorrten Sträuchern. Aber in der Nacht war es nahezu unmöglich, den Überblick zu behalten. Das Licht der Sterne war einfach zu schwach, und der Mond? Vergiß den Mond, dachte Chandra. Tagsüber ging Chandra schneller, da sie Hindernisse schnell erkannte und umgehen konnte. Wie oft sie dagegen nachts über Steine und Wurzeln gestolpert war... Sie hatte mit dem Zählen aufgehört. Auch jetzt war es dunkel. Die Sonne war bereits vor einigen Stunden untergegangen. Langsam setzte Chandra einen Fuß vor den anderen. Nicht einmal geschlafen hatte sie.

Chandra konnte es noch immer nicht glauben, daß sie dazu fähig war, trotz der von ihr verursachten Vernichtung der Kuppel, die viele Kilometer hinter ihr einmal existiert hatte. Mehr als fünftausend Menschen waren gestorben. Chandra wußte das, und sie haßte sich dafür. Es war ihr in den Nächten hier in der Wüste klargeworden. Radon hatte Recht gehabt. Die Mutanten hatten sie benutzt. Zardos hatte sie benutzt. Chandra wußte nicht genau, was die Mutanten vorhatten, aber alles hing mit der Zerstörung von Radons Kuppel zusammen, als ob er der einzige gewesen wäre, der ihre Pläne hätte durchkreuzen können. War es der Wunsch nach Rache an den Menschen, die sie vertrieben und getötet hatten? Der absurde Wunsch nach Weltherrschaft? Viele Gedanken schossen Chandra durch den Kopf. Und dann passierte es. Sie stolperte und als sie zu Boden fiel, stieß sie mit ihrem Kopf gegen einen Stein. Chandra wurde bewußtlos. Und während sie im Staub der Wüste lag, Blut an ihrem Gesicht herunterlief, hatte Chandra trotz ihrer Ohnmacht einen schrecklichen Traum.

Sie befand sich in der Nordstadt, vielmehr, was von ihr übrig war. Keine Asche fiel vom Himmel, die leeren Straßen waren vom Wind gesäubert worden. Die unzähligen Autowracks und Leichen waren verschwunden. Chandra lief durch die Stadt. Fast jedes Haus war zusammengestürzt, soweit sie es überblicken konnte, gab es nur noch acht oder zehn von den gigantischen Häusern, die typisch für den Moloch waren. Chandra lief weiter. Sie hatte Angst. "Hallo!" schrie sie. Kein Mensch kreuzte ihren Weg. Die Stadt war... unbewohnt. Das mußte sie schon seit einer Ewigkeit sein. "Hallo?" rief Chandra erneut. Sie blieb stehen. Dort, wo einst ihr Zuhause war, lag nur noch ein riesiger Haufen, bestehend aus Geröll und sprödem Metall. "Was ist hier geschehen?" fragte sich Chandra leise. "Hallo! Irgendjemand. Irgendwer..." Nur Stille umgab Chandra. Sie sah nach oben. Die Sonne am klaren, hellblauen Himmel blendete sie. Und wenn ich das nun war? Wenn ich dafür verantwortlich bin, daß es hier niemanden mehr gibt?

Chandra stöhnte, als etwas Blut in ihren Mund gelangte.

Erneut rannte Chandra durch die leere Nordstadt. "Das habe ich nicht gewollt!" schrie sie. "Das habe ich nicht gewollt!" Chandra fiel auf die Knie. "Was habe ich getan?" Ohne es zu merken, hatte sie die Grenzen der Stadt erreicht. Sie befand sich einige Meter außerhalb. Obwohl die Nordstadt einer verfallenen Geisterstadt glich, erschlug sie einen fast mit ihrer schier unendlichen Größe. "Was habe ich getan?" schrie Chandra der Stadt entgegen. Ihr war klar geworden, daß sie schuld war. Sie hatte die Nordstadt zu dem gemacht, was sie jetzt war. Eine tote Stadt, entvölkert. Durch ihre Gedanken?

Ein Sturm zog auf. Langsam wurde Chandra durch den Wind mit dem Sand der Wüste bedeckt.

Sie kniete vor einem bizarren Felsen, der wenige hundert Meter vor der Stadt stand. Der Fels mußte uralt sein. Er sah wie ein Kreuz aus. Als Chandra aufstand und sich den Fels genauer ansah, traute sie ihren Augen nicht. Der Fels war war nicht natürlicher Art. Nein, er hatte die Form eines Menschen, der seine Arme ausbreitete und voller Reue zum Himmel blickte. Und dann erkannte Chandra sich selbst in dem Fels. Sie war es. Die langen Haare, das Gesicht. Die Jahre hatten Spuren hinterlassen, aber je mehr Chandra den Fels ansah, um so mehr erkannte sie sich darin. So wie der Fels, wie Chandra vor der Stadt stand, die Arme ausgebreitet, das verwitterte Gesicht flehend zum Himmel gerichtet, es sah so aus, als ob sie eine Warnung darstellen sollte. Die Nordstadt nicht zu betreten. Während Chandra darüber nachdachte, verdunkelte sich der Himmel so sehr, daß es schlagartig kalt wurde. Hinter sich hörte sie ein Geräusch. Chandra drehte sich um. Vor ihr stand ein Tier. Kein gewöhnliches Tier. Es stand auf zwei Beinen, war am ganzen Körper mit Fell bedeckt. Doch Chandra war dieses Tier vertraut. Die Klauen, die Augen. Etwas in ihr sagte, daß sie dieses Wesen kannte. Das Tier sprach zu ihr. "Kannst du dich an mich erinnern? Chandra?" Als das Tier die Worte zu ihr sprach, seine Augen dabei aufblitzten, wußte Chandra, mit wem sie es zu tun hatte. "Zardos!" flüsterte sie leise. "Ja. Ich bin nun das, was ich immer war." sagte Zardos. Er zeigte mit einer Klaue hinter Chandra. Langsam drehte sie sich um. Tausende von Mutanten standen vor ihr. Sie alle sahen so aus wie Zardos. Aufrecht gehende Tiere. Nur noch der Kopf erinnerte ein wenig daran, was diese Mutanten einmal waren. Menschen. Zardos packte Chandra. "Du hast es ermöglicht, Chandra. Du allein! Wir wären dazu nie in der Lage gewesen." Plötzlich knieten die Mutanten vor Chandra. Sie sahen sie ehrfurchtsvoll an, als ob Chandra für sie...

Etwas berührte Chandras Gesicht. Sie machte ihre Augen auf. Vor ihr im Wüstensand saß ein kleines Reptil. Chandra hustete und wirbelte Sand auf. Das kleine Reptil verschwand blitzschnell. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr nicht. Der Sand hatte sie fast vollständig bedeckt. Mühsam begann sie sich von ihm zu befreien. Wie lange hatte sie hier gelegen? Chandra griff sich an den Kopf. Das Blut war getrocknet. Sie spürte die Stelle an ihrer Schläfe, mit der sie auf den Stein gefallen war. Als es ihr endlich gelang, sich auszugraben, lag vor ihr die Nordstadt. Noch viele Kilometer weit entfernt. Aber Chandra konnte die ganz großen Wohnhäuser schon sehen. Und das war keine Luftspiegelung, keine Einbildung. Bald würde sie die Stadt erreicht haben. Chandra ging weiter. Der Traum, den sie hatte. So real. Als ob sie ihre eigene Zukunft gesehen hatte. Sie hoffte, daß dies nicht der Fall war. Warum sollte sie sonst in die Nordstadt zurückkehren?

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Jetzt, da Radons Kuppel und er selbst nicht mehr waren, erst jetzt zeigten sie ihr wahres Gesicht. Kaum hatte die Nachricht über die Zerstörung der Kuppel und Chandras Tod Zardos erreicht, versammelte er die anderen Mutanten um sich. Sie standen im unterirdischen Hauptquartier der Kuppel. „Es ist... getan.“ sagte Zardos zufrieden. „Radons Kuppel existiert nicht mehr. Radon existiert nicht mehr. Und... ein wenig bedauere ich, daß auch Chandra nicht mehr... existiert.“ Zardos hatte sich persönlich die Bestätigung von Chandras Tod geben lassen. „Nun, da uns auf diesem Kontinent niemand mehr im Weg stehen wird, können wir beginnen, die Evolution vorwärts schreiten zu lassen. So wie die Menschen damals, als sie uns erschufen.“ Zardos streckte seinen Arm nach oben, so daß alle seine Klaue sehen konnten. Viele nickten und flüsterten miteinander. Zardos lächelte. „Noch sind wir sehr wenige. Noch müssen wir uns in Geduld üben. Aber bald... wenn die Zeit gekommen ist, werden wir wie ein Sturm über diesen Kontinent fegen, und alles menschliche über dessen Rand spülen. Bald!“ Die Mutanten brüllten triumphierend. „Wir sind die dritte Macht!“ schrie Zardos. „Dritte Macht!“ schrien die anderen zurück. „Dritte Macht!“ So ging das noch eine Weile.

Schließlich gingen alle wieder zurück zu ihren Posten, in die sie Zardos geschickt hineinmanövriert hatte. Alle wichtigen Stationen waren besetzt. Es gab Mutanten im Teleporter, der Radarstation, im Media-Bereich, und was ganz wichtig war, im Biolabor. Hier, in der Kuppel im Nebelland würde alles seinen Anfang nehmen. Zardos setzte sich auf einen Stuhl und beobachtete die zahlreichen Monitore, die in der Wand eingelassen worden waren. Er sah die vielen Menschen, die sich in der Kuppel befanden. Zardos lächelte. Erst die Kuppel, dachte er. Dann der Kontinent. Und schließlich die ganze Welt. Seine Leute im Biolabor hatten viel Zeit benötigt, um endlich ein Virus zu schaffen, was die Krankheit besiegte, gleichzeitig aber einen Prozeß in Gang setzen würde, der die Menschen in Mutanten verwandelte. Nicht sofort. Langsam, nach und nach. Zardos sah vor seinem geistigen Auge eine Armee aus tausenden, millionen Mutanten, welche die Menschen ablösen würde. In einigen Jahren wäre seine Art die dominante Spezies auf diesen Planeten. Zardos lächelte wieder. Wenn alles nach Plan lief, würde Anfang nächster Woche das Virus hier in der Kuppel in Umlauf gebracht werden.

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Nordstadt
„Das ist doch alles Scheiße.“ sagte Sebastian zu sich. Er schleppte sich zum Kühlschrank. Er hatte kein Bier mehr da, geschweige denn Schnaps. Zuerst dieses merkwürdige Beben anfang der Woche, dieses seltsame Licht, was er und die anderen Menschen in der Stadt in weiter Ferne gesehen hatten, die Druckwelle. Und jetzt das. „Scheiße.“ sagte er noch einmal. Neben dem Kühlschrank auf dem kleinen Tisch lag ein Messer. Sebastian nahm es und ging wieder zurück in das Wohnzimmer. Seine Angst war weg. Vielleicht war er auch zu betrunken. Aber plötzlich hatte er dieses Verlangen. Einfach Schluß zu machen. Es gab einfach nichts mehr, wofür er noch leben sollte. Er setzte das Messer an die Pulsader seiner linken Hand und schloß die Augen. Jetzt, in diesem Moment würde er sich das Leben nehmen. Er holte tief Luft. Er war bereit. Und dann klopfte plötzlich jemand an seine Tür. Verdammt, dachte Sebastian. Er legte das Messer weg und ging zur Tür. Wieder klopfte es. „Ja, ja. Schon gut!“ rief Sebastian. Er sah durch den Spion und traute seinen Augen nicht. Das ist unmöglich! Das kann nicht sein. Er machte die Tür auf. „Hallo Sebastian.“ sagte eine mehr als vertraute Stimme zu ihm. Er war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Er sah sie nur ungläubig an. Und dann, endlich: „Chandra?“

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Nordstadt
Chandra hatte die Stadt erreicht. Die ganze Zeit lang hatte sie sich überlegt, wie sie hineinkommen würde. Es galt als sicher, daß sie die Wachen nicht passieren ließen. Sie hatte keinen Mundschutz, war mit einem Anzug bekleidet, der ihr viel zu groß war. Nie im Leben wäre sie an den Wachen vorbeigekommen. Nein, Chandra würde sich in die Stadt schleichen müssen. Sie wartete, bis es dunkel geworden war. Leise, den Scheinwerfern der Wachtürme ausweichend, ging sie an der Mauer entlang, welche die Stadt umgab. Dann hatte sie eine Stelle gefunden. Dieser Abschnitt der Mauer war rissig geworden, es gab mehrere Löcher, so daß Chandra ohne Probleme hinaufklettern konnte. Gerade, als sie oben angelangt war, schwenkte einer der Scheinwerfer genau auf diese Stelle. Schnell sprang Chandra von der Mauer und blieb regungslos am Boden liegen. Sie atmete nicht einmal. Offenbar hatte man sie nicht entdeckt. Als der Lichtkegel des Scheinwerfers weg war, lief sie in gebückter Haltung zu einem der Häuser. Dabei hatte sie mehrere hundert Meter offenes Gelände zu überqueren. Sie hatte das Haus erreicht. Sie bemerkte einen Leichnam, der mit mehreren Kartons zugedeckt worden war. Chandra nahm den Mundschutz und das Cape des Toten. Das Cape roch bestialisch nach verfaultem Fleisch. Und der Mundschutz hatte bereits Schimmel angesetzt. Chandra überlegte kurz, zog sich dann aber doch die Sachen an. Nur nicht auffallen. Dann betrat sie die Straße, die trotz aller Gefahren, welche die Nacht mit sich brachte, von Menschen nur so wimmelte. Seit gut einem Jahr war sie nicht mehr in der Stadt gewesen. Aber nichts hatte sich verändert. Überall das gleiche Bild. Menschen, die andere Menschen mit unvorstellbarer Grausamkeit überfielen. Asche, die vom Himmel fiel. Polizeisirenen von Polizeiautos, die man nie sah. Chandra machte sich auf den Weg zu Sebastians Wohnung. Er lebt bestimmt noch, dachte sie. Menschen wie Sebastian sterben nicht einfach so.

58
Nordstadt
„Chandra?“ Sebastian wußte nicht, ob er träumte, oder ob da wirklich Chandra vor ihm stand. „Bist du es wirklich?“ fragte er verunsichert. Chandra hatte das Cape und den Mundschutz abgelegt, bevor sie an Sebastians Tür geklopft hatte. „Ich bin es, Sebastian. Ich bin es.“ sagte sie leise. Sebastian konnte nicht mehr. Er fiel Chandra um den Hals. „Chandra!“ Sie umarmte ihn. Sie roch den Alkohol in seinem Atem. „Ich würde jetzt gern duschen.“ sagte sie. Sebastian nickte und sagte: „Ja, natürlich.“ Chandra sah Sebastian an. Er ist noch älter geworden, dachte sie. „Ich brauche nicht lange.“ sagte sie und ging in das Bad. Als sie die Tür schloß, sah Sebastian sich um. Er war aufgeregt. Seine Hände begannen zu zittern. Irgendwie war das zuviel für ihn. Erst verschwand sie spurlos, und jetzt. Er brauchte etwas zu trinken. „Irgendwo muß doch noch etwas sein.“ sagte er leise. Aber alle Flaschen waren bereits leer. „Verdammt.“ Sebastian fiel in seinen alten Sessel. „Scheiße.“

Chandra kam aus dem Bad zurück. Natürlich hatte sie längst die vielen Flaschen bemerkt, die in Sebastians Wohnzimmer standen, selbst im Bad lagen welche. Sie setzte sich auf das Bett. „Was ist mit dir geschehen, Sebastian?“ Sie nahm eine der Flaschen. „Ich dachte, du hättest damit aufgehört!“ Sebastian winkte ab. „Das dachte ich auch.“ sagte er. „Paß auf!“ Er stand auf und holte das Messer. „Siehst du das?“ Er zeigte ihr das Messer. „Hättest du fünf Minuten später an meine Tür geklopft, ich hätte sie nicht mehr öffnen können.“ Chandra sah Sebastian an. „Du bist betrunken!“ sagte sie. „So? Bin ich das? Und hatte ich keinen Grund dazu, mich zu besaufen? Tag für Tag? Hatte ich keinen Grund dazu?“

Er hatte das Messer noch immer in der Hand. „Ich weiß noch, ich habe gewartet, daß du kommst. Aber... aber das bist du nicht. Nach drei Tagen war ich bei deiner Wohnung. Dieser... dieser Loomax, der lag da, hatte schon angefangen zu stinken.“ „Loomax ist tot?“ „Ist vor deiner Wohnungstür gestorben. Und du warst nicht da. Du warst einfach weg. Einfach so. Einfach so. Und ich hatte Angst. Angst, daß dir was passiert sei. Jemand sagte mal, ein Vater sollte seine Kinder nicht überdauern, Chandra. In den Tagen hatte ich große Angst, daß genau das eingetreten sein könnte. Daß ich noch lebe. Daß du... tot bist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie verzweifelt ich war, immer noch bin. Etwas ist mir mit deinem Verschwinden genommen worden. Etwas, was tief hier drin ist.“ Sebastian schlug sich vor die Brust. „Und jetzt sitzt du hier vor mir. Und du machst mir Vorwürfe, daß ich betrunken bin. Wie hätte ich das denn sonst verkraften sollen, hm? Wie denn? Du warst doch plötzlich weg. Einfach so. So plötzlich. Was hätte ich denn tun sollen? Chandra? Was hätte ich denn tun sollen? Hm, sag es mir?“ Sebastian ließ das Messer fallen.

Chandra stand auf. Dieser alte Mann, dachte sie. Was hatte er durchmachen müssen. „Als erstes ruhst du dich aus. Und morgen werde ich dir alles erklären. Einverstanden?“ Sebastian wischte sich seine Tränen weg. Dann sagte er: „Einverstanden.“ Er hob den Daumen. „Ja, so machen wir es.“ Chandra nickte. „Ich werde den Sessel nehmen.“ sagte sie. Später lag Sebastian im Bett und beobachtete Chandra. Sie sah so friedlich aus. Als er schließlich eingeschlafen war, träumte er von grünen Wiesen, über die er mit seiner Frau Hand in Hand schwebte, einem hellen Licht entgegen. Einem hellen, gelblichen Licht.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Nimrod war eine von den Mutanten, die im Biolabor arbeiteten. Ihr und Klaas fiel die Aufgabe zu, das Virus in das Lüftungssystem einzusetzen, sobald sie von Zardos die Anweisung dafür erhielten. „Worauf wartet er?“ sagte Klaas leise zu ihr, während sie einige Proben aus der Trinkwasseranlage analysierten. Nimrod zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Ihr war es recht, daß der Prozeß noch nicht gestartet wurde. Im Grunde genommen wollte sie nicht, daß dies alles geschehen sollte. Die Umwandlung der Menschen in Mutanten wie sie. Sie sah ihre Klauen an. Früher hatte sie einmal sehr schöne Hände gehabt, mit glatter und sanfter Haut. Und sie hatte einen Sohn gehabt, der ihr weggenommen wurde, als sie sich zu verändern begann, zu einem Mutanten wurde.

„Nimrod?“ Sie war für einen Moment mit ihren Gedanken woanders gewesen. „Entschuldige, Klaas. Was sagtest du?“ Klaas sah sich um und sagte dann leise zu ihr: „Wenn es nicht funktioniert? Wider Erwarten.“ Er sah sie fragend an. Es war genau das, was Nimrod sich wünschte. „Dann würde alles so bleiben, wie es war. Wir haben hier die Kontrolle, wären aber zu wenig, um einen Umsturz zu wagen. Es würde einfach nicht gehen.“ Klaas nickte. Einer der Menschen kam zu ihnen und gab Klaas ein paar Unterlagen, die er angefordert hatte. „Danke, Maria.“ sagte er und lächelte den Menschen an. Nimrod mußte leicht schmunzeln. „Was?“ fragte Klaas sie, als Maria sich wieder entfernt hatte. Nimrod lachte und äffte ihn nach: „Danke, Maria!“ „Hör auf damit, Nimrod.“ sagte Klaas verärgert.

