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Simons Windmühle
Im Herbst vor seinem sechsten Geburtstag kam Simon der Heimweg abhanden. Er hatte vor dem Haus gespielt, auf der Wiese, die im nächsten Frühling der Garten sein würde. Die Wiese war matschig, weil es viel geregnet hatte, aber für Simons Baustelle war das gerade richtig. Mit seinen Lastern, dem Kran und der Schaufel hatte er ein Loch gegraben, in dem sich Wasser sammelte, es stand schon so hoch, daß er darüber nachdachte, das Aufziehboot aus dem Badezimmer zu holen. Ärgerlich war nur, daß er mit den Stiefeln nicht ins Haus durfte. Jedesmal erst ausziehen, dann wieder anziehen, und immer verrutschten dabei die Socken und mußten die Hosenbeine neu sortiert werden, das letzte Mal vorhin, als er nur kurz auf dem Klo war, aber das Boot wollte er doch holen, wenn er schon einen Teich hatte.
Als er sich umdrehte, war das Haus nicht mehr da. Wo es stehen sollte, war eine Hecke, und ein Feldweg lief dort entlang, wo die Straße gewesen war.
Simon wußte, daß Häuser nicht einfach verschwinden können. Und daß man sich leicht verirren kann, wenn man nicht aufpaßt. Er dachte: Wie kann ich mich denn verlaufen haben? Ich bin doch gar nicht gelaufen! Das gibt es nicht.
Er packte seinen Eimer, lief zur