Nimrod stellte das Reagenzglas mit der Wasserprobe ab. „Sie ist sehr schön, Klaas.“ sagte sie. „Ja, aber bald wird sie noch schöner sein.“ sagte Klaas und sah Nimrod in die Augen. Nimrod schluckte schwer. Sie konnte kaum glauben, was Klaas zu ihr gesagt hatte. „Findest du uns Mutanten schön?“ fragte sie vorsichtig. Klaas überlegte und sagte: „Nun, auf gewisse Weise... ja. Wir sind viel robuster als die Menschen, können mehr ertragen als sie.“ Er sah zu den Menschen, die im hinteren Teil des Labors arbeiteten. Er sah zu Maria. Er hatte ein komisches Gefühl. Plötzlich hatte er Zweifel an der Sache, auf die sie Zardos eingeschworen hatte. Würde er in Maria als Mutantin immer noch das sehen, was er in ihr als Mensch sah? „Nimrod?“ Sie stellte sich neben ihn und umfaßte seine Klaue. „Ja?“ Sie sah, wie sehr er mit sich kämpfte, aber gleich würde er ihr die Frage stellen, die sie sich selbst die ganze Zeit stellte.

„Tun wir das Richtige? Wenn wir das Virus freisetzen, dann... Sieh sie dir doch an. Sie werden dann wie wir sein.“ Nimrod räusperte sich. Es war gefährlich, über was sie sprachen. „Das beste wird sein, daß wir unsere Gedanken für uns behalten, Klaas.“ schlug sie vor. „Wir leben in einer freien Gesellschaft, Nimrod. Ich kann sagen, was ich will.“ „Ich zweifle genau wie du. Doch wenn Zardos das herausbekommt, wird er uns austauschen. Wir werden dann nicht mehr erleben, wie die Mutanten die Welt erobern.“ „Meinst du? Zardos würde das machen?“ „Er war bereit, fünftausend Menschen für seine Vision zu opfern. Menschen wie die um uns herum. Menschen wie Maria. Was interessieren ihn da zwei Mutanten, wenn es in wenigen Jahren tausende von uns gibt?“ Sie sah Klaas an. Vielleicht waren sie nicht die einzigen, die nach der anfänglichen Euphorie begonnen hatten, über die Konsequenzen nachzudenken.

„Das kann er doch nicht wirklich wollen.“ flüsterte Klaas. „Stell dir vor... die Hetzjagden würden wieder von vorn anfangen. Das Virus wirkt bei jeder Person unterschiedlich. Die Verwandlungsphasen dauern zwischen drei und vierzehn Monaten. Das ist Wahnsinn, Nimrod.“ Er sah wieder zu Maria, die ebenfalls in seine Richtung schaute und ihm zu winkte. Klaas zwang sich ein quälendes Lächeln ab und hob den Arm. „Jetzt erst wird mir bewußt, zu was das führen wird.“ sagte er. „Ich weiß.“ sagte Nimrod. Aber was konnten sie schon machen? Letzlich würde Zardos wie vereinbart sie über Funk anweisen, das Virus auf die Menschen in der Kuppel loszulassen. „Sie empfindet Zuneigung für mich, Nimrod.“ „Wer? Maria?“ Klaas nickte. „Es sind ihre Gedanken. Sie können sie nicht vor uns verbergen.“ sagte er. Er lächelte. „Das konnten sie noch nie. Weißt du, ich liebe sie.“ Er betrachtete seine Klaue. „Eine starke und mächtige Klaue.“ sagte er. „Aber nichts im Vergleich zu...“ Nimrod fühlte mit ihm. Klaas war als Mutant zur Welt gekommen. Er konnte nicht wissen, wie es ist, ein Mensch zu sein Aber sie wußte, wie sehr er sich das wünschte. „Wir müssen weiterarbeiten, Klaas.“ sagte sie. „Hm, ist gut.“ Sie wendeten sich wieder ihrer Arbeit zu, darauf gefaßt, jeden Moment das Signal von Zardos zu bekommen. „Wir hätten ein Virus entwickeln sollen, daß die Krankheit bekämpft und uns Mutanten in Menschen umwandelt. Nicht anders herum!“ sagte Klaas leise zu ihr. Nimrod ließ einige Akten fallen. „Was... hast du da eben gesagt?“

Plötzlich meldete sich Zardos. Oh nein, dachte Nimrod. Nicht jetzt. Zögernd drückte sie den Knopf der Sprechanlage. „Nimrod hier.“ „Es gibt Komplikationen in der Nordstadt. Wir müssen noch zwei Wochen warten. Zardos, Ende.“ Sie ließ den Knopf los und sah zu Klaas. Er hatte alles gehört. Sie waren die einzigen, die das gehört hatten. Zardos benutzte eine sichere, nur Nimrod und Klaas bekannte Frequenz. „Zwei Wochen.“ sagte sie. „Wir hätten zwei Wochen, Klaas.“ Er sah sie erstaunt an. Was hatte sie vor? „Nein, Nimrod. Das... das war nur Gerede von mir. Wir... wir haben gar nicht die Möglichkeit...“ Nimrod unterbrach ihn. „Wir sind die beiden einzigen, die die Möglichkeit dazu haben. Zumindest versuchen sollten wir es. Du hast es doch selbst gesagt, Klaas. Ein Virus gegen die Krankheit und gegen unsere Mutation.“ Sie deutete zu den Menschen. „Wir müßten nur den Prozeß umkehren. Und die Krankheit? Alle in der Kuppel sind imun gegen sie. Es müßte doch zu schaffen sein, mit unseren Veranlagungen ein Serum zu entwickeln.“ Klaas war immer noch skeptisch. „Klaas! Du könntest Maria als Mensch gegenüber treten.“ „Ich bin bereits als Mutant geboren.“ „Wir haben ein Virus, was Menschen in Mutanten verwandelt. Warum sollte es umgekehrt nicht funktionieren?“ „Ja, möglich. Aber was wird Zardos dazu sagen?“ Nimrod schüttelte mit dem Kopf. „Nein, Klaas! Nur wir beide! Zardos wird nicht informiert.“ Es war ungeheuerlich. Aber schließlich war Klaas einverstanden. Er und Nimrod, sie waren nun Verräter unter Verschwörern.

60
Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Noch zwei Wochen mehr. Noch eine weitere Verzögerung. Aber Zardos hatte überhaupt keine Wahl. Nicht, nachdem er am heutigen Morgen einige Bänder der Überwachungskameras gesichtet hatte. Er sah sich nicht jedes Band an. Nur jedes dritte oder vierte. Ob es Glück war? Zufall? Ein böser Wink des Schicksals? Es war Zardos egal. Aber auf einem der Bänder hatte er Chandra entdeckt, die versuchte, im Schutz der Dunkelheit sich an den Scheinwerfern vorbeizuschleichen. Nun, das hatte sie geschafft. Den Kameras jedoch war sie ausgeliefert. Die Nachtfilter leisteten hervorragende Arbeit. Sie lebte. Sie hatte ihn getäuscht. Ihren Lehrer, der ihr alles beigebracht hatte. Diese verdammte Chandra, dachte Zardos. Vermutlich hatte sie Radon nicht sofort getötet. Vermutlich hatte er ihr sogar geholfen, sie hier in der Kuppel zu hintergehen. Was, wenn er noch leben sollte? Unvorstellbar! Und dann war sie irgendwie in die Nordstadt gelangt, auf dem Weg zu diesem Sebastian. Daraufhin hatte er seinen Leuten im Biolabor mitgeteilt, daß es noch zwei Wochen Zeit bräuchte, bis es losgehen würde. Erst mußte Chandra aus dem Weg geräumt werden. Es mußte einfach sein.

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Im Nirgendwo - Lubber
Er hatte die Gunst der Stunde genutzt und war in dem Chaos, was nach dem Erdbeben und der Druckwelle in der Nordstadt herrschte, unbehelligt an den Wachen vorbei nach draußen gelangt. Lubber hatte die Vororte noch nie gesehen. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt, daß hier Menschen gelebt haben, bevor die Stadt unter Quarantäne gesetzt wurde. Es waren kleine Häuser, gebaut aus Ziegelsteinen, nicht höher als zwei Stockwerke. Auch Chandra stammte aus einer dieser Siedlungen, dachte Lubber. Ob es die war, durch die er gerade ging? Als es dunkel wurde, befand Lubber sich immer noch in dem Vorort. Er holte eine seiner Taschenlampen unter seinem Cape hervor, um besser sehen zu können. Das alles scheint noch größer zu sein, als es die Nordstadt selbst ist, dachte er. Vermutlich täuschte er sich. Es war schwer, beides miteinander zu vergleichen. Lubber ging weiter und summte eine Melodie, um sich abzulenken. Plötzlich glaubte er, etwas gesehen zu haben. Dort im Gebüsch, dachte er, da ist jemand. Langsam ging er auf das Gebüsch zu, den hellen Strahl der Taschenlampe draufhaltend.

Und wirklich, etwas bewegte sich dort. Lubber war kein kräftiger Junge, geschweige denn mutig. Aber er war neugierig. Dieses Etwas dort in dem Gebüsch zog ihn magisch an. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, flackerte die Taschenlampe. Oh nein, nicht doch! Die Batterien versagten. Mist. Schnell warf er die Taschenlampe weg und holte eine neue hervor. Bevor er jedoch wieder in das Gebüsch leuchten konnte, sprang ihn etwas an. Lubber wurde umgerissen, er hörte wildes Fauchen und etwas scharfes fuhr ihm über das Gesicht. Er hatte immer noch die Taschenlampe in der Hand. Verzeifelt schlug er auf seinen Gegner ein. Dann hatte er es endlich geschafft. Der andere ließ von ihm ab und sackte neben Lubber mit einem Stöhnen zusammen. Lubber kroch einige Meter von dem Ding weg. Zitternd hielt er die blutige Taschenlampe hoch. Er sah einen Menschen vor sich liegen. Zumindest glaubte er das. Der Mensch hatte ein dichtes Fell und... oh, was war das denn? Das sind keine Hände! Das sind... Klauen. Lubber atmete tief durch. Vor ihm lag ein Mutant, der schwer atmete und am Hinterkopf blutete. Lubber wollte wegrennen, am liebsten wieder zurück in die Stadt, aber irgendwie ging es nicht.

Fasziniert sah er den Mutanten an. „Das ist kein Traum.“ sagte er leise. „Das ist Realität... oh man.“ Langsam bewegte sich Lubber auf ihn zu. Erschrocken wich er zurück, als der Mutant sich erneut bewegte und ein leises Brummen von sich gab. Das war zuviel. Vorsichtig stand Lubber auf und entfernte sich. Er ging rückwärts, die Taschenlampe auf den Mutanten gerichtet. Plötzlich drehte der Mutant seinen Kopf in Lubbers Richtung und sagte mit tiefer Stimme: „Warte!“ Im gleichen Moment stolperte Lubber und fiel unsanft zu Boden. Als er noch leicht benommen den Kopf hob, stand vor ihm der Mutant. „Lauf nicht weg.“ sagte er und beugte sich zu ihm herunter. Das Licht der Taschenlampe erlosch. Lubber wurde ohnmächtig. Der Mutant hob Lubber auf und legte ihn sich über die Schulter. Dann verließ er mit weiten und schnellen Schritten die Siedlung, Richtung offene Wüste.

62
Im Nirgendwo - Lubber
Die Geräusche um ihn herum wurden lauter und lauter. Es war wie immer am Morgen, wenn er aus seinem Schlaf erwachte und langsam den Lärm der Stadt wahrnahm. Doch es war nicht sein Bett, in dem er lag. Nicht sein Zimmer, an dessen Decke er starrte. Lubber setzte sich aufrecht. „Guten Morgen, mein Junge.“ sagte jemand zu ihm. „Was?“ Ein Mann kam auf ihn zu und reichte ihm eine Tasse. „Tee. Ist gut für dich.“ Lubber nahm zögernd die Tasse entgegen und stellte sie auf das kleine Regal, was über dem Bett angebracht worden war. „Wer sind Sie?“ Er sah sich um. Er war in einer Art Höhle, die ziemlich wohnlich aussah. Und überall Mutanten! „Wo... bin ich?“ Der Mann setzte sich zu Lubber auf das Bett und zeigte auf einen Mutanten, der am anderen Ende der Höhle stand und in ihre Richtung blickte.

Der Mann tippte Lubber an und sagte: „Er ist beeindruckt von dir, weißt du das?“ Lubber sah ihn hilflos an. „Was?“ „Ein kleiner Junge wie du hat ihm zuerst Angst gemacht und ihn anschließend damit außer Gefecht gesetzt.“ Er zeigte Lubber eine Taschenlampe. „Das ist eine von meinen.“ sagte Lubber. Der Mann nickte und gab sie ihm. „Ich bin Flex. Und der griesgrämige Mutant dort drüben heißt bezeichnenderweise Wolf. Paßt doch zu ihm, oder?“ sagte Flex und schmunzelte. „Willst du mir deinen Namen nicht verraten?“ „Lubber. Ich heiße Lubber.“ Flex nickte wieder. „Und was macht ein Junge wie du nachts außerhalb der Stadt?“ Lubber waren das vorerst zu viele Fragen. „Ich war... ich war zufällig dort, bevor dieser Wolf mich angegriffen hat.“ „Wolf hatte Angst vor dem Licht der Taschenlampe.“ Flex rückte näher an ihn heran und sagte leise: „Er kennt so etwas nicht.“ Das erstaunte Lubber. Wie konnte man denn keine Taschenlampe kennen? Dann bemerkte er es. Hier in der Höhle gab es kein künstliches Licht. Stattdessen hingen an den steinigen Wänden nur ein paar Fackeln, die den großen Raum erhellten. „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo ich mich befinde.“

Flex stand auf und gab Lubber ein Zeichen, mit ihm zu kommen. „Gehen wir ein Stück. Ich werde es dir erklären.“ Lubber zuckte mit den Schultern. Erst jetzt bemerkte er, daß man ihm neue Kleidung gegeben hatte. „Deine alten Sachen sahen, nun... zerschlissen aus. Wir dachten, du freust dich.“ sagte Flex. Dann zeigte er Lubber das unterirdisches Höhlensystem, welches mitten in der Wüste lag, ungefähr achtzig Kilometer von der Nordstadt entfernt. Die Mutanten, denen sie begegneten, beobachteten mißtrauisch Lubber. Er war jetzt schon der zweite Mensch, der innerhalb weniger Monate zu ihnen gelangt war. Genug Abstand haltend folgte ihnen Wolf, um sicher zu gehen, daß dem Jungen nichts geschah. Sein Kopf tat noch weh, aber er hatte den kleinen schmächtigen Jungen sofort in sein Herz geschlossen, nachdem er ihn vom Boden aufgehoben hatte.

63
Nordstadt
Den ganzen Tag hatten sie miteinander geredet, sogar bis zum nächsten Morgen. Bis zu dem einen Moment, wenn die Stadt von der aufgehenden Sonne erhellt wurde. Chandra stand am Fenster und sah auf die Straße, so wie sie es als kleines Kind immer getan hatte. Sie beobachtete die Menschen, die stehengeblieben waren. Alle sahen hoch zu den grauen Dächern, die plötzlich ein Glitzern erhielten. Chandra dachte, daß die Architekten wohl nicht gewußt hatten, was für einen bewegenden Effekt sie mit den Konstruktionen der Dächer erzielen würden. Alles war ruhig. Absolut nichts war zu hören. Sebastian stellte sich zu Chandra an das Fenster und legte einen Arm um sie. „Immer um diese Zeit. Tag für Tag. Jahr für Jahr.“ „Ich weiß.“ sagte Chandra. So schnell der Moment gekommen war, so schnell war er wieder verschwunden. Es wurde wieder lauter. Chandra hörte Polizeisirenen, und tatsächlich. Direkt vor dem Kino fuhr ein Polizeiwagen vorbei. Sebastian war in die Küche gegangen um Tee zu kochen.

Chandra entdeckte zwischen den vielen Flaschen das Geschenk, daß sie ihm gegeben hatte. Es sah so unbenutzt aus. Sie hob es auf und mußte an die Nacht zurückdenken, als sie Sebastian einen Kuß auf die Stirn gegeben hatte, nachdem er in der Klinik beinahe umgekommen war. Sebastian kam aus der Küche zurück. In seinen Händen hielt er ein Tablet, auf dem zwei Tassen und eine kleine Kanne Tee standen. Sein Zittern war stärker geworden. Chandra wußte, woran das lag. Mit seinem Alter hatte das nichts zu tun. „Du hast es noch?“ fragte sie und hielt das Geschenk hoch. Sebastian stellte das Tablet ab. Er wirkte verunsichert. „Nun, glaubst du, ich hätte es weggeworfen?“ „Nein, so habe ich das nicht gemeint. Sowas geht nur schnell kaputt, deswegen fragte ich.“ sagte Chandra. Sebastian lächelte. „Ich habe es kaum benutzt. Nein, eigentlich habe ich es noch nie benutzt. Es hat mich nur an dich erinnert. Und ich habe mir gedacht, je länger es halten würde, um so länger würdest du mir im Gedächtnis bleiben.“ Er nahm die Kanne und goß Tee ein. Während er die Kanne wieder abstellte sagte er zu Chandra: „Jetzt bis du ja da.“

Chandra setzte sich in den Sessel und nahm eine Tasse. Sie nippte etwas daran. Sebastian lehnte sich zurück. Sie hatte ihm viel erzählt. „Und diese Macht, die du angeblich hast. Sie war dafür verantwortlich? Für das Beben und die Druckwelle?“ „Nicht die Macht, Sebastian. Ich.“ Sie stellte die Tasse neben sich auf den Boden. „Ich kann sie kontrollieren, was Zerstörung und Chaos betrifft. Radon hat gesagt, ich könnte alles tun. Offenbar habe ich noch nicht alles begriffen von dem, was da in mir ist. Denn wenn es so wäre, hätte ich die Wüste nicht zu Fuß überwinden müssen.“ „Ja, möglich...“ Sebastian trank einen Schluck. „Auf alle Fälle ist das schwer zu glauben. Menschen, die sich in Kuppeln vor uns verstecken. Mutanten, denen Schutz gewährt wurde. Und dann du, Chandra. Du mittendrin.“ „Du glaubst mir nicht? Die ganze Nacht habe ich dir berichtet, jedes einzelne Detail.“ „Ja, aber du mußt verstehen...“ Sie unterbrach ihn. „Ich kann es dir beweisen, Sebastian.“ sagte Chandra und stand auf. „Wie?“ Chandra griff in eine der Taschen des Anzuges und holte etwas hervor, was sie Sebastian in die Hand drückte. Der sah sich die Kapsel an. „Ist es die mit dem angeblichen Serum? Von Radon?“ fragte er. Sie nickte. „Ja, das ist das Heilmittel, Sebastian.“ Er sah sie an. „Ich weiß, das du dir dessen nicht sicher bist, Chandra. Ich sehe es dir an.“ Chandra setzte sich wieder. „Dir konnte ich noch nie was vormachen, was?.“ Sie fuhr sich durch das Haar. „Aber je mehr ich darüber nachdenke, Sebastian. Je mehr ich über meine Erlebnisse, über mein Gespräch mit Radon nachdenke, bevor ich ihn tötete... Ich bin überzeugt, daß er es ernst meinte mit der Kapsel. Er hat sie mir als Wiedergutmachung gegeben, glaube ich.“ „Und jetzt gibst du sie mir, Chandra.“ Sie lachte und sagte: „Weil ich sie nicht brauche. Ich bin selbst ein Mutant geworden, einer ohne Fell und Klauen. Ich bin nicht mehr die Chandra, die vor einem Jahr verschwand.“ Sie nahm seine Hände. „Ich habe die gleichen Erinnerungen, das gleiche Aussehen. Aber ich habe jetzt noch viel mehr. Und das macht mich eben anders. Und weil ich so bin, brauche ich die Krankheit nicht zu fürchten. Ich habe dir das alles bereits versucht zu erklären, Sebastian.“ Sie ließ ihn los und ging zum Fenster. Sie schaute nach draußen.

Sebastian sah wieder die Kapsel an. Wenn es wahr wäre, so hatte er etwas einzigartiges in seinen Händen. Er holte tief Luft und sagte leise: „Und wenn ich sie gar nicht will?“ Chandra drehte sich um. „Was hast du gesagt?“ fragte sie. Er lächelte verlegen und legte die Kapsel auf den Tisch. „Das würde doch nur ein oder zwei Jahre mehr bedeuten, die ich hier leben müßte. Sieh mich doch an, Chandra.“ Sie schaute zu Boden. „Ich will, daß du mich ansiehst.“ sagte er noch einmal. „Ich bin fast vierundsiebzig Jahre alt. Irgendwann muß auch mal Schluß sein.“ „Schluß? Wie? Mit einem Messer? Oder mit Alkohol?“ Er verstand, daß sie ungehalten war, weil er ihr Geschenk ablehnte. „Nein, Chandra. Kein Messer, kein Alkohol. Nur der Weg, den alle gehen.“ Chandra nahm die Kapsel und steckte sie wieder ein. „Außer dir gibt es keinen, dem ich die Kapsel geben würde. Höchstens Lubber.“ Sie wurde traurig. „Aber... Hm, begraben unter einem Haufen Geröll. Gestorben durch mich. Nein, sonst ist da keiner mehr.“ Sie verschränkte die Arme. „Also, was soll ich tun?“ Das konnte Sebastian ihr nicht beantworten. „Das liegt allein bei dir, Chandra.“ Sie muß sich so verloren vorkommen, dachte er. Das alles hatte sie doch nie gewollt. „Weißt du, ich hab das nicht gewollt.“ sagte Chandra. „Ja, das sagtest du bereits.“ Sie schüttelte den Kopf und hielt sich eine Hand vor das Gesicht. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Sebastian.“ Sie begann zu schluchzen. Tröstend nahm er sie in seine Arme. „Naja, vielleicht solltest du die Kapsel für den Moment außer Acht lassen, hm? Wenn das stimmt, was du über die Mutanten im Nebelland gesagt hast, dann solltest du dir Gedanken machen, wie sie aufgehalten werden können.“ Er hob ihren Kopf und lächelte. „Ohne, daß dabei ganze Städte vernichtet werden. Okay?“ Trotz ihrer Tränen konnte Chandra über Sebastians Bemerkung schon wieder etwas schmunzeln.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Man hatte überhaupt keine Wahl gehabt, als die Gruppe Mutanten vor der Kuppel stand und drohte, das Schild zu zerstören, falls man ihnen nicht Einlaß gewährte. Jedem war klar, daß ihnen das nie gelingen konnte, aber man wollte kein Risiko eingehen. Also wurden die vierzehn Mutanten aufgenommen und in die Gesellschaft integriert. Heute, zwanzig Jahre später, gab es dreiunddreißig. Die Menschen wußten nicht wann es geschah, aber Fakt war, daß Zardos mehr oder weniger über die Kuppel bestimmte, ihr heimlicher Herrscher war. Zwar gab es einen Rat, nur aus Menschen bestehend, aber letztendlich galt das Wort von Zardos. Das wußte Maria. Das wußte Klaas. Alle wußten es.

Beide hatten sich in einem der abseits liegenden Parks getroffen, um ungestört miteinander reden zu können. Sie saßen auf einer Parkbank und betrachteten den klaren Nachthimmel. Die Illusion war perfekt. Über ihnen leuchteten Sterne und es gab sogar einen Mond, der die gleichen Zyklen vollzog, wie der reale Trabant der Erde. Maria hatte sich an ihn gelehnt. „Du hast dich in den letzten Tagen kaum sehen lassen, Klaas. Sogar im Labor bist du mir aus dem Weg gegangen.“ sagte sie. Klaas schloß seine Augen und atmete tief durch. Dann gab er ihr einen zarten Kuß auf die Stirn und sagte: „Ich hatte viel zu tun.“ Das stimmte. Er und Nimrod arbeiteten fieberhaft an einem neuen Virus, das sie gegen das andere austauschen konnten. Aber das konnte er Maria nicht sagen, so sehr er sie auch mochte. Es ging einfach nicht, es war zu wichtig. „Und?“ fragte Maria. Sie wollte wissen, was ihn davon abhielt, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Ihre Gedanken waren wie ein offenes Buch für ihn. Er drückte sie fester an sich. „Das kann ich dir nicht sagen. Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich kann nicht. Verstehst du?“ Sie nickte. Doch ihre Gedanken sagten ihm etwas anderes, eher das Gegenteil. Maria gab sich Mühe, doch nur unter den Menschen selbst war es möglich, seine Gedanken für sich zu behalten. „Ach Maria.“ brummte Klaas. „Dann sag auch, das du das nicht verstehen willst.“ „Ich will doch nur, daß wir zusammen sind. Du und ich.“ Klaas lächelte. „Das weiß ich, Maria.“ Sie sahen wieder nach oben. „Ob die Menschen da draußen auch so einen Anblick haben?“ Klaas zuckte mit den Schultern und sagte: „Du kennst doch die Aufzeichnungen. Da draußen ist alles verschmutzt. Selbst der Himmel ist grau. Die Menschen können froh sein, daß sie überhaupt etwas von der Sonne haben.“

Und dann hatte Maria einen Gedanken, der Klaas zusammenzucken ließ. „Was hast du?“ fragte Maria besorgt. „Nichts, ich dachte nur... ein Geräusch. Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“ Maria sah sich um. „Außer uns beiden ist hier keiner. Und ich habe auch nichts gehört.“ Sie fuhr mit ihrer Hand über sein bärtiges Gesicht. „Wollen wir nach Hause gehen?“ Klaas lächelte. „Ja, laß uns gehen.“ Sie verließen den Park. Es war nichts Ungewöhnliches in der Kuppel, daß Partnerschaften zwischen Menschen und Mutanten eingegangen wurden. Das gab es in den letzten Jahren immer wieder. Als Klaas Maria in seinen Armen hielt, erinnerte er sich daran, daß Zardos empfohlen hatte, angesichts der bevorstehenden Ereignisse, die Beziehung zu Maria aufzugeben. Klaas sah Maria in die Augen. Er sah den verliebten Blick, den sie ihm zuwarf. Nein, dachte Klaas, auf keinen Fall würde er von sich aus Maria verlassen. Sie stöhnte leise, als er sie liebkoste. Und ihre Gedanken verrieten ihm, daß es ihr gefiel. Sie liebten sich. Doch etwas störte Klaas. Dieser Gedanke, den Maria vorhin im Park gehabt hatte. Er kam so unerwartet. Als ob sie wußte, was er und Nimrod vorhatten.

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Im Nirgendwo - Lubber
Eine Woche war vergangen und Lubber hatte es geschafft, das Mißtrauen der Mutanten ihm gegenüber verschwinden zu lassen. Im Gegensatz zur Nordstadt, wo er außer Chandra eigentlich niemanden hatte, mit dem er reden konnte, fand er hier in den unterirdischen Höhlen die Geborgenheit und die Achtung, die er nicht einmal von seinen Eltern erhalten hatte, als diese noch am Leben waren. Es war seltsam. Er befand sich inmitten von Mutanten. Doch sie waren nicht grausam, oder böse. Sie waren das pure Gegenteil von dessen, was Lubber von den Menschen in der Nordstadt gehört hatte. Ihre anfängliche Abneigung war mehr als verständlich. Wolf hatte ihm viel über die Verfolgungen erzählt. „Über den ganzen Kontinent sind zahlreiche Massengräber verteilt. Darin liegen hunderttausende von toten Mutanten.“ hatte Wolf gesagt.

Lubber glaubte ihm. Wolf war vielleicht die aufrichtigste Person, die er je kennenlernen durfte. Die Mutanten hatten sich in den Höhlen versteckt, als die Hetzjagden der Menschen ihren Höhepunkt erreicht hatten. Damals wurden an einem Tag bis zu zehntausend Mutanten weltweit ermordet, auf offener Straße. Viele Jahre vergingen, bis sie es wagten, die Oberfläche zu betreten. „Und da war es nicht mehr das selbe.“ sagte Wolf. „Auf einmal gab es nur noch diese gigantischen Molochs, gefüllt mit millionen kranker Menschen. Wir müssen nur noch abwarten, bis sie sterben.“ Dabei hatte er Lubber freundschaftlich das Haar zersaust. „Auch du wirst sterben, Lubber. Du bist ein Mensch.“ Es war seltsam, aber Lubber schien das nicht zu stören, obwohl er noch so jung war. „Flex ist ein sehr alter Mann.“ sagte Lubber und runzelte die Stirn. „Warum ist er noch nicht tot?“ Wolf sah sich um und flüsterte dann Lubber ins Ohr: „Er kommt nicht aus einer der Städte.“ Wolf nickte bedeutungsvoll. „Nicht?“ Jemand räusperte sich. Es war Flex.

Wolf jaulte auf und lief weg. Flex sah ihm hinterher. „Er hat ein schlichtes Gemüt. Trotz seiner Stärke.“ Er lächelte. „Kaum zu glauben, daß er überlebt hat.“ Lubber stand von seinem Bett auf und stellte sich neben Flex. „Warum sind Sie hier, Flex? Und erlauben Sie mir die Frage...“ „Nein, ist in Ordnung!“ unterbrach ihn Flex. „Es ist wahr. Ich komme nicht aus der Nordstadt, Weststadt, egal. Und ich bin imun gegen die Krankheit. Wie sie.“ Er zeigte zu den Mutanten. Lubber nickte. Es sah gefaßt aus. „Nun, ich bin es nicht.“ Flex legte ihm eine Hand auf seine Schulter. „Tut mir leid.“ Flex bemerkte, wie Wolf vorsichtig hinter einem Felsen stand und sie beobachtete. Er winkte ihn zu sich heran und rief: „Komm her, Wolf! Na los.“ Wolf zögerte, kam dann aber doch. Flex schüttelte den Kopf. Unglaublich, daß er das wirklich überlebt hat, dachte er. Als Wolf bei ihnen war sagte Flex: „Alle wissen, woher ich komme, Lubber. Alle wissen, warum ich hier bin. Aber nur Wolf weiß, was ich getan habe.“ Er setzte sich auf Lubbers Bett und schloß kurz seine Augen. „Er wird es dir jetzt erzählen.“ raunte Wolf. Lubber lehnte sich an den Mutanten und umklammerte dessen Klaue. Irgendwas Schreckliches wird jetzt kommen, dachte er.

Flex hatte seine Augen wieder geöffnet. Er holte noch einmal tief Luft, aber schließlich erzählte er Lubber alles. Über Radons Kuppel, über die im Nebelland. Über die versteckten Kamerasysteme in den Städten, die sie als Reaktion aufstellen mußten. „Sie waren unvorsichtig.“ sagte Flex, als er die ersten Sprünge der anderen erwähnte. Wie Mutanten aus der anderen Kuppel zu ihm Kontakt aufnahmen, ihn dazu brachten, Radons und dadurch seine Heimat zu verraten. Nach Chandra zu suchen, Radons Tochter. Und wie sie letztendlich aufflogen, weil diese eine Frau, Laura Antione, ausgerechnet sein IT-Center im Verdacht hatte und nicht locker ließ. Seine Verbannung in eine der Städte. Der mißglückte Sprung direkt in das Höhlensystem. „Denen habe ich einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“ sagte Flex. Wolf nickte. Und Flex erzählte auch von den geheimen Forschungen in Französisch Dschibuti. Über das Forschungslabor. Der Ausgangspunkt der Krankheit. Als Flex fertig war, sah er völlig erschöpft aus. „Du fragst dich jetzt, warum wir uns vor euch versteckt haben. Auf diese Frage kann ich dir leider keine Antwort geben. Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht weil wir Angst hatten. Vielleicht... weil wir uns schuldig fühlten.“ Er sah Lubber an, sah wie dem Jungen die Tränen über das Gesicht liefen.

Wolf hob ihn hoch, wie ein kleines Kind. Er tröstete Lubber. „Ist ja gut, mein Freund.“ Aus irgendeinem Grund fiel Wolf eine Melodie ein, die er vor Jahren von den Menschen aufgeschnappt hatte. Es klang furchtbar unharmonisch, aber es erfüllte seinen Zweck. Lubber schmiegte sich noch enger an seinen großen, neu gefundenen Freund und sagte leise: „Danke.“ Flex war die ganze Zeit sitzengeblieben und hatte den beiden zugesehen. Hatte mit angesehen, wie ein großer kräftiger, dennoch nicht gerade kluger Mutant einem kleinen, intelligenten und zerbrechlich wirkenden Jungen Trost spendete. Er fühlte sich noch elender, noch schuldiger. Dieser Mutant, Wolf, er war in diesem Augenblick menschlicher als ein Mensch. Menschlicher, als es Flex jemals in seinem langen Leben war. Er stand auf und wollte gehen.

„Warten Sie.“ sagte Lubber. Wolf setzte ihn wieder auf den Boden hinab. „Warten Sie. Diese Chandra, von der Sie sprachen. Ich kenne sie.“ sagte Lubber. Flex schien nicht überrascht zu sein. „Natürlich kennst du sie. Ab und zu habt ihr im Treppenhaus miteinander geredet.“ sagte er. „In der Tat, seit wir im Haus die Kameras installiert haben, warst du recht häufig auf den Bändern zu sehen. Oft hast du stundenlang allein auf der Treppe gesessen und wahrscheinlich über vieles nachgedacht.“ Lubber sah Flex an. „Ich habe keine Kameras entdecken können.“ sagte er. „Keiner hat das, Lubber. Selbst ich wußte nicht, wo wir letztendlich überall welche aufgestellt hatten.“ Wolf tippte Lubber an. „Diese Chandra... sie war ein Freund von dir?“ Lubber nickte und sagte: „Nun... ja.“ Wolf schluckte. „Ein Freund wie ich?“ Lubber begann zu lachen und umarmte Wolf. „Nein, nicht so wie du. Du bist mein bester Freund.“ Flex lächelte ebenfalls leicht verstohlen. Innerhalb von nur einer Woche waren Lubber und Wolf zu unzertrennlichen Freunden geworden. Dabei hat er ihm fast den Schädel eingeschlagen, dachte er, als er zu Lubber sah.

Spät am Abend, als Lubber schlafend in seinem Bett lag, unterhielten sich Flex und Wolf über Chandra. „Es sind ihre Gedanken, Wolf, die sie gefährlich macht. Radon hat während Danas Schwangerschaft Experimente mit dem ungeborenen Kind gemacht. Experimentelle Sachen, die in keinem medizinischen Handbuch stehen. Und in Verbindung mit dem Französisch-Dschibuti-Virus ist Chandra auch ein Mutant. So wie ihr imun gegen die Krankheit. Sie kann keine Gedanken lesen, du schon. Aber sie ist fähig, allein durch ihren Willen, durch ihre Gedanken totales Chaos zu erzeugen, ganze Städte zu vernichten.“ „Dann war es ein Fehler, sie zu suchen.“ sagte Wolf und brummte verärgert. Flex lehnte sich zurück. „Ja, eine fatale Fehleinschätzung der Mutanten in der anderen Kuppel, und von mir. Wir haben einen schlafenden Riesen geweckt, und jetzt ist sie irgendwo da draußen. In der Nordstadt, im Nebelland. Möglich, daß Radons Kuppel nicht mehr existiert.“ Wolf überlegte. „Wo liegt deine Kuppel, Flex?“ Wolf hatte eine Idee, und Flex wußte auch, um was es sich dabei handelte. „Das sind hunderte Kilometer, Wolf. Das ist nicht zu schaffen.“ „Wo liegt deine Kuppel?“ fragte Wolf etwas lauter. „Aber was ist denn mit Lubber?“ „Ich werde ihn mitnehmen. Er wird hier zwar aktzeptiert, geduldet, auch wenn er denkt, daß er anerkannt wird. Aber außer uns beiden hat er niemanden. Und ich will, daß der Junge bei mir bleibt. Ich werde ihn beschützen. Lubber ist mein Freund!“ sagte Wolf und sah Flex an. Wolfs Blick sprach Bände. „Na schön, ich zeige es dir.“ sagte Flex.

Am nächsten Morgen sprachen beide mit Lubber. Flex hatte es vorausgesehen. Lubber war Feuer und Flamme. Er konnte es kaum erwarten, die Höhlen zu verlassen. „Seid vorsichtig!“ sagte Flex zum Abschied. „Ich werde auf ihn aufpassen!“ antwortete Lubber. „Ja, er wird auf mich aufpassen. Immerhin kann er uns auch nachts den Weg zeigen.“ sagte Wolf in Anspielung auf Lubbers Taschenlampen, die sie in einem großen Rucksack verstaut hatten. Flex lachte. „Oh ja, das wird er. Hast du deinen Mundschutz, Lubber? Das Cape?“ „Wolf hat sogar noch Ersatz besorgt.“ sagte Lubber. Dann war es soweit. Die drei umarmten sich zum Abschied. Als Lubber und Wolf die Höhlen verließen, stand Flex noch einige Zeit am Ausgang. Es war merkwürdig, und offenbar nur ihm bewußt geworden. Da hatten sich drei verabschiedet, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. Hier der durch die Krankheit so gewordene Mutant, dort der Mensch, der an der Krankheit einmal sterben würde. Und dann der, welcher die Krankheit mit verursacht hatte. Sie alle drei hatten sich umarmt, verabschiedet, als ob sie sich niemals wiedersehen würden. Es war schon merkwürdig. Was für eine Ironie, dachte Flex und ging wieder zurück. Er sollte Recht behalten. Er würde Lubber und Wolf nie wiedersehen.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
„Ich würde dich nicht fragen, wenn Zander noch leben würde.“ sagte Zardos. Er hatte Fjord zu sich kommen lassen. „Was soll ich tun?“ fragte sie. Er nickte. „Komm mit.“ Sie gingen in sein Arbeitszimmer. Sie bemerkte die vielen Monitore. „Überwachst du die Kuppel und die Menschen? Uns?“ „Manchmal, ja.“ antwortete Zardos. Er ging zu seinem Schreibtisch und drückte einen Knopf. Einer der Monitore schaltete sich ein. „Eines der Bänder aus der Nordstadt. Sieh genau hin, und du wirst wissen, was du zu tun hast.“ Fjord sah sich das Band an. Es war Nacht, und eine Frau lief in gebückter Haltung zu den Häusern, um Schutz vor den Scheinwerfern der Wachen auf der Mauer zu finden. Dann erkannte Fjord die Frau. „Du sagtest, sie sei bereits tot und keine Gefahr mehr für uns.“ Zardos hielt das Band an und vergrößerte das Bild, so daß man das Gesicht der Frau deutlich sehen konnte. „Sie hat mich getäuscht. Hat falsche Signale gesendet, so daß die Techniker und Ärzte darauf hereingefallen sind.“ Radon sah Fjord an. Die setzte sich auf einen Stuhl und sagte zu Zardos: „Wenn das so ist, soll ich sie liquidieren, oder nicht?“ „Das sollst du.“

Zardos drückte wieder einen Knopf und auf einem anderen Monitor konnten sie den Grundriß der Nordstadt sehen. Ein Bereich war mit einem Kreis markiert. „Irgendwo dort befindet sie sich.“ sagte Zardos. „Nun, irgendwo dort werde ich sie töten.“ sagte Fjord und stand auf. „Wann soll es geschehen?“ „Schon morgen früh. Dein Sprung wird bereits vorbereitet.“ „Nein, kein Sprung.“ erwiederte Fjord und hob abwehrend die Klauen. „Besser, ich gehe zu Fuß. Es sind nur zwei, höchstens drei Tage, die ich brauche.“ „Was ist mit den Wachen?“ „Ihre Gedanken werden mir nützen.“ Fjord ging näher an den Monitor. Sie deutete auf einen Punkt. „Das Kino hier. Wohnt dort nicht dieser alte Mensch?“ „Chandras väterlicher Freund. Sebastian, ja.“ sagte Zardos. Dann verstand er. „Fjord! Du bist besser, als ich dachte.“

Fjord lächelte. Natürlich war sie das, sie hatte immerhin die Hetzjagden überstanden und in der Kuppel eine hervorragende Ausbildung genossen. Sie war bestens vertraut im Umgang mit fast allen Waffensystemen, die es noch gab. Nahkampftraining, Technischer Unterricht, es gab nichts, was sie nicht konnte. Nur Zander war ihr wirklich überlegen gewesen. aber wie Zardos schon sagte, Zander war tot. „Ich werde nehmen, was ich brauche.“ sagte Fjord. Zardos nickte. „So diskret wie möglich. Nur wir beide wissen, daß Chandra noch lebt. Kein Funkkontakt, gar nichts.“ Fjord sah ihn erstaunt an. „Aber...“ „Nein, du hast acht Tage, um wieder hier zu sein. Ich werde den anderen sagen, daß du wissenschaftliche Untersuchungen in der Wüste vor dem Nebelland machst. Alle weiteren Fragen werde ich so gut ich kann blockieren. Haben wir uns verstanden?“ „Und wenn ich in acht Tagen nicht zurück bin?“ Zardos stützte sich auf dem Schreibtisch ab und räusperte sich. Dann sagte er: „Wenn du in acht Tagen nicht hier vor meinem Schreibtisch stehst, mir nicht berichten kannst, daß Chandra tot ist... dann wird Pandora zum Einsatz kommen.“ Fjord setzte sich wieder. „Pandora?“ Zardos nickte. „Acht Tage, Fjord. Du hast acht Tage. Aber wenn das keinen Erfolg bringt... ich bin mir sicher, daß Chandra nicht einmal Pandora widerstehen kann. Niemand wird das können. Die Nordstadt wird dann nicht mehr sein. Ich sehe das als letzten Ausweg, um unsere Pläne zu verwirklichen.“ Fjord nickte und stand auf. Bevor sie ging, drehte sie sich um und sagte: „Ich werde alles mir mögliche versuchen, damit Pandora nicht gestartet wird.“ Zardos hob seine Klaue zum Abschied. „Viel Glück!“ Am nächsten Morgen machte sich Fjord auf den Weg in die Nordstadt. Sie war nun außerhalb der Kuppel. In der Trostlosigkeit der realen Welt. Sie war im Nebelland.

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Hinter dem Nebel - November 2045
Der Ausbau des neuen Hauptquartieres ging nur zögernd voran. Zardos hatte angeordnet, es unterirdisch anzulegen. Man könne nie wissen, hatte er gesagt. Jetzt mühten sich etwa zweihundert Menschen, tiefer in das Erdreich vorzudringen. Aber sie waren da auf einen Felsen gestoßen, der selbst mit den modernsten Bohrmaschienen nicht zu knacken war. Die Geologen fanden schließlich heraus, daß der Fels künstlich war. Messungen ergaben, daß es sich um eine Art Mantel handelte. „Darunter liegt ein sehr großer Hohlraum.“ hatte Saskia Sliwka Zardos berichtet. Er schätzte sie. Saskia war, wie ihre Mutter, eine hervorragende Spezialistin auf ihrem Gebiet. Nun, nicht in der Geologie, wie man es vermuten könnte, wenn man ihre Mutter gekannt hatte. Saskia war Expertin in Sachen Geschichte. Und sie war es auch, die auf die Lösung kam. „Das könnte ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg sein, oder dem letzten Krieg, wie auch immer. Jedenfalls haben die Menschen damals die alten Abschußvorrichtungen für die Nuklearwaffen zerschrottet, oder, wie in diesem Fall, einbetoniert. Mit einer Mischung aus Beton und irgendeinem Kunstoff gegen die Strahlung. Wir wissen leider nicht mehr viel über diese Substanz.“ „Sie meinen, da unten befindet sich ein atomarer Flugkörper?“ fragte Zardos und begann zu lachen. „Saskia, sämtliche Waffen solcher Art wurden 2008 im Rahmen der Friedensgespräche vernichtet. Die gibt es nicht mehr!“ Sie war von ihrem Stuhl aufgesprungen und rang um die richtigen Worte. Er konnte ihre Gedanken hören. Er hörte auch, was sie von ihm dachte. Ein sturer Mistkerl? Er?

Zardos lächelte. Sie war genau so aufbrausend wie ihre Mutter. Leider ist sie viel zu früh gestorben, dachte Zardos, ausgerechnet durch einen herabrollenden Felsen, irgendwo da draußen im Nebelland. „Nun, Saskia?“ Saskia verschränkte ihre Arme. „Ich will damit andeuten... Zardos, am Ende gab es so viele von den Dingern! Ich meine, gut möglich, daß sie die hier übersehen haben. Und es ist auch möglich...“ Sie zögerte und legte ihren Kopf etwas schief. „Und es ist auch möglich, daß ich mich irre. Das da unten nur ein leerer Raum ist.“ „Das hat das Radar bereits bestätigt.“ sagte Zardos. „Ja, nur die letzten Sprengkörper wurden so konstruiert, daß sie dem Radar oder sonst irgendeinem Aufklärungsgerät, was auch immer... Die Amerikaner, sie hatten es geschafft, praktisch unsichtbare Flugkörper zu bauen. Fortgeschrittene Stealth-Technologie, für kein Gerät meßbar. Man würde es erst merken, wenn es schon zu spät war. Wir müssen durch den Felsen, Zardos. Durch diesen künstlichen Mantel.“ Zardos nickte. „Na schön, dann werden wir diesen... Mantel durchbrechen, einverstanden? Sie werden mit mir als erstes einen Blick in den Hohlraum werfen.“ Saskia konnte es sich nicht verkneifen, aber sie legte ihre Handflächen zusammen und sagte überschwenglich: „Das wäre eine große Ehre für mich.“ „Schade, daß Bettina nicht dabei sein kann.“ sagte Zardos. „Ich habe sie sehr geschätzt. Als Mensch. Und als einen guten Freund.“ Saskia nickte. „Danke.“ sagte sie leise.

Das hohe Summen der Sprechanlage ertönte. Zardos deutete Saskia an, ruhig zu sein. Er drückte einen Knopf. „Sprechen Sie!“ Aus dem Lautsprecher hörten sie eine aufgeregte Stimme. „Sir, Gerard hier, aus dem seismologischem Labor. Sir, wir haben da etwas seltsames empfangen.“ „Reden Sie weiter.“ Zardos setzte sich. „Ein leichtes Beben in der Nordstadt. Es kam völlig unerwartet, damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet. Wir haben das zufällig aufgezeichnet. Warten Sie einen Moment... Jetzt müßten Sie es sehen!“ Auf einem der Monitore sahen Saskia und Zardos, wie in der Nordstadt plötzlich die Erde zu beben begann, Autos sich überschlugen und Menschen durch die Luft geschleudert wurden. Es dauerte nur sehr kurz. Aber das Beben hatte Wirkung gezeigt. Zardos wandte sich der Sprechanlage zu und sagte zu Gerard: „Nun, daß kann doch durchaus vorkommen.“ „Nein, Sir. Das ist es ja gerade. Das war kein natürliches Beben. Es ging nicht von der Erde aus.“ „Was sagen Sie da?“ „Es war künstlich.“ Zardos dachte nach. „Die andere Kuppel vielleicht?“ „Was... Sir? Welche andere Kuppel?“ Zardos hatte nicht aufgepaßt. „Vergessen Sie es.“ sagte er schnell. „Gerard? Ich will Ihre Daten so schnell wie möglich in meinem System haben, okay? Zardos, Ende!“ Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Saskia hatte die ganze Zeit aufgeregt die Bilder und das Gespräch verfolgt. Eine andere Kuppel? „Nein, Saskia!“ sagte Zardos und beugte sich wieder vor. Er sah sie an. „Es gibt keine andere Kuppel! Sie werden das hier für sich behalten.“ Sie nickte. „Okay. Dann sehen wir uns morgen früh.“ sagte Zardos. „Ja, ist gut.“ Saskia lächelte noch einmal verlegen und ging.

Als sie die Tür geschlossen hatte, schrie Zardos auf. Verdammter Idiot, dachte er. Wie konnest du dich nur so hinreißen lassen. Sein Ärger über sich selbst weilte nur kurz. Die Daten von Gerard wurden übermittelt. Interessant, dachte Zardos. Wenn es nicht natürlich war, so hatte irgendjemand das Beben ausgelöst. Er war sich sicher, daß es Radon nicht sein konnte. Die andere Kuppel hatte sich völlig abgeschottet vom Rest der Welt. Zardos holte sich einige Dateien über Radon auf den Bildschirm. Ob Radon wußte, daß ihm persönliche Unterlagen gestohlen worden waren? Sowohl Unterlagen über seine Kuppel, und über seine Forschungen, Experimente an seiner Frau? An seiner schwangeren Frau? Dana, dachte Zardos. Ob sie noch lebte? Als er die Dateien mit den Ergebnissen von Radons Experimenten vor sich sah, dachte er plötzlich an die Möglichkeit, daß es in der Nordstadt jemanden gab, den es eigentlich nicht geben sollte. Radons Kind. Wenn es wirklich existieren würde, warum dann keinen Vorteil für uns, für mich daraus erzielen? Zardos arbeitete noch tief bis in die Nacht, bevor er sich kurz ausruhte, um sich dann am frühen Morgen mit Saskia Sliwka am Mantel zu treffen.

„Sie sehen müde aus.“ sagte Saskia. Er winkte ab. „Ich habe gearbeitet.“ „Ja, das kenne ich.“ Sie stiegen die Baugrube hinunter. „Das ist er also?“ Saskia nickte und sagte: „Ja, daß ist die äußere Hülle des Hohlraumes. Zardos, ich möchte, daß Sie wissen...“ „Ja, ich weiß. Sie könnten immer noch falsch liegen. Nun, sei es drum.“ Er gab den Technikern das Signal zur Sprengung. Er und Saskia gingen hinter einem dicken Schutzwall in Deckung. Der Lärm der Explosion war ohrenbetäubend. Als der aufgewirbelte Staub weg war, sahen sie ein kleines Loch in der Wand. Gerade groß genug, um in das Innere dahinter hineinzukriechen. Einige der Ingenieure machten sich auf den Weg. „Halt!“ rief Zardos. „Zuerst gehen Saskia Sliwka und ich hinein.“ Er sah zu Saskia. „Bereit?“ Sie nickte. Sie war aufgeregt, das konnte er anhand ihrer Gedanken erkennen. „Wollen Sie den ersten Schritt tun?“ fragte er sie. Er wußte ihre Antwort bereits. Ohne etwas zu sagen kroch Saskia in den Hohlraum. Zardos drehte sich zu den Ingenieuren und Wissenschaftlern um. „Zwanzig Minuten!“ rief er. Dann begab er sich ebenfalls in das Innere.

Schnell hatte er sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er sah Saskia, die einige Meter vor ihm stand. Er hörte, was sie dachte. Und dann sah er es auch. Wie Saskia es vermutet hatte, standen sie in einer Abschußrampe. „Wahnsinn!“ sagte Saskia und leuchtete mit dem Scheinwerfer zur Mitte der Rampe. Dort stand eine der gefürchteten Waffen. „Ich kenne diese Art.“ sagte Saskia. „Jedes Ziel kann mit dem Ding dort zerstört werden. Jedes Ziel auf der Erde. Wahnsinn, als ob wir die Büchse der Pandora öffnen würden.“ Zardos sagte nichts, sah nur entsetzt auf den atomaren Flugkörper, welcher vor ihnen stand. Dann sagte er leise zu ihr: „Wir haben sie bereits geöffnet. Alles fing mit der Krankheit an... und das schlimmste überhaupt steht direkt vor uns!“ „Ich habe Angst, Zardos. Was werden die Menschen hier sagen, wenn sie wissen, daß eine funktionierende Nuklearwaffe sich innerhalb der Kuppel befindet.“ „Sie... funktioniert?“ Saskia deutete zu zwei kleinen Signallampen, die sich an der Außenhülle der Rakete befanden. „Sie leuchten in kurzen Intervallen auf. Ein Zeichen dafür, daß die Waffe einsatzbereit ist. Sehen Sie? Da hinten, die Tür an der anderen Wand. Vermutlich der Zugang zum Kontrollraum.“ Sie sah zu Zardos. „Was sollen wir jetzt tun?“ fragte sie.

Er ging auf sie zu und senkte seinen Kopf. Saskia war bereit, den Menschen über ihren Fund zu berichten. Aber das konnte er nicht zulassen. Niemand durfte das wissen. „Tut mir leid, Saskia.“ sagte er. „Keiner von euch Menschen wird jemals erfahren, daß diese Kuppel im Besitz einer mehr als tödlichen Waffe ist.“ Blitzschnell schnitt er ihr mit seinen scharfen Krallen die Kehle durch. Er hörte, was sie dachte, als sie auf die Knie fiel, um dann mit weit geöffnetem Mund zur Seite kippte. „Tut mir leid.“ sagte Zardos und verließ den Raum. Er gab den anderen die Anweisung, die Stelle abzusichern. Fortan hatten nur noch Mutanten und ausgewähltes Personal Zutritt. Zardos verfolgte einen Plan. Er hatte die ganze Zeit nach einer Möglichkeit gesucht, die andere Kuppel zu zerstören. Radons Kuppel auszulöschen. Nun hatte er die Möglichkeit dazu. Aber noch scheute Zardos, die Waffe auch einzusetzen. Sie würde als letzte Maßnahme in Betracht gezogen werden. Vorerst setzte er auf das Kind von Radon, wenn es denn wirklich existieren sollte. Nach und nach verschwanden sämtliche Menschen, die von der Waffe wußten. Niemand fragte. Niemand wagte es, Fragen zu stellen. Es waren nur wenige Mutanten, die in der Kuppel lebten. Aber sie hatten die Macht. Sie waren die Macht. Daran gab es keine Zweifel. Hinter vorgehaltener Hand sagte man, daß die Mutanten sich selbst eine Art Bezeichnung gaben. Die dritte Macht.

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Nordstadt
Es war nicht leicht gewesen, vor dem zu stehen, was einmal das Haus gewesen war, in dem sich Chandras Wohnung befunden hatte. Sie hatte in dem Geröll herumgestochert, mit der kleinen Hoffnung, etwas zu finden, was ihr gehörte. Es war sinnlos, daß wußte sie. Chandra ging wieder zurück zum Kino. Unterwegs kam sie an einer kleinen Seitenstraße vorbei. Sie hörte lautes Geschrei. Früher war sie schnell weitergegangen, aber heute... Chandra sah drei Männer, die eine Frau zu Boden geworfen hatten und auf sie einschlugen. Die Frau schrie um Hilfe. Chandra wußte, daß niemand kommen würde, um ihr zu helfen. Ich kann alles tun, dachte sie. Langsam ging sie auf die drei Männer zu. Einer bemerkte sie und ließ von der Frau ab. „Oh, wen haben wir denn da? Süße, lauf nicht weg! Du bist die nächste!“ rief er und kam ihr entgegen. Später erzählte sie Sebastian, daß sie instinktiv gehandelt hatte, als ob sie das schon immer konnte. Wie sie ihre Hand ausstreckte, und nur mit ihrem Willen den Mann an die Wand warf. Wie sie die anderen zwei Männer nur mit einer Handbewegung von ihr mehrere Meter durch die Luft warf. Die drei Männer waren schnell weggelaufen. Ebenso wie die Frau, der sie geholfen hatte.

„Sie hat mich so komisch angesehen, Sebastian. Als ob ich ein Monster wäre. Dabei habe ich doch nur geholfen. Und diese Frau sah mich an und rannte schreiend davon.“ Chandra setzte sich auf das Bett. „Verstehst du? Als ob ich ein Monster sei. Bin ich das, Sebastian? Bin ich ein Monster?“ Er setzte sich zu ihr und drückte sie an sich. „Ach Chandra, du bist doch kein Monster. Und auch kein Mutant! Ich sehe vor mir immer noch dieses kleine Mädchen, so hilflos... so enttäuscht, weil die Mutter ihr nicht mehr beistehen würde. Nein, Chandra. Du bist kein Monster. Das bist du nicht, hörst du?“ Für einen kurzen Moment hielt er inne. „Ich habe dir das nie gesagt, Chandra. Aber als ich dich damals gefunden habe, ich kann es nicht genau erklären, es war, als ob mich etwas höheres direkt zu dir geführt hat. Ich weiß noch, wie ich ziellos durch die Straßen lief, und dann das Geschrei hörte. Ja und dann... dann lagst du einfach dort. Du hattest dich beinahe schützend über deine Mutter gebeugt. Und dein Blick, Chandra. Der war so voller Wut und Verzweiflung. So, wie ich mich fühlte. Es ging mir erst besser, als ich mich deiner annehmen durfte.“ Sebastian hörte das leise Schluchzen von Chandra. „Doch nun.“ sagte er. „Doch nun mußt du endlich etwas gegen die Mutanten unternehmen. Ich befürchte, daß sie wissen, daß du noch lebst. Sie werden sicherlich jemanden schicken, um dich zu töten. Das ist dir doch bewußt?“ Chandra nickte. „Ja, die ganze Zeit denke ich daran.“ Sie schob Sebastians Arme weg und stand auf. Sie ging zum Fenster.

„Vielleicht sollte ich mich von dir fern halten, Sebastian. Möglich, daß sie meine Zuneigung zu dir gegen mich einsetzen. Zardos weiß, was du mir bedeutest. Alle in der Kuppel wissen das. Ich will nicht, daß dir etwas geschieht. Das könnte ich mir niemals verzeihen.“ Sebastian sah Chandra, wie sie unsicher und verzweifelt aus dem Fenster sah. Das könnte ich auch nicht, dachte er. „Ich möchte dir etwas geben.“ sagte er und stand auf. Chandra hatte sich umgedreht. Sebastian ging zu seinem Kleiderschrank, öffnete die Türen und holte einen kleinen Karton hervor. „Mach ihn auf!“ forderte er sie auf und gab Chandra den Karton. Sie nahm den Deckel des Kartons ab und sah in das Innere. „Damit hast du wohl nicht gerechnet, hm?“ fragte Sebastian. Chandra nickte. Natürlich nicht. Keiner hätte das. Es war ein Foto, auf dem ein kleines Mädchen sich eng an einer Frau schmiegte, die offenbar tot auf der Straße lag. Und neben den beiden stand ein Mann, der sie traurig ansah. „Ist es...?“ fragte sie. Sebastian nickte. „Damals hatte ich einen Freund bei der Polizei. Ein Streifenwagen fuhr zufällig vorbei, du und ich haben das nicht bemerkt... Warum sie das Foto gemacht haben? Keine Ahnung. Später spielte mein Freund mir es zu.“ „Du hast es mir nie gezeigt.“ „Das ist wahr.“ „Warum?“ Sebastian zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder. „Um ehrlich zu sein, ich hatte Angst. Ja, ich hatte Angst, wie du reagieren würdest.“ Sie sah ihn an. „Sebastian!“ „Nein, es war aber so. Wie dem auch sei. Ich möchte, daß du es bei dir trägst. Als Erinnerung. Denn deine Entscheidung ist bereits gefallen, nicht wahr?“ „Ja.“ Chandra steckte das Foto in eine Tasche an ihrem Anzug. „Wenn alles vorbei ist, werde ich mich bei dir melden.“ Sebastian nickte. „Es ist das beste, für uns beide. Ich würde dir nur im Weg stehen, bei meinem Alter.“ Sie holte die Kapsel hervor. „Und du willst sie wirklich nicht?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das sagte ich schon.“ „Natürlich!“ Chandra steckte die Kapsel wieder weg. Sie umarmte Sebastian und gab ihm einen Kuß auf die Stirn. „Bis bald!“ sagte sie. „Sei vorsichtig!“ Dann war sie weg. Wieder einmal. Sebastian schloß die Tür.

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Im Nirgendwo - Lubber und Wolf
Sie hatten nach Tagen die Stelle erreicht. Ihr Wasservorrat war fast verbraucht und Wolf hatte Angst, daß Lubber den Rückweg nicht schaffen würde. Er selbst hatte seinen Bedarf auf das Nötigste beschränkt. Flex hatte es vermutet, und es bestätigte sich. Die Kuppel von Radon gab es nicht mehr. „Ich kann nicht glauben, daß Chandra das wirklich getan hat.“ sagte Lubber und stieß mit seinem Fuß an einen der wenigen Leichname, die hier noch rumlagen. „Es ist nichts übrig geblieben. Nur ein paar tote Menschen und etwas Geröll. Sie scheint wirklich sehr mächtig zu sein.“ sagte Wolf. „Wir müssen zurück zu den Höhlen, Lubber. Ich schlage vor, uns am Tag im Sand zu vergraben. Es schützt uns gegen die Wärme.“ „Schon seltsam.“ sagte Lubber. „Die Sonne kommt kaum durch, und trotzdem ist es furchtbar heiß.“ Wolf nickte. „Nachts ist es kühler. Dann brauchts du auch weniger Wasser.“ Lubber sah ihn fragend an. Wolf zeigte ihm die Behälter. „Es ist nicht mehr viel da.“ „Oh, das könnte problematisch werden, oder?“ „Ja, Lubber. Das könnte es.“ Er nahm Lubber auf den Arm. „Aber keine Angst. Ich laß dich nicht in Stich, kleiner Freund.“ Lubber lächelte. „Wir gehen nur für ein paar Stunden, dann werde ich uns eine Grube ausheben. Es ist noch früh am Morgen. Wir haben noch etwas Zeit, bevor es richtig warm wird.“ sagte Wolf. Er begann loszulaufen. Unterwegs sagte Lubber: „Wie wohl Flex reagieren wird, wenn wir ihm sagen, daß es seine Kuppel nicht mehr gibt?“ „Das weiß ich nicht, Lubber. Vielleicht ist er sogar froh darüber.“ „Wie meinst du das?“ „Sag nichts mehr, spar dir die Kraft.“ befahl Wolf und lief weiter. Lubber zog sich die Kapuze tiefer in das Gesicht und lehnte seinen Kopf an Wolfs mächtige Schulter. Der Mutant lief geschmeidig und schnell, obwohl er gegen den starken Wind ankämpfte. Der gleichmäßige Rhythmus machte Lubber müde. Bald schlief er ein, während Wolf unbeirrbar sein Tempo hielt und mit jedem Schritt seinen Höhlen näher kam.

Als die Sonne schließlich am Zenit stand und mit ihrer geballten Kraft die dichten dunklen Wolken durchbrach, legte Wolf den Jungen vorsichtig auf den Boden und begann, eine Grube auszuheben. Als er fast fertig war, hörte er plötzlich ein Geräusch. Es war fast wie ein wildes Fauchen, aber nicht das eines Mutanten, schon gar nicht das eines Menschen. Er sah zu Lubber. Der Junge schlief immer noch. Und dann sah Wolf am Horizont einen hellen Schweif. Er hatte seinen Ursprung auf der Erde, das konnte Wolf anhand des Bogens erkennen. Was ist das? Ihm wurde flau im Magen. Wolf hatte ein ungutes Gefühl. Er mußte plötzlich an die zerstörte Kuppel denken. Und während er das tat, sah er vor seinem geistigen Auge die anderen Mutanten und Flex, die in einem grellen, gelblichen Licht verschwanden und schreiend sich in Luft auflösten. Wolf begann zu zittern. Dann hob er schnell Lubber auf, legte ihn sich über die Schulter und rannte so schnell er konnte davon. Weg von dem Ding mit dem Schweif.

Er hörte ein dumpfes Donnern. Kurz darauf spürte er, wie der Boden leicht zu vibrieren begann. Er hielt Lubber fest, der immer noch schlief. Wolf rannte weiter. Das Vibrieren wurde immer stärker. Dann sah er die ersten verdorrten Bäume, die über ihnen hinwegflogen. Oh nein, dachte er. Aber es war zu spät. Er warf sich zu Boden und bedeckte mit seinem massigen Körper Lubber. So sehr er es versuchte, es nützte nichts. Sie wurden von einer gewaltigen Druckwelle erfaßt und in die Luft gehoben. Es war, als ob sie fliegen würden. Wolf tat sein bestes, damit Lubber ihm nicht entglitt. Was Wolf noch mehr ängstigte, als dieser unheimliche Flug war die Stille. Er hörte nichts, nur sein pochendes Herz und den ruhigen Atem von Lubber. Er hatte nur das leise Donnern gehört. Und Minuten später rasten er und Lubber durch die Luft, dem Nichts entgegen. Wolf schloß seine Augen. Er würde versuchen, sich zu drehen, wenn sie abstürzen sollten. Damit Lubber auf ihn prallen konnte. Wahrscheinlich war es sinnlos, dachte er. Er öffnete wieder seine Augen. Er zwang sich, nach unten zu sehen. Was ist das? Er sah nur Wasser. Unter größten Anstrengungen hob er seinen Kopf. Das Wasser erstreckte sich bis zum Horizont. Dann wurden sie langsamer. Der Absturz, durchfuhr es Wolf. Er sah den Teil eines Daches vor sich. Ja, das ist es! Wolf gelang es, dem Dach immer näher zu kommen, bis er es mit eine Hand zu packen bekam. Er brüllte vor Anstrengung und Schmerzen. Durch das Brüllen wurde Lubber geweckt. Er sah Wolfs schmerzverzerrtes Gesicht, die wütenden funkelnden Augen. „Wolf?“ schrie er. Der Mutant brüllte erneut. Und bevor Lubber überhaupt realisieren konnte, was eigentlich passiert war, gab es einen heftigen Aufprall. Lubber schrie vor Schmerzen auf und wurde bewußtlos. Wolf stöhnte auf. Er spürte nichts. Er hatte kein Gefühl in seinem Körper. Er fühlte keinen Schmerz. Er sah nur Lubber, der ohnmächtig auf seiner Brust lag. Wolfs unglaubliches Vorhaben inmitten einer mächtigen unerklärbaren Druckwelle hatte funktioniert. Er hatte sich drehen können, so daß er vor Lubber auf das Dach fiel und dadurch mit seinem Körper Lubbers Aufschlag wenigstens etwas abfangen konnte. „Lubber?“ flüsterte er völlig entkräftigt. Lubber sagte nichts. „Ja, schlaf! Schlaf ist gut, für uns beide.“ Wolf fielen die Augen zu. Beide trieben auf einem Stück Dach dem Horizont entgegen. Und um sie herum war nur Wasser.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Nimrod zog die Nadel aus Klaas Oberarm und füllte das Blut vorsichtig in eines der Reagenzgläser. Dann stellte sie es unter das Mikroskop. Auf dem Bildschirm sahen sie eine Vergrößerung. „Sie reagieren, wie wir es erwartet haben.“ sagte sie. Klaas nickte. „Das ist gut, nicht wahr?“ „Sehr gut sogar.“ Sie schaltete den Monitor ab und nahm das Reagenzglas. „Das ist es, Klaas. Der Wirkstoff. Eine Möglichkeit, um alle zu retten.“ „Zardos wird nicht erfreut sein.“ „Es wird zu spät sein, wenn er es herausfindet.“ Sie hatten es tatsächlich geschafft. Ein Mittel, daß sowohl gegen die Krankheit half, als auch die Mutation rückgängig machte. „Und bei mir wirkt es auch?“ Nimrod nickte und lächelte. „Ja, Klaas. Du wirst ein Mensch werden. Wie Maria.“ Sie zeigte hinter Klaas. Er drehte sich um und sah Maria am anderen Ende der Halle an einigen der Meßgeräte. „Ihr Gedanke war erschreckend, Nimrod.“ „Klaas! Warum sollte denn ein Mensch nicht auch denken können, ob es eine Möglichkeit gibt, den Menschen da draußen zu helfen. Das zeigt doch, daß Maria ein guter Mensch ist.“ „Das ist sie, ja. Ich habe wohl überreagiert.“ „Das hätte jeder von uns.“ sagte Nimrod. Sie ging zur Klonmaschine. „Es wird nie wieder so sein, wie jetzt.“ sagte sie. Klaas nickte. Sie gab einen Befehl in die Tastatur ein. „Noch können wir zurück. Noch können wir den Verrat sein lassen. Klaas?“ Klaas sah zu Maria. „Nein, Nimrod. Vervielfältige es. Ich will so werden wie sie. Ein Mensch. Ich will ihr als einer von ihnen gegenübertreten. Ich kann diese Klauen nicht länger ertragen.“ Nimrod nickte und bestätigte ihren Befehl. Die Maschine begann zu summen.

Während das heilende Virus millionenfach reproduziert wurde, saßen Klaas und Nimrod stumm vor der Maschine. Sie sagten nichts, sie hörten nur die Gedanken der Menschen, die mit ihnen im Biolabor waren. Einiges tat den beiden Mutanten weh, anderes jedoch ließ sie lächeln, und an das glauben, wa sie taten. An das Richtige. "Diese Mutanten beobachten uns." "Sie schützen uns." "Sie sind die dritte Macht!" "Sie sind böse!" "Ich vertraue ihnen." Aber das waren nur Gedanken. „Drei Stunden, dann haben wir genug Wirkstoff, die Krankheit von diesem Teil der Erde zu verbannen. Klaas, wenn alles gut geht, werden wir bald die Wirklichkeit erleben.“ Sie ergriff seine Klaue. „Hoffentlich geht alles gut. Hoffentlich passiert nicht etwas unvorhersehbares.“ sagte Klaas. „Etwas unvorhersehbares?“ sagte jemand hinter ihnen.

Erschrocken sprangen sie auf. Es war Maria. Sie hatten sie nicht kommen hören! Maria trat vorsichtig näher und lächelte leicht verkrampft. Klaas rang nach Worten und versuchte, etwas zu sagen. Nimrod rettete die Situation. Sie hob ihre Klaue zum Gruß und sagte freundlich: „Maria. Hallo! Können wir Ihnen helfen?“ „Nun, ich wollte fragen, ob sie diese Probe für mich analysieren können, Nimrod.“ Sie gab Nimrod eine kleine Kapsel. „Was ist das, Maria?“ fragte Klaas, der sich wieder gefaßt hatte. „Oh nichts, Klaas. Es ist nur...“ Nimrod fiel ihr ins Wort. „Sie wollen wissen, ob Sie schwanger sind, Maria?“ Klaas verstand nicht. „Schwanger?“ Maria schaute verlegen zu Boden. Nimrod ging zu ihr und legte behutsam ihre Klaue auf Marias Schulter. „Ich verstehe, warum Sie zu mir gekommen sind. Die anderen würden es nicht aktzeptieren, nicht wahr.“ Nimrod meinte die anderen Menschen. „Aber es sind nur die im Biolabor, Maria. Und das wissen Sie. Ich kann Ihre Gedanken hören. Sie wissen, daß es anderen Menschen egal ist, ob Sie mit einem Mutanten oder mit einem Menschen zusammen sind. Es sind nur Ihre Mitarbeiter hier im Labor.“ Nimrod sah zu Klaas. „Sie haben eine gute Wahl getroffen, Maria. Er ist ein guter... Partner für Sie. Und er ist mein Freund. Natürlich werde ich die Probe für Sie analysieren. Ich verstehe nur nicht warum? Das hätten Sie auch alleine gekonnt.“ Maria sah Nimrod an. „Kann ich offen sprechen?“ Nimrod nickte.

Maria ging zu Klaas und nahm seine Klaue in ihre Hand. „Es ist nur so. Du hast dich in letzter Zeit so anders benommen. Und dann die Sache im Park. Und anschließend bei uns zu Hause... etwas hat dich gestört. War es dieser eine Gedanke, den ich hatte? Im Park? Klaas?“ Er sah sie an. „Maria, ich...“ Er wußte nicht, was er sagen sollte. „Das wissen Sie doch bereits, Maria.“ sagte Nimrod. „Das wissen Sie doch bereits. Und Sie wissen auch, was wir vorhaben. Ihre Gedanken können Sie nicht vor uns verstecken. Kein Mensch kann das.“ „Bald werde ich es können.“ entgegnete ihr Maria und sah wieder Klaas an. „Ich will genau wie du, daß es funktioniert. Ich wünsche es mir genau wie du.“ Klaas gab ihr einen Kuß. „Ich weiß.“ sagte er. Maria und er umarmten sich. Nimrod lächelte. Maria hatte gut beobachtet, und Schlüsse gezogen, die richtigen letztendlich. Ihr Lächeln verschwand. Wenn Maria das konnte, dann konnten das andere vielleicht auch. Zardos konnte das. „Wir müssen es heute hinter uns bringen.“ sagte sie. Maria und Klaas nickten. Nimrod nickte ebenfalls. Der letzte Schritt war getan. In wenigen Stunden würden sie das Virus in die Luftfilter bringen. Erst die Kuppel. Dann der Kontinent. „Wer weiß.“ flüsterte Nimrod. „In einigen Jahren die ganze Welt.“ Klaas zog Maria zu sich heran. „Schwanger?“ fragte er sie. Sie sah ihn nur an. „Was denkst du?“ fragte sie ihn und legte ihren Kopf an seine Brust.

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Nordstadt
Drei Tage war Chandra nun weg. Sebastian konnte schlecht schlafen. Immer wieder schreckte er auf, mit dem Gefühl, sie verloren zu haben. So war es auch diese Nacht. Und wieder hatte er seinen schlimmsten Alptraum. Das Wasser teilte sich und die Gestalten kamen auf sie zu. So sehr Sebastian auch versuchte, sich schützend vor Chandra und seine Frau zu stellen, es half nichts. Die Gestalten gingen einfach durch ihn durch und töteten sie. Immer und immer wieder.

Sebastian öffnete die Augen. Er zitterte und er schwitze. Ihm war kalt. Er atmete schwer, als ob eine Last auf ihn drücken würde. Jemand saß auf ihm. Es war zu dunkel, als das er sehen konnte, wer es war. „Was...“ Er bekam einen Schlag ins Gesicht. „Wo ist Chandra?“ fragte der Jemand. Es war eine Frau. Sebastian war noch leicht benommen. Es war ein harter Schlag. „Wo ist Chandra?“ fragte die Frau erneut. Sebastian keuchte. „Ich... kenne keine Chandra.“ stammelte er mühsam. Wieder bekam er einen Schlag. Die Freu beugte sich nahe zu ihn heran. Er fühlte die Haare in ihrem Gesicht, so nahe war sie. Ein Mutant! „Ja, das bin ich, alter Mann! Du kannst mich nicht anlügen. Wo ist Chandra? Sag es!“ Ich weiß es doch nicht, dachte Sebastian. Er hatte panische Angst. „Du weißt es nicht?“ sagte die Mutantin. Sebastian atmete schwer. „Du weißt es wirklich nicht.“ „Nein, nein... weiß nicht.“ Die Mutantin stieg von ihm herunter. Er konnte sie nicht genau erkennen. „Nein, kein Licht!“ sagte sie. Sebastian versuchte etwas zu sagen, doch die Mutantin hinderte ihn daran. Sie kam auf ihn zu und legte ihre Klaue auf seinen Mund. „Nun, ich werde sie finden und töten. Und du?“ Sie holte etwas aus ihrem Anzug. „Oh ja, genau das.“ Sie hielt ihm ein Messer an seine Kehle. Chandra, dachte Sebastian. „Sie wird dir nicht helfen, alter Mann! Selbst wenn? Sie würde ebenso sterben wie du. Jetzt!“ Die Mutantin zog die scharfe Klinge des Messers durch Sebastians Kehle. Er gab keinen Ton von sich. Seine letzten Gedanken waren für Chandra bestimmt. Die Mutantin lächelte. „Nein, Sebastian. Dazu wird es nicht kommen!“ Menschen, dachte sie.

Dann machte sie das Licht an. Das er überhaupt noch lebte, es grenzte an ein Wunder, so alt war der Mensch gewesen. Sie hatte ein Zeichen gesetzt. Falls Chandra zurückkommen sollte, sie würde wissen, daß es in der Nordstadt eine Jägerin gab. Und Chandra war die Beute. Die Mutantin entdeckte zwischen den vielen Flaschen das Geschenk von Chandra für Sebastian. Sie hob es auf und schüttelte es. Es war schön, das mußte sie zugeben. Es sieht unbenutzt aus. Wollte er es dieser Chandra geben? Sie schüttelte den Kopf uns stellte das Geschenk vorsichtig auf den Tisch. Sie mußte Chandra finden. Sie hatte noch zwei Tage Zeit. Ansonsten würde sie nicht rechtzeitig wieder zurück sein, und Zardos würde Pandora starten. Sie verließ das kleine Kino und rannte in Richtung Zentrum der Nordstadt.

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Nordstadt - Fjord
Sie hatte gewartet, bis es dunkel geworden war und anschließend etwa eine Stunde die Wachen auf der Mauer beobachtet. Sie waren nicht gerade vorsichtig. Es waren nur drei. Leichtes Spiel, dachte Fjord. Sie robbte vorsichtig an den Rand der Mauer. Sie hörte, wie eine der Wachen über ihr anhielt. Hatte der Mensch sie etwa bemerkt? Fjord wartete. Dann ging die Wache weiter. Die Mauer war in keinem guten Zustand. Fjord konnte problemlos an ihr hochklettern. Leise schwang sie sich über den Rand. Schnell duckte sie sich und preßte sich gegen die Wand. Regungslos blieb sie in der Hocke. Eine der Wachen kam wieder näher. Als der Mensch in ihrer Reichweite war, preschte sie mit einem Sprung nach vorne und riß den Mann um. Noch im Fallen brach sie ihm das Genick. Blieben noch zwei, dachte Fjord und zog die Leiche in eine kleine Ecke, wo sie so schnell nicht auffallen würde. Zehn Minuten später hatte Fjord auch die anderen beiden Wachen erledigt. Sie sprang von der Mauer herunter. Sie befand sich nun in der Nordstadt. Schnell lief sie über die brach liegende Fläche zu einem der Häuser. Sie holte das Cape aus ihrem Rucksack und legte es neben sich auf den Boden. Dann überprüfte sie die Waffen, die sie mitgenommen hatte. Hauptsächlich waren es Schußwaffen mit Schalldämpfern. Aber Fjord hatte auch Messer und E-Shocker dabei. Sie packte alles wieder zusammen und zog sich das Cape über. Sie schnallte sich einen Gürtel um und befestigte an ihm eine Schnellschußwaffe, eines von den moderneren Geräten, die sie im High-Tech-Labor entwickelt hatten. Jetzt wußte Fjord ihre vielen Überstunden zu schätzen. Sie nahm den Rucksack, zog sich die Kapuze tief in ihr Gesicht und machte sich auf die Suche nach Chandra.

Ihr erster Anhaltspunkt war das kleine Kino dieses Menschen, der für Chandra offenbar mehr als nur ein Freund war. Dort würde sie mit der Suche beginnen. Schnell lief sie die Straße entlang. Fjord bemerkte zwar nicht die Gesichter der erstaunten Menschen, wohl hörte sie aber ihre Gedanken. Natürlich war ihr klar, daß es ungewöhnlich war, wenn ein Mensch grundlos rannte, immerhin wurde sie von niemandem verfolgt. Aber das war Fjord egal. Sie kümmerte sich nicht weiter um die Menschen. Sie hatte nur wenig Zeit, um Pandora zu verhinden. Sie mußte Chandra rechtzeitig töten.

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Nordstadt - Chandra
Sie hatte gesehen, wie die Frau das Kino verlassen hatte und zum Zentrum rannte. Chandra kroch aus ihrem Versteck. Sie hätte es wissen müssen. Sie würden zuerst bei Sebastian anfangen, nach ihr zu suchen. Wieso habe ich sie nicht gesehen, fragte sie sich. Eine böse Vorahnung beschlich sie. Chandra überquerte die Straße und klopfte an Sebastians Tür. Als sich nichts tat, öffnete Chandra die Tür und ging langsam die Treppe hoch zu seiner Wohnung. „Sebastian?“ rief sie. Nichts. Die Tür zum Wohnzimmer war angelehnt. Licht brannte. Chandra stand im Flur und lugte durch den Spalt. „Sebastian?“ rief sie erneut. Sie legte die Hand an die Tür und stieß sie ein wenig auf. Auf dem ersten Blick sah alles aus wie immer. Die vielen Flaschen, die Unordnung. Chandra betrat das Zimmer. Aus irgendeinem Grund fiel ihr erster Blick zum Bett. Die Decke war über etwas gelegt worden. War es Sebastian? Auf einmal bekam sie kaum noch Luft. Sie mußte ihren Körper zwingen, zum Bett zu gehen. Sie nahm die Decke. Sie zögerte. Dann zog sie die Decke vom Bett herunter und ging einen Schritt zurück. Sie stolperte über etwas und fiel in den alten Sessel. Sie atmete schwer, ihr Herz raste und ihr Verstand setzte aus.

Es war Sebastian. Sein Mund war weit geöffnet, seine Augen immer noch starr vor Angst. Das Blut an ihm war noch frisch. Es ist sein Blut, dachte Chandra. Der Schock hatte nachgelassen. Diese Frau, dachte Chandra. Die vorhin aus dem Kino kam und wegrannte. Sie hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Sebastian war tot, und Chandra hatte nichts dagegen tun können. Weil sie für einen winzigen Augenblick nicht aufgepaßt hatte, weil sie von dem Lärm aus einem der Hinterhöfe abgelenkt war, und in diesem Moment diese Frau das Kino betreten hatte. Chandra rutschte vom Sessel herunter, sie hatte keine Kraft mehr. Sie lehnte sich an das Bett. Er ist tot, dachte sie. Sie selbst vergoß keine einzige Träne, obwohl Traurigkeit und Verzweiflung sie fast auffraßen. Chandra machte die Augen zu. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sich abgespielt hatte. War sie einfach in das Zimmer gekommen, als er noch schlief? Hatte Sebastian ihr die Tür aufgemacht, in der Hoffnung, Chandra würde draußen stehen? Chandra saß noch die ganze Nacht an dem Bett, in dem Sebastians Leichnam lag.

Erst als es draußen hell wurde, hatte Chandra die Kraft wiedergefunden, aufzustehen. Sie stand vor dem Bett. Sie deckte Sebastian mit der Decke zu. Etwas muß ich ihm noch sagen, bevor ich gehe, dachte sie. Sie sah aus dem Fenster. Es war der magische Moment eines jeden Tages. „Siehst du?“ sagte sie. „Wie du gesagt hast. Es geschieht immer wieder. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Ich werde dich nun gleich für immer verlassen. Ich hasse mich dafür, daß ich nicht bei dir sein konnte. Daß ich dir nicht helfen konnte. Sie haben einen Krieg angefangen, den ich nicht wollte. Und jetzt haben sie dich getötet. Weil sie mich wollten. Sie haben unsere Beziehung gegen uns eingesetzt, Sebastian.“ Dann holte sie das Foto aus ihrer Tasche und legte es Sebastian auf die Brust. Sie senkte den Kopf. „Ich werde versuchen, sie aufzuhalten. Ich werde mehr als das, Sebastian. Leb wohl.“ Chandra verließ das Kino. Als sie einige hundert Meter entfernt war, auf dem Weg in das Zentrum, ging das Kino in Flammen auf, um schließlich mit einem gewaltigen Knall zu explodieren. Die Mutanten hatten einen Krieg angefangen. Chandra war fest entschlossen, ihn zu gewinnen.

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Nordstadt - Zentrum
Das Zentrum der Nordstadt war fast eine Stadt für sich, so gewaltig war es. In dessen Mitte lag ein großer Platz, umgeben von bizarren Skulpturen, die irgendwann hier einmal aufgestellt wurden. Die Stadtoberen nannten so etwas moderne Kunst. Chandra war es egal. Sie wartete. Instinktiv wußte sie, daß die Frau hier irgendwo war. Also hatte sich Chandra auf den Platz gestellt, um sich zu präsentieren, deutlich zu machen, daß sie willens war, zu kämpfen. Sie hörte ein Klicken hinter sich. Blitzschnell sprang sie zur Seite und der ihr gedachte Schuß verfehlte sie knapp. Chandra drehte sich um. Es war die Frau. Sie hatte eine Waffe in der Hand. Bevor die Frau wieder auf sie zielen konnte, sprang Chandra und riß sie zu Boden. Dabei löste sich die Kapuze der Frau und ging auf. Chandra war es irgendwie klar gewesen. Es war eine Mutantin. Die Mutantin brüllte auf und stieß Chandra von sich herunter. Chandra rollte sich ab. Die Mutantin erhob sich, scheinbar überrascht von Chandras Stärke. Die Mutantin keuchte vor Anstrengung. Chandra sah sie an. Ich kenne diesen Mutanten, durchfuhr es sie. Aus dem unterirdischen Hauptquartier in der Kuppel.

„Fjord!“ sagte sie leise. Die Mutantin nickte und antwortete: „Chandra!“ Chandra nickte ebenfalls. Fjord hatte bei dem Kampf ihren Rucksack verloren. Er lag etwas abseits, und die Waffe war ihr von Chandra aus der Hand geschlagen worden. Die pure Kraft und der Wille zum Sieg würden also entscheiden. Fjord versuchte, die Gedanken von Chandra zu lesen, aber es gelang ihr nicht. „Wenn du tot bist, werden alle hier in der Stadt überleben!“ sagte sie. Chandra zeigte sich unbeeindruckt. „Du hast den letzten Menschen getötet, der mir was bedeutet hat. Diese Stadt ist mir egal.“ Fjord nickte. „Wie du meinst.“ Sie sprang auf Chandra zu, bereit ihre scharfen Krallen einzusetzen. Chandra duckte sich. Fjord sprang ins Leere. Noch bevor sie sich wütend umdrehen konnte, um einen neuen Angriff zu starten, hatte Chandra den Arm erhoben. Fjord konnte sich nicht mehr bewegen. Chandra machte mit ihrem Arm eine Bewegung nach oben. Die Mutantin verlor den Halt unter ihren Füßen. „Was hast du vor?“ schrie Fjord panisch. „Du wirst jetzt sterben, Fjord!“ flüsterte Chandra. Sie hatte nur diesen einen Gedanken. Diesen Mutanten zu töten. Sie machte die Augen zu. Sie sah vor sich eine dieser Skulpturen, mit ihren spitzen Eisenstangen und scharfen, rostigen Kanten. Sie hörte das Brüllen der Mutantin. Es würde ihr nicht helfen. Chandra ging einen Schritt nach vorn und Fjord flog durch die Luft auf eine der Skulpturen zu. Beim Aufprall durchbohrten sie zwei Eisenstangen. Chandra blieb zurück. Sie wußte, das Fjord tot war.

Chandra hob den Rucksack auf und sichtete den Inhalt. Fast nur Schußwaffen. Dann hatte sie eine Karte gefunden. Sie breitete sie auf dem Boden aus und überflog sie. Die Route, welche Fjord genommen hatte, um in die Stadt zu gelangen, war genau eingezeichnet worden. Chandra rollte die Karte zusammen. Es gab nichts mehr, was sie dazu bringen könnte, noch in der Nordstadt zu bleiben. Sie steckte die Karte weg und verließ das Zentrum. Die Waffen ließ sie an Ort und Stelle. Jetzt wußte sie, wo die Kuppel im Nebelland lag. Noch am gleichen Abend hatte Chandra die Mauern überwunden. Sie war auf dem Weg zu Zardos. Um die Sache endgültig zu beenden.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Sie standen vor einem der Hauptverteiler des Lüftungssystems der Kuppel. Nimrod hielt in ihren Händen einen luftdicht verschlossenen Behälter. Maria und Klaas waren bei ihr. „Bereit?“ fragte sie und sah die beiden an. „Wir können immer noch zurück.“ Sie hörte, was Maria dachte und lächelte. „Ich weiß, es ist das Richtige, Maria.“ Sie sah zu Klaas. „Nun?“ Der Mutant hatte Marias Hand ergriffen. Klaas holte tief Luft und sagte: „Wie Maria schon sagte... Für eine Umkehr ist es jetzt zu spät.“ Nimrod stellte den Behälter in den Hauptverteiler. Sie holte eine kleine Sprengladung hervor und befestigte sie. „Die Explosion wird zu gering sein, um das Luftsystem zu beschädigen. Aber groß genug, um das Virus freizusetzen.“ Klaas setzte die dünne Metallplatte wieder ein. „Drei Minuten.“ sagte Nimrod. „Gehen wir.“

Plötzlich meldete sich Zardos. „Nimrod! Klaas! Wo seid ihr?“ Maria blieb angewurzelt stehen. Klaas sah ihren verängstigten Gesichtsausdruck. „Keine Angst, Maria. In letzter Zeit macht er das andauernd.“ Nimrod bestätigte es. „Seit ich ihn kenne, versucht er zunehmend alles und jeden zu kontrollieren. Er weiß nicht, was wir getan haben.“ Sie ging zu einer der zahlreichen Funkanlagen. Sie stellte die entsprechende Frequenz ein, Sekunden später hörte sie Zardos. „Was machen Sie in der Lüftungszentrale, Nimrod?“ „Ich nehme routinemäßig Proben, um sie im Biolabor zu untersuchen. Der Mensch... Chandra... Sie könnte Keime von außerhalb mitgebracht haben.“ Klaas sah sie fragend an und formte mit seinen Lippen das Wort Keime. Nimrod verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern. Dann meldete sich Radon erneut. „Ja, gut. Aber das ist im Moment nicht wichtig.“ Plötzlich hörte man einen dumpfen Knall im Hauptverteiler. „Was war das?“ fragte Zardos. Geistesgegenwärtig antwortete Nimrod: „Oh nichts, mir ist der Behälter mit den Proben zu Boden gefallen.“ Sie wußte nicht, ob Zardos ihr das glauben würde. Sie sah zu Klaas und Maria, die sehr angespannt wirkten. „Melden Sie sich in einer Stunde im Hauptquartier. Bringen Sie Klaas mit. Wir haben wichtige Dinge zu besprechen.“ Zardos beendete das Gespräch. Nimrod hörte nur noch ein leises Rauschen aus den Boxen. Sie schaltete die Funkanlage ab. „Wir sollen uns bei ihm melden?“ fragte Klaas. Nimrod nickte. „Das hat er gesagt, ja.“ Maria wollte etwas sagen, doch Nimrod winkte bereits ab. „Nein, ansonsten wären wir nicht hier, sonder wahrscheinlich bereits tot.“ Maria lehnte sich an Klaas. „Wir müssen gehen, Klaas.“ Der Mutant nickte und gab Maria einen Kuß. „Das beste wird sein, wenn du wieder zurück in das Biolabor gehst und dich mit deiner Arbeit beschäftigst. Du wirst sehen, bald sind Nimrod und ich wieder zurück. Alles wird gut werden, ja?“ „Okay.“ sagte Maria leise. Nimrod wurde ungeduldig. „Wir dürfen ihn nicht warten lassen, Klaas. Komm jetzt!“ Die beiden Mutanten verließen die Lüftungszentrale.

Maria hörte einen Piepton an der Funkanlage. Sie schluckte schwer. Dann meldete sie sich. „Maria hier.“ „Sind Sie auf dem Weg?“ „Ja, sind sie.“ „Gute Arbeit, Maria. Das Virus ist im System?“ „Ja, ist es.“ „Gut, gehen Sie jetzt nach Hause. Dort erhalten Sie weitere Anweisungen von mir. Zardos. Ende!“ Maria senkte den Kopf. Das hatte sie Nimrod und vor allem Klaas gegenüber geheimhalten können. Sie war nicht stolz auf sich. Aber sie hatte keine Wahl gehabt.

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Im Nirgendwo - Chandra
Unterwegs war sie durch die Siedlung gekommen, in der sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, bevor die Evakuierung begann. Sogar ihr altes Haus stand noch. Als Kind hatte sie im Garten gespielt, mit diesem Nachbarsjungen... Chandra überlegte. Wie hieß er noch gleich? Adrian? Nein, ihr fiel es nicht mehr ein. Es war dunkel, sie sah nur die Umriße des Hauses, und trotzdem konnte sich Chandra an jedes einzelne Detail erinnern, an jede Eigenart des Hauses. Die schiefen Wände. Die knarrenden Türen. An die Fenster, die bei der leichtesten Berührung zu Bruch gingen. Und an den Tag, als Soldaten das Haus stürmten, ihre Mutter das nötigste zusammenpackte und sie sich in die endlos scheinende Menschenschlange einreihten, Richtung Nordstadt. Chandra hob einen Stein auf. Er fühlte sich gut in ihrer Hand an. Griffig, und schwer. Sie holte aus und... senkte ihren Arm wieder. Sie ließ den Stein fallen. Sie schüttelte den Kopf und lief weiter, in die offene Wüste. Mit jedem Schritt wurde sie schneller. Mit jedem Schritt ließ sie ihre Vergangenheit hinter sich. Sie rannte die Nacht durch, und auch am Tag legte sie keine Pause ein. Je näher sie dem Nebelland, und somit der Kuppel kam, um so mehr verdrängte sie die Ereignisse der letzten Jahre. Bald gab es nur noch zwei Dinge, die ihren Geist beherrschten. Ihr Name war Chandra. Und sie war ein Wesen höherer Macht. Als nur noch das da war, geschah es. Genau wie Radon es prophezeit hatte, brauchte Chandra keine Teleporter mehr, um in Bruchteilen von Sekunden an jedem von ihr gewünschten Ort zu gelangen. Plötzlich war sie im Nebelland, in der Kuppel. Genauer gesagt, im Arbeitszimmer von Zardos. Direkt vor seinem Schreibtisch. Sie sah in ein erstauntes, bärtiges Gesicht. Und ihr war klar, daß sie die Person, die hinter dem Schreibtisch auf einem Stuhl saß, töten würde. Sie hörte das Wort ‚Pandora‘, konnte es aber nicht einordnen.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Nimrod und Klaas betraten den Besprechungsraum der Mutanten im Hauptquartier. Sie waren die letzten, die noch fehlten. „Das wurde auch Zeit.“ knurrte Zardos verärgert. Klaas wollte etwas sagen, doch Zardos gab ihm ein Zeichen, ruhig zu sein. Brabham trat einen Schritt nach vorn. „Zardos, was hat das mit den Verzögerungen auf sich?“ fragte er. Klaas und Nimrod setzten sich auf eine Bank, die neben der Eingangstür stand. „Wir hören erst mal zu.“ flüsterte Nimrod. Klaas nickte. Es wurde lauter. „Wo ist Fjord?“ wollte ein anderer, Wassilev, wissen. Zardos legte einen Finger an seinen Mund. „Ruhe!“ sagte er laut. „Bitte! Seid ruhig, damit ich es erklären kann.“ Nach und nach wurde es leiser. Zardos nickte. „Also gut, es gab Verzögerungen. Zum einen, weil Chandra am Leben ist.“

Es war eine ungeheuerliche Nachricht für die anderen. Chandra war am Leben? „Wie konnte das passieren?“ „Ich weiß es nicht. Sie hat uns getäuscht. Chandra befindet sich in der Nordstadt. Fjord ist ebenfalls dort. Sie hat den Auftrag, Chandra zu finden und auszuschalten. Endgültig. Sie hat vor sieben Tagen die Kuppel verlassen.“ Wieder wurde es lauter. „Sie ist zu Fuß unterwegs?“ fragte jemand. „Ja.“ Zardos nickte. „So wollte sie es. Nun... wenn Fjord sich nicht bis morgen abend bei mir meldet, mir persönlich den Tod Chandras bestätigen kann...“ Nimrod stand auf. Klaas wollte sie zurückhalten, aber sie schüttelte ihn ab. Dann stand sie vor Zardos. „Was wird dann geschehen, Zardos?“ wollte sie wissen. Er sah sie an, und da wußte sie es. Sie packte ihn an seinen Schultern. „Das kann nicht dein Ernst sein. Du willst Pandora einsetzen? Bis du wahnsinnig?“ Sie sah in seine funkelnden Augen. „Du mußt es sein. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Wie kannst du das tun! Willst du sie alle umbringen? Wofür? Nur weil du dich rächen willst?“ Nimrod ging einen Schritt zurück. Sie sah aus, als ob sie gleich ohnmächtig wurde. Klaas stand auf.

„Ich will mich nicht rächen, Nimrod.“ sagte Zardos. „Ich will nur Chandra aus dem Weg räumen.“ Er schaute zu den anderen. „Ich habe es euch so oft erklärt. Nur sie kann uns noch aufhalten. Nur noch sie. Sie muß weg!“ Er holte tief Luft. Dann sah er zu Nimrod und sagte leise: „Chandra... und die Verräter in unseren eigenen Reihen.“ Dabei hatte er Nimrod angesehen. „Die Verräter in unseren eigenen Reihen.“ wiederholte er noch einmal. Klaas hatte sich neben Nimrod gestellt. „Was willst du damit sagen, Zardos?“ fragte er. „Das müßtest du doch am ehesten wissen, Klaas!“ sagte Zardos. „Du und Nimrod. Ihr habt uns hintergangen!“ Die anderen Mutanten flüsterten untereinander. „Ja, ihr habt richtig gehört!“ rief Zardos. „Nimrod und Klaas haben uns sabotiert!“ Er drehte sich zu den beiden um. „Habt ihr wirklich geglaubt, euer Plan würde funktionieren?“ Zardos lächelte. Er sah zu Klaas und sagte: „Ich habe dir geraten, diesen Menschen zu verlassen. Nun, du bist meinem Rat nicht gefolgt. Letztendlich hat sie dich verraten, Klaas. Dich und Nimrod. So wie ihr mich und alle anderen in diesem Raum.“ Klaas verstand nicht. „Maria? Was...?“ Nimrod legte ihre Klaue auf seine Schulter. „Nimrod, was meint er damit? Maria?“ Sie nickte. „Genau das wollte er damit ausdrücken.“ sagte sie und sah zu Zardos. „Ich frage mich nur, wie sie es geschafft hat, uns zu täuschen.“ Zardos nickte. „Ja, Nimrod. Wie hat dieser Mensch das wohl geschafft?“ Es klang zynisch, wie diese Worte aus seinem Mund kamen. „Es war recht einfach bei ihr.“ sagte er. „Maria hat schnell gelernt, bestimmte Gedanken zu unterdrücken, wenn es darauf ankam.“

Nimrod und Klaas wurden von den Mutanten eingekreist. Klaas konnte immer noch nicht glauben, daß ausgerechnet Maria ihn belogen und verraten hatte. Zardos trat zu den beiden in den Kreis. „Es ist nicht üblich, daß Mutanten andere Mutanten töten. Das ist ein ungeschriebenes Gesetz.“ Er kniff die Augen zusammen. Er stellte sich ganz nahe an Nimrod. „Ausgerechnet du!“ sagte er leise. „Ja.“ sagte Nimrod. Ihre Augen sprachen Bände. „Warum?“ fragte er. „Auch du warst einmal ein Mensch, Zardos. Du weißt doch, warum ich das getan habe.“ „Hm, du hättest dich damit abfinden sollen, etwas besseres zu sein, Nimrod. Denn das sind wir. Wie sind besser als die Menschen.“ „Indem du Millionen tötest, bist du nichts besseres. Du stellst dich auf die gleiche Stufe wie sie. Hast du nichts aus den Fehlern gelernt, welche die Menschen in den letzten Jahrzehnten gemacht haben?“ „Das habe ich.“ sagte Zardos und lächelte. „Ich habe sehr viel gelernt.“ „So? Was denn?“ „Du hast deine Berechtigung verloren, um darauf eine Antwort zu erhalten.“ Zardos schüttelte seinen Kopf. Dann sagte er zu Brabham. „Bring sie in den Sicherheitstrakt. Schick alle Menschen weg. Und dann... töte sie.“ „Aber, es sind Mutanten! Wie wir!“ sagte Brabham. „Ja. Und?“ Zardos sah ihn an. „Wie du meinst.“ sagte Brabham und zog eine Waffe unter seinem Mantel hervor.

Bevor Klaas und Nimrod den Raum verließen, um ihren Tod entgegenzugehen, rief Nimrod zu Zardos: „Das Virus kannst du nicht mehr aufhalten!“ Dann waren sie weg. Zardos lachte laut und sagte zu den anderen: „Sie hat Recht! Das Virus befindet sich schon im Lüftungssystem. Was sie nicht weiß ist, daß Maria es ausgetauscht hat. Mein Virus ist jetzt dort draußen! Der Anfang ist nun gemacht worden.“ „Jetzt fehlt nur noch die Nachricht von Chandras Tod!“ sagte einer der Mutanten. „Ja!“ rief Zardos. „Fehlt nur noch das!“ Er überlegte kurz und sagte dann zu den anderen: „Sie können jetzt auf Ihre Posten zurückkehren. Nimrod und Klaas werden bald tot sein. Und Chandra auch. Verlassen Sie sich darauf!“ Als nur noch er im Raum war, setzte er sich zufrieden auf seinen Stuhl hinter dem Schreibtisch.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Sie befanden sich in einer kleinen und schmutzigen Zelle im Sicherheitstrakt. Brabham stand hinter ihnen, bereit sie zu töten. Nimrod hörte, wie Brabham die Waffe entsicherte. Sie sah zu Klaas. „Klaas?“ Er schaute zu Boden. „Klaas!“ Langsam drehte er seinen Kopf zu ihr. Nimrod sah in sein Gesicht. Sie wußte, was in ihm vorging. Wie sehr er an die Sache geglaubt hatte. Wie sehr er Maria liebte, trotz ihres Verrats. Wie verzweifelt er war. „Klaas!“ sagte Nimrod noch einmal. „Sieh mich an.“ Brabham setzte den Lauf seiner Waffe an Nimrods Hinterkopf. „Wir haben das Richtige getan, hörst du? Das kann uns keiner nehmen.“ Klaas lächelte. „Kann sein.“ sagte er. „Aber sie können uns unser Leben nehmen. Und genau das geschieht jetzt.“ Brabham drückte ab. Klaas bekam etwas Blut ab. Nimrod fiel zu Boden. Ihre Augen waren geöffnet. „Brabham?“ Klaas spürte die Waffe an seinem Kopf. „Was?“ fragte Brabham. „Versprich mir, ihr die Augen zu schließen. Versprich es mir!“ Brabham sagte nichts. „Danke.“ sagte Klaas. Er machte seine Augen zu. In diesem Moment fühlte er sich wie ein Mensch. „Meine linke Hand... sie ist mir eingeschlafen.“ Es waren seine letzten Worte. Brabham hatte sie zwar gehört, aber nicht verstanden. Wieder drückte er ab. Klaas fiel um. Brabham steckte die Waffe weg. Er beugte sich zu Nimrod herunter und schloß ihr die Augen. Dann verließ er die Zelle. Bevor er die Tür schloß, sah er noch einmal zu den beiden Leichnamen. Es war ihm schwer gefallen, Nimrod und Klaas zu töten. Er hatte sie gemocht, besonders Nimrod. Brabham bedauerte ihren Tod. Doch er hatte ihn nicht verhindern können. „Das stand nicht in meiner Macht.“ sagte er leise. Er verließ den Sicherheitstrakt. Er wollte zu Zardos. Irgendwas läuft hier falsch, dachte er. Und dann bebte plötzlich die Erde. Brabham fiel zu Boden. Er sah, wie Pandora startete. Oh nein, dachte er. Dafür war es viel zu früh. Dann sah er auch schon die gelblichen Blitze, die sich durch die Luft schlängelten und bald die ganze Kuppel vereinnahmten.

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Hinter dem Nebel - Die dritte Macht
Nur noch Zardos befand sich im Besprechungsraum. Zufrieden setzte er sich auf den Stuhl. Sein Blick schweifte über seinen Schreibtisch. Seine Klaue streifte die glatte Oberfläche des Tisches. Es war so einfach gewesen, Maria einzuschüchtern. Er hatte nur ihre Mutter erwähnen müssen. Zardos lächelte. Jetzt stand ihm nur noch Chandra wirklich im Weg. Seine Finger spielten an einem Hebel, der unter der Tischplatte angebracht war. Er bräuchte ihn nur einmal betätigen, und Pandora würde starten. Fjord, dachte er. Enttäusch mich nicht. Er legte seinen Kopf nach hinten. Auf einem der Monitore sah er, wie Nimrod und Klaas den Sicherheitstrakt betraten. Dicht hinter ihnen Brabham, der sie gleich töten würde. Zardos lächelte wieder. Sie hatten wirklich an ihre Sache geglaubt. „Bemerkenswert“ sagte er leise. Er holte tief Luft. Ob er schon das Virus einatmete? Er stand auf. Hier würde nun alles seinen Anfang nehmen. Er lehnte sich an die Wand. Seine Wange berührte die kalte Fläche. „Fjord.“ sagte er noch einmal. Er ging wieder zurück zum Schreibtisch und setzte sich.

Plötzlich verzerrte sich vor ihm der Raum. Es war, als ob mitten im Besprechungsraum ein Spalt geöffnet wurde. Zardos sah gelbes Licht, das den Raum erhellte. Dann war der Spalt wieder weg und Chandra stand vor ihm. Zardos sah sie ungläubig an. Und alles, was er sagen konnte war: „Du?“

Langsam kam sie auf ihn zu. Die Art wie sie ihn ansah. Zardos versuchte, ihre Gedanken zu lesen. Es funktioniert nicht, stellte er fest. Nicht mehr. Chandra sprang auf den Schreibtisch und blieb in der Hocke sitzen. Sie stützte sich mit ihren Händen ab, als ob sie gleich Zardos anspringen wollte. Zardos blieb ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Er beugte sich ein wenig nach vorn. „Du weißt nicht, wer ich bin, oder?“ Chandra schüttelte leicht mit dem Kopf, ließ Zardos aber nicht aus den Augen. Er hatte noch nie so ein ernstes Gesicht gesehen. „Und du weißt nicht, wo du bist?“ Wieder verneinte Chandra. „Ich weiß nur eines.“ sagte sie leise. „Ich bin Chandra. Ich bin mächtig. Und du wirst jetzt sterben.“ Zardos nickte. Sanft hob er seine Klauen. „Nur noch eine Sache.“ flüsterte er. Dann legte er blitzschnell den Schalter um. „Pandora.“ sagte er und begann zu lachen. Der Boden begann zu beben. Zardos fiel vom Stuhl. Er wollte wieder aufstehen, aber Chandra drückte ihn runter. Sie legte ihre Hände um seinen Kopf. „Ich kenne keine Pandora.“ flüsterte sie. Sie drückte fest zu und machte eine schnelle Bewegung. Dann stand sie auf. Zardos lag tot am Boden. Er lächelt immer noch, dachte sie. Warum?

Dann begriff sie. Sie hatte die Monitore entdeckt. Auf einem sah sie, wie eine Rakete sich in die Luft erhob. Pandora, dachte sie. Sie wurde wütend. Aber warum? Was hatte sie mit dieser Rakete zu tun? Sie hielt sich eine Hand vor das Gesicht. Sie sah, wie kleine Blitze aus ihren Fingern fuhren. Es waren gelbe Blitze. Es wurden immer mehr. Chandra breitete die Arme aus und schloß die Augen. Bald war der ganze Raum voller Blitze. Die Luft knisterte. Und dann ließ Chandra es geschehen. Tief in ihrem Inneren wußte sie, daß sie es schon einmal getan hatte. Aber sie wußte nicht mehr wo und wann... und warum. Es dauerte nicht lange. Nichts war mehr übrig.

Chandra sah in weiter Ferne den Nebel. Sie sah sich um. Wo bin ich? Was mache ich hier? Chandra... ihr Name war das einzige, was sie noch wußte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Chandra. Ich bin Chandra. „Chandra.“ sagte sie leise. „Chandra!“ Sie wurde immer lauter. „Chandra!“ brüllte sie schließlich dem Nebel entgegen. Dann rannte sie los, auf den Nebel zu. Vor ihr öffnete sich wieder ein Spalt. Sie sah gelbes Licht. Chandra sprang hinein. Der Spalt verschluckte sie und schloß sich sofort wieder. Minuten später war ein leichtes Donnern zu hören und der Himmel erhellte sich. Dort, wo in etwa die Nordstadt lag, wurde eine gigantische Wolke aus Feuer und Staub in die Luft geschleudert. Pandora hatte ihr zerstörerisches Werk vollbracht.

80
Im Nirgendwo - Lubber und Wolf
Das Wasser plätscherte gegen das Dach. Der Wellengang war in den letzten beiden Tagen stärker geworden. Lubber ging es nicht gut. Das ständige Auf und Ab machte ihm zu schaffen. „Wolf?“ Der Mutant brummte etwas. „Du sollst doch nicht laut reden, Lubber. Das kostet nur unnötig Kraft.“ Entschuldige, dachte Lubber. Wolf stöhnte. „Schon gut, kleiner Freund.“ Der Mutant konnte sich nicht bewegen. Vermutlich hatte er sich das Rückgrat gebrochen. Lubber hatte seinen Kopf auf Wolfs Brust gelegt. „Schlägt es noch?“ fragte Wolf. Der Junge nickte. Er wollte etwas sagen. Wolf unterbrach ihn: „Sie alle sind bestimmt tot. Flex... und die anderen. Als ich dieses Ding am Himmel gesehen habe, mit diesem Schweif... wie es durch die Luft flog. Du hast mir von Nuklearwaffen erzählt, Lubber. So etwas muß es gewesen sein. Und wenn es die Nordstadt zerstört hat, dann ist von den Höhlen nichts mehr übrig. Dafür waren sie viel zu nah dran.“

Etwas streifte das Dach. „Was war das?“ fragte Lubber erschrocken und richtete sich auf. „Es kam von unten.“ sagte Wolf. Lubber sah angestrengt ins Wasser. „Siehst du was?“ Lubber schüttelte den Kopf und sah zu Wolf. „Nicht zu nahe an den Rand!“ sagte Wolf. „Da hinten!“ sagte Lubber. Wolf drehte seinen Kopf zur Seite. „Was ist das?“ fragte er. „Hast du so etwas schon mal gesehen?“ Lubber setzte sich und lehnte seinen Kopf an Wolfs Körper. Er nickte. „Auf Bildern.“ Sie sahen eine Fontäne, die aus dem Wasser in die Luft geblasen wurde. Eine gewaltige Flosse teilte das Wasser. Lubber ergriff Wolfs Hand. „Ich habe noch nie einen Wal gesehen.“ sagte Wolf. „Noch nie.“ Es war ein ergreifender Anblick, der sich ihnen bot. Dann war der Wal verschwunden. „Lubber?“ Der Junge gab keine Antwort. Mühsam hob Wolf seinen Kopf. „Lubber!“ Er sah, wie der Junge sich an ihn gelehnt hatte. Seine Augen waren geöffnet. „Lubber, so sag doch was.“ Wolf spürte, wie Angst in ihm aufkeimte.

Dann stieß das Dach gegen irgendwas. Wolf drehte seinen Kopf, so weit es ging, um zu sehen, was es war. Aber da war nichts. Überhaupt nichts. Was passiert hier, fragte er sich. Er hörte Geräusche. Stimmen. „Hallo?“ rief er leise. Die Stimmen kamen näher. „Hier... hier sind wir.“ rief er leise. Er konnte bald nicht mehr. Dann sah er Gesichter über sich. Es waren Menschen. Das war zumindest das erste, woran er dachte. Sie sahen merkwürdig aus. Sie trugen lange Gewänder und ihre Köpfe waren sehr groß. Wolf sah sie flehend an. „Wir... er. Der Junge hier... er braucht Hilfe. Bitte.“ Er hörte eine Stimme. „Wir helfen keinen Mutanten.“ Wolf rang um Worte. „Nein! Nein, so ist es nicht.“ wehrte er ab. „Er ist ein Mensch. Lubber ist ein Mensch! So wie... ihr, oder nicht?“ Wolf wurde müde, ihm fielen die Augen fast zu. Nein, halte durch, befahl er sich. Er hörte, wie sie diskutierten. Er hörte, wie sie sagten, daß man es nicht verantworten konnte, Fremde aufzunehmen. „Bitte helft uns... helft dem Jungen.“ flüsterte Wolf schwach. Dann wurde Lubber aufgehoben und weggebracht. „Wo bringt ihr ihn hin? Lubber? Lubber! Was habt ihr mit ihm vor?“ Jemand beugte sich Wolf hinunter und steckte ihm etwas in den Mund. „Dem Jungen wird geholfen werden. Er wird leben.“ „Danke.“ flüsterte Wolf. „Aber Sie können nicht bei uns bleiben. Wir helfen keinen Mutanten. Das haben wir noch nie. Wir können nur dazu beitragen, daß Sie es schnell hinter sich haben. Zerbeißen Sie die Kapsel. Sie wirkt schnell. Schmerzlos. Das ist das einzige, was wir für Sie tun können.“ Der Mensch, oder was immer auch er war, stand wieder auf. Die Stimmen wurden leiser, bis sie nicht mehr zu hören waren. Das Dach wurde angestoßen und Wolf trieb wieder auf das offene Meer hinaus.

Er spürte die Kapsel in seinem Mund. „Lubber.“ flüsterte er. Hoffentlich geht es ihm gut, dachte er. Ob es eine weitere Kuppel war, mitten auf dem Ozean? Er konnte es nicht sagen. Vermutlich war es so. Wolf sah nach oben. Trotz des dunklen Himmels wurde er ein wenig von der Sonne geblendet. Wolf schloß seine Augen. Schnell und schmerzlos, dachte er. Dann zerbiß er die Kapsel. Er wurde noch schläfriger, als er es ohnehin schon war. Etwas rammte das Stück Dach und Wolf fiel ins Wasser. Er sank schnell. Schwerelos, dachte er. Es war das letzte, was Wolf noch einfiel, bevor er endgültig das Bewußtsein verlor und seinem Tod entgegenschwebte. Etwas kam aus den Tiefen und schnappte den toten Körper von Wolf. Das etwas zog ihn mit runter. Zu einem Ort irgendwo im Nirgendwo der Tiefsee. Zu einem Ort, an dem es unwichtig war, ob man als Mutant oder als Mensch die Welt verlassen hatte.

81
Chandra
Sie war aus dem Nichts erschienen und stand hilflos zwischen den Ruinen eingestürzter Häuser. Wo war sie? Wer war sie? Ziellos lief sie durch das, was einmal die Nordstadt gewesen war. „Hallo?“ rief sie. Aber niemand antwortete ihr. Sie war eine junge Frau, vielleicht vierundzwanzig Jahre alt. Und sie war vom Leben gezeichnet. Einem Leben, das sie vergessen hatte. Ihr Körper war noch so jung, so schön. Aber ihre Augen, ihr Blick... als ob sie uralt war. Sie lief weiter. Die Frau kam sich verloren vor. Alles hier war zerstört. Alles war tot. Und irgendwie schien sie daran Schuld zu haben. „Hallo?“ rief sie erneut. „Irgendjemand? Irgendwer...“ Die Frau blieb stehen. Die Stadt, sie mußte schon seit Ewigkeiten unbewohnt sein. „Was ist hier geschehen?“ sagte sie leise zu sich. Und wenn ich das nun war? Sie wußte ja nicht einmal, wie sie hierherkam. Sie wußte ja nicht einmal ihren Namen. Sie hörte absolut nichts. Nur Stille. Nur den Wind, der leicht pfeifend sich seinen Weg durch die Ruinen bahnte.

Die Frau sah etwas auf dem Boden. Langsam ging sie darauf zu. Was ist das? Sie hob den Gegenstand auf. Es war aus Glas, eine Kugel. Und sie sah völlig unbenutzt aus. Innerhalb des Glases waren kleine Figuren, sie sahen aus wie... sie wußte es nicht. Es waren zwei. Die Figuren hielten sich an den Händen, als ob sie tanzen würden. Sie schüttelte die Kugel. Und wie von Zauberhand begannen die beiden Figuren sich zu bewegen. Sie schwebten. Die Frau lächelte. Sie wurde von dem Gedanken ergriffen, daß sie das schon einmal gesehen hatte. Bloß wann? Wann? Und woher? Ihr Lächeln verschwand. Sie kniff ihre Augen zusammen. Das ergab keinen Sinn! Sie warf die Glaskugel zu Boden. Irgenwie bereute sie es, das getan zu haben. „Zu spät.“ sagte sie und ging weiter. Langsam wurde es dunkel. Sie befand sich nun außerhalb der verfallenen Stadt. Es wurde auf einmal schlagartig kalt. Sie fröstelte, trotz des seltsamen Anzuges, den sie trug. Sie steckte ihre Hände in die Taschen des Anzuges. Der Temperatursturz war enorm. Was passiert hier, dachte sie. Und dann spürte sie etwas. Etwas war in einer der Taschen. Zitternd holte sie es hervor. Es war eine kleine Kapsel. Was ist das? So sehr sich die Frau auch anstrengte, es fiel ihr nicht ein. Die Kapsel lag in ihrer Hand. Sie sah sie an. War sie für sie bestimmt? Kurz entschlossen schluckte sie die Kapsel. Als nichts geschah, wollte sie weitergehen, weg von den Ruinen. Aber es ging nicht.

Sie konnte sich nicht bewegen. Die Frau sah nach unten. Sie lächelte, als ob sie es geahnt hätte. Ihr Körper begann sich zu verwandeln. Und während er das tat, fiel ihr alles wieder ein. Das Leben, das sie hatte. Sebastian. Ihre Mutter Dana. Lubber. Radon und Zardos. Ihr fiel ein, was sie war. Was sie getan hatte. Und ihr fiel auch wieder ein, wer sie war. Ein Wesen höherer Macht, dachte sie und lächelte. Ihr Name. Chandra. Sie war Chandra. Sie sah wieder nach unten. Ihre Füße waren zu Stein geworden. Es tat nicht einmal weh. Die Kapsel, dachte sie. Radon! Chandra begann laut zu lachen. Sie sah nach oben und breitete ihre Arme aus. So endet es also. Die Verwandlung ging schnell voran. Chandra sah den dunklen und schmutzigen Himmel. Wie konnte das alles nur geschehen? Sie wußte keine Antwort darauf. Und dann? Nichts mehr. Nur noch Dunkelheit. Und ihr Herz, welches in ihr schlug. Immer schwächer und langsamer...

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Jemand hat mal gesagt, Mutanten seien es nicht wert, mit den Menschen gemeinsam zu leben.
Ich teile diese Meinung nicht.
Wolf, Chandra... ich hoffe euch wiederzusehen. Irgendwann. Irgendwo.

Lubber, Januar 2059, Aqua-Kuppel

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ENDE


copyright by Poncher / SV (2001)

 

Neulich habe ich in einem der Fohren eine Diskussion verfolgt, die sich damit befasst hat, ob Gedichte ihren Platz auf Kurzgeschichten.de haben könnten. Ich habe mir erlaubt, deine - mit sicherlich viel Herzblut - geschriebene Geschichte zu lesen. Bin allerdings noch nicht so weit gekommen.
Sie ist doch recht lang geraten.
Nichtsdestotrotz machen mich die ersten zehn Seiten Neugierig, so daß ich mir vorgenommen habe, den Rest der Geschichte morgen zu lesen und mir meine Gedanken dazu zu machen.
Der erste Ansatz erinnert mich aber irgendwie an Highländer II.
Dort lebten meiner Meinung nach ebenfalsch Menschen unter einer künstlich erzeugten Kuppel, die sie vor den angeblich lebensbedrohenden Sonnenstrahlen schützten.
Ich weiß leider noch nicht, ob deine Geschichte in diese Richtung geht. Der Ansatz läßt zumindest vermuten.
Weiteres hierzu - demnächst!
:)

 

Hm, deine Worte laß ich jetzt mal unkommentiert im Raum stehen, zumal du ja nicht mal den ganzen Anfang gelesen hast. Schade, schade!

 

Layout, ich sage nur Layout...

Leute, eine Story muß nicht nur inhaltlich lesbar sein, es kommt (m. E. vor allem!) auch auf das Layout an.

Wenn in einem Text fast jeglicher Absatz fehlt, so finde ich ihn schlichtweg einfach deshalb schon fast unlesbar. Seht doch mal in ein x-beliebiges Buch oder einen Zeitungstext. Dort finden sich ständig und immer wieder Absätze.

Das Auge braucht Möglichkeiten verweilen zu können, zu sinnieren über das soeben gelesene bevor es weitergeht. - Ich denke allein das hier vorliegende Layout wird dazu führen, daß relativ wenig Leute die Story lesen werden, obwohl die ersten Sätze (ich sage bewußt nicht Absätze) sich recht interessant anhören. Wenn ich mal wieder viel Zeit (und ein Lineal zum verfolgen der Zeilen, Leute ihr schreibt hier auf DIN A4, das ist was anderes als auf A5 oder A6!, paßt euer Layout an!) werde ich versuchen mich da durch zu wühlen, da ich vermute, daß es sich lohnen könnte.

In diesem Sinne

ad astra

 

Huh, ist ganz schön lang. Eine Frage: wie lange bist du daran gesessen?

Bin jetzt bei "Hinter dem Nebel - Tag 54". Am besten fand ich bis jetzt, wie die Beziehung zwischen Chandra und Sebastian herausgearbeitet wurde, die Figuren sind einem sehr sympathisch. Auch die Darstellung des Endzeitszenarios finde ich gut (Markthalle, Krankheitszeichen, Desinfizieren, die ganzen Details dazu). Von den Ideen ist es spannend.

Sprachlich gesehen könnte die Geschichte noch Feinschliff vertragen. Wäre es nicht wegen der genannten pos. Eigenschaften hätte ich schon aufgehört zu lesen.

Inhaltlich nur eine Kritik: wieso nimmt es Chandra so gelassen hin, als sie von Sebastian getrennt wurde? Ihr (Nicht-)Verhalten ist sehr unglaubwürdig.

Dann mal schauen wie´s weitergeht :)

 

Meiner Meinung nach ist es keine Kurzgeschichte, sondern eher ein kurzgefasster Roman. Aber gut!

Mein Tip: Nummerier doch die Absätze, dann können auch solche mit deiner Geschichte etwas anfangen, die nur Etappenweise lesen wollen.
Diejenigen, die die Geschichte an einem Stück lesen wollen, kommen nicht umhin es komplett auszudrucken.
Leide ist mein Drucker zur Zeit defekt, daher gehöre ich eher zu den Etappen-Lesern deiner Geschichte.

 

Wow. Und zwar doppelt: Die Länge ist beeindruckend. Dass ich da überhaupt angefangen habe, zu lesen: Ein Wunder (ich hasse Geschichten-Lesen am Bildschirm). Das ich zu Ende gelesen habe: Fast unmöglich, aber wahr. Weiter sage ich erstmal nichts. Muss es noch verdauen.

 

Jetzt NEU mit ABSÄTZEN! Viele haben es gefordert, und da will ich mal auch nicht der Arsch vom Dienst sein.

Aber Leute, MEHR wird da auch nicht mehr dran verändert, es sei denn, der Moderator macht sich da eigenmächtig dran zu schaffen...

Es tat mir natürlich weh, mein "Baby" zu zerreißen, aber was tut man nicht alles, um beispielsweise Steuerberater zufrieden zu stellen :p !

So, und damit ist eigentlich alles gesagt, bis auf eine Sache:

Bitte NICHT erst ´n Drittel oder die Hälfte lesen, und schon ´ne Kritik abliefern, mache ich schließlich auch nicht!

Und nun habt viel Vergnügen mit "Chandra", sic!

Poncher

 

Eine intelligente, eindrucksvolle Geschichte mit vielen überraschenden Wendungen.

Sprachlich ist es verbesserungswürdig.

 

hi all!

also ich muss sagen, ich hab diese geschichte gerne gelesen, und sogar auch einmal! und am bildschirm...

@andré: was wuerdest du am sprachstil aendern???

dany

 

dani
Es handelt sich lediglich um Kleinigkeiten, die man sehr schnell überlesen kann, wenn man nicht darauf achtet.

Mach dir mal den Spass und lies, wie oft Chandra in der Geschichte oder in den einzelnen Absätzen vorkommt.
Ich habe sie alle gezählt, es waren eindeutig zu viel.

Ansonsten finde ich die Geschichte schlichtweg genial

 

@andré: hmm, schon, klar, aber ich seh da jetzt nicht gerade was negatives drin... wenn er staendig "sie" schreiben wuerde, waers doch genauso, oder??? (vielleicht haette ich im deutschunterricht besser aufpassen sollen? *g*)

dany

 

Der Steuerberater hat es endlich mal geschafft den Text herunterzuladen und auszudrucken. Vielleicht kommt er ja am kommenden Wochenende dazu ihn auch zu lesen. - Jetzt braucht er ja wohl kein Lineal mehr. :D

ad astra

 

So, es ist vollbracht. Ich habe die Story gelesen. Nun zur Kritik.

1) Das Layout ist noch immer miserabel, auch wenn nun einige Absätze drin sind. Schau Dir mal ein x-beliebiges Buch an, beispielsweise den Räuber Hotzenplotz (komme gerade darauf, da ich ihn gestern abend meinem jüngsten vorgelesen habe). Dort wirst Du nach jeder wörtlichen Rede einen Absatz finden. Nach dem Absatz ist der Anfang der kommenden Zeile etwas eingerückt. Dies erleichtert das Lesen ungemein.
Du hast beim Überarbeiten einfach doppelte Absätze nach etwas Text eingefügt. Dies würde ich beim Wechsel von Szenen oder ähnlichem bevorzugen.

2) Die Story selbst. - Nun ja, der Anfang war gut. Weiter hinten bin ich dann nicht mehr so ganz mitgekommen. Irgendwann machte das Ganze auf mich fast den Eindruck einer Verwicklungsgeschichte á la Dallas. Will meinen, ich mag es nicht, wenn Protagonisten das Zünglein an der Waage darstellen, ihre Eltern die fiesen Bösewichte sind (oder doch nicht die Eltern?/Daraus einen Höhepunkt zu kreieren gefällt mir nicht) und quasi alle Welt sich gegen einen verschworen hat.

Mir liegen mehr die Stories in denen die Protagonisten Spielball der anderen sind. Normale Menschen (durchaus möglich mit übersinnlichen Fähigkeiten, aber nicht alle möglichen Unabwägbarkeiten in einer Person zusammentreffen lassen, wenn Du verstehst was ich meine) werden durch Zufall zum auslösenden Moment.

3) Du hast Dir sehr viel Mühe mit Deiner Story gegeben - für meine Begriffe ist sie aber einfach zu lang. Irgendwann hatte ich den Eindruck, es wiederholt sich zu viel. Weniger wäre wahrscheinlich mehr gewesen.

Bitte nimm die obige Kritik nicht persönlich, es handelt sich lediglich um meine höchst persönliche und wahrscheinlich unmaßgebliche Meinung. Solltest Du daran Interesse haben, so bin ich gerne bereit noch einmal ausführlich mit Dir darüber zu reden, da ich glaube, daß Du durchaus Talent zum erzählen hast.

ad astra

 

Huhu !!!

Also, ich les' die Geschichte grade !!

Vorab:

Sie ist auf jeden Fall mal sehr spannend. Allein die Tatsache, dass ich die Geschichte (trotz ihrer Länge) lese, zeigt das sie so schlecht nicht sein kann !!

"Chandra" ist übrigens ein cooler Name. Gibts den wirklich ?? Wie "Sandra" nur... ähm... anders. :D :D

Weiterlesende Grüsse,


Batch

 

Die Plotidee ist fantastisch. In der Geschichte steckt das Zeug zu einem verdammt guten Roman. Aber ich muß Dir auch vorhalten, daß die Ausführung teilweise zu wünschen übrig läßt. Du hast viel vom Potential der Geschichte verschenkt.
Ich sag Dir jetzt ganz ernsthaft: Chandra verdient es, daß Du endlich mehr draus machst. Also beweg Deinen faulen Hintern!

Jetzt komm ich zu den Sachen, die mich stören. Sicher hab ich das eine oder andere wieder falsch verstanden, (das tu ich ja so gern) aber ich zähl trotzdem mal alles auf, was mich gestört hat:

Der erste Teil ist noch recht sorgfältig gemacht, aber je weiter man kommt, desto mehr häufen sich Rechtschreibfehler, Wortwiederholungen, Logikfehler usw.
Daß die Geschichte durch das katastrophale Layout sehr anstrengend zu lesen ist, muß ich Dir nicht sagen.

Was Alpha schon an "Tikowa" bemängelt hat, nämlich die völlig überflüssige Verwendung von "welche/r/s", ist mir auch hier oft unangenehm aufgefallen.
Oft setzt Du mehrere kurze Sätze hintereinander, was dann abgehackt und hölzern klingt. Es würde der Geschichte guttun, wenn Du solche Satzketten zu längeren, eleganteren Sätzen zusammenfügen würdest.

Du verwechselst öfter Radon und Zardos, auch Chandra mit jemand anderes. Das ist ganz schön verwirrend und Du hättest das schon lang verbessern sollen.

Das Vorwort: "...du würdest dir wünschen, du wärst tot. In gewisser Hinsicht bist du das bereits." - Das hört sich schon stark an, macht aber nicht wirklich Sinn, auch wenn Du es später im Text nochmal aufgreifst.

Nun zu den logischen Ungereimtheiten:
Namen und Opferzahlen werden von den Nachrichtensprechern verlesen. - Jeden Tag sterben Hunderte von Menschen, die Leichen türmen sich auf den Straßen und in den Krankenhäusern. Gibt es wirklich eine Instanz, die die Indentität der Toten überprüft? Schon daß sie gezählt werden, klingt nicht realistisch, so wie da mit den Leichen umgegangen wird.

Wieso ist Chandra die einzige, die von dem Sprung auf der Straße (nachdem sie vom Schwarzmarkt kommt) betroffen ist?

Merkwürdig finde ich auch, daß die Videokameras in 50 Jahren noch mit Tapes laufen sollen, vor allem da sich an anderen Beispielen zeigt, daß die Technologie sehr viel ausgereifter sein soll, als unsere heutige.

Was für einen Sinn macht es, Chandra in Biologie, Mathematik usw. zu unterrichten? Das hat rein gar nichts mit der ihr zugedachten Aufgabe zu tun, frißt nur unnötig - für Zardos wertvolle - Zeit. Wenn sie die andere Kuppel zerstört hat, soll sie doch sowieso sterben, wozu also die ganze Mühe?

Radon hat seine Tochter vergessen? Tut mir leid, aber das finde ich merkwürdig. Ich weiß, Menschen haben die Fähigkeit, schreckliche Erlebnisse zu verdrängen, aber welchen Grund sollte es für Radon geben, die Existenz seiner Tochter aus seinem Gedächtnis zu streichen? Noch dazu, wo sie so eine Gefahr für ihn darstellt.
Radon hat Chandras DNS während der Schwangerschaft verändert. Okay. Doch hat er absichtlich eine Killerin aus ihr gemacht? Falls ja, solltest Du unbedingt auf seine Beweggründe eingehen. Aus welchem Grund, mit welchem Ziel?
Aber in diesem Fall wäre es ja noch unlogischer, sie zu vergessen. Deswegen bin ich davon ausgegangen, daß er versucht hat, seine Tochter gegen das Virus immun zu machen (was ihm ja auch gelungen ist) und ihre übernatürlichen Fähigkeiten sozusagen als "Nebenwirkung" entstanden sind. Allerdings: Wenn das so ist, wie kann er (und andere) dann überhaupt von diesen Fähigkeiten wissen? Als er Frau und Kind verlassen hat, war Chandra wenige Tage alt und Radon hatte sicherlich keine Möglichkeit, ihre "Talente" zu entdecken. Hier wäre es dringendst nötig, daß Du näher darauf eingehst, erklärst und ggf. die Handlung geringfügig änderst, da es sich ja hierbei um einen sehr wichtigen Teil der Geschichte handelt, von dem ein Großteil der weiteren Handlung abhängt.

Wichtig wäre es auch, Chandras Ausbildung durch Zardos zu beschreiben. Es ist für mich nicht wirklich nachvollziehbar, wie und warum sie sich in einen haßerfüllten Racheengel verwandelt. Immerhin ist sie acht Monate lang bei Zardos, du erzählst aber viel zu wenig von dieser Zeit. Beschreibe, wie und warum genau sich in ihr Haß und Wut auf ihren Vater aufbauen, WIE sie lernt, ihre Kräfte zu beherrschen.
Da fällt mir ein: Wenn Chandras Kräfte einzigartig sind, woher kann dann irgendwer genau wissen, wie diese aussehen, bevor sie sie selbst entdeckt hat? Und weiter: Wie könnte Zardos ihr diesbezüglich irgendetwas beibringen? - Entnervend unklar. Ändere oder erkläre das!

Dann die Sache mit dem Schutzanzug... Er ist also präpariert mit einer Art verkapselter Säure, die per Fern"zündung" freigesetzt wird und denjenigen tötet, der den Anzug trägt. Der Anzug gehörte Tarnabi, einem Mitglied der "Spezialeinheit", die in die Kuppel im Nebeltal eingedrungen ist, um Chandra zu töten. Aber welchen Grund sollte es für Radon gegeben haben, diese Einheit mit Hilfe solcher Anzüge zu töten? Das ist mir schleierhaft.
Du könntest doch einfach darauf verzichten, daß der Anzug Tarnabi gehörte. Oder sind sie etwa in der anderen Kuppel nicht imstande, solche Anzüge herzustellen? Außerdem ist mir nicht klar, warum Du diese Aktion, bei der versucht wurde, Chandra auszuschalten, nicht erzählst.

Haarsträubend fand ich den Einfall mit dem Stab, der die "genetischen Signale" verändert. Sorry, aber das wirkt auf mich lächerlich. Mal eben antippen und zack....
Du hast nirgends erwähnt, daß diese Signale überhaupt kontrolliert werden (können), von daher ist das sowieso überflüssig.

Auch eher absurd ist der Schreibtisch mit dem Hebel, der die Atombombe zündet, wenn er umgelegt wird. Das erinnert mich an Comics wie "Spion&Spion"... Laß dir doch da irgendwas weniger Naives einfallen.

In dieselbe Kategorie der naiven Phantasieauswüchse gehört die "Klonmaschine". Ein Brutschrank, in dem sich die Viren auf herkömmliche Weise vermehren, wäre hier das Mittel der Wahl.

Merkwürdig fand ich auch, daß es den beiden Mutanten gelingt, mal eben so in zwei Wochen ein Virus zu kreieren, das die Menschheit rettet, nachdem diese seit Jahrzehnten dahinsiecht und die Wissenschaftler in dieser Zeit offensichtlich nur gepennt haben. Sie könnten doch vielleicht zufällig eine neue Mutation entdecken, die möglicherweise die erhoffte Wirkung hat und versuchen, diese weiterzuentwickeln. Oder so ähnlich...

Und nicht zu vergessen die Kapsel, die einen zu Stein verwandelt... Ich sag jetzt mal nichts dazu, denn der Schluß ist trotzdem einmalig gut.

So, das wars erstmal. Wenn mir noch mehr einfällt, werd ichs nachtragen.

Sav

 

Hi,

also ich fand die Geschichte einmalig gut. Die Handlung überzeugt und wird gut voran getrieben. Du fesselst den Leser an den Bildschirm (ich habe 3 Stunden gebraucht um alles zu lesen und danach musste ich dringend eine Rauchen).

Die kleinen Logikfehler kann man sich schon selber zusammenreiben und das Layout finde ich gar nicht so schlimm.
Das einzige das wirklich verwirrt ist die Verwechselung der Namen. Oft musste ich einen Absatz 2 oder 3 Mal lesen bevor ich gemerkt habe wer da nun gemeint ist.

Trozdem sehr gut und fesselnd.

Gruß nightboat

 

Hallo Poncher!

Also das ist ja wirklich eine faszinierende Geschichte! :thumbsup: Irgendwann hat Mirko sie mir im Chat empfohlen, das ist schon eine Ewigkeit her, aber er hat Recht gehabt, als er meinte, die würde mir gefallen, obwohl sie Science Fiction ist.
Eigentlich gehört die ja verfilmt, auf Spielfilmlänge.

Eins will ich Dir natürlich nicht verschweigen: Das ist ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. ;) Wir lesen uns ja nicht, und da dachte ich mir, dieses kleine Geschichtchen ist für eine Ausnahme, um die Regel zu bestätigen, grad richtig. :D Warum ich sie schon so früh und nicht erst zum Geburtstag poste, hat zwei Gründe. Der eine ist, daß ich es nicht mehr so lange aushalte. Ich hab sie schon im Jänner gelesen und krieg schon bald Alpträume, daß mir irgendwer zuvor kommt und vor mir die Geschichte ausgräbt. :lol: Der zweite ist, daß ich Dir eigentlich eine Liste mit Anmerkungen schreiben möchte, aber erst einmal wissen will, ob Du sie überhaupt haben willst (dann mach ich sie bis zu Deinem Geburtstag fertig), bzw. ob Du vielleicht erst noch einmal selbst drüberschauen willst.

Zwei Dinge will ich kritisieren:

Chandra wird mir anfangs zu sehr als Mitarbeiterin im Kino vorgestellt, für das, was man später erfährt.

Den Schluß würde ich anders gestalten. Chandra wird so sympathisch dargestellt, warum versucht sie nicht am Schluß, die Welt besser zu machen? Sie scheint doch einen sehr starken Charakter zu haben, der nicht so schnell umzubringen ist, und meiner Meinung nach auch am Schluß noch in ihr sein müßte. – Oder es kommt die Wandlung nicht gut genug rüber.

Besonders hervorheben möchte ich aber die allgemein starke Charakterzeichnung. Obwohl ich bei Geschichten mit mehreren Charakteren oft Probleme habe, die auseinanderzuhalten, hatte ich hier eigentlich überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich habe wirklich einen Film gesehen. :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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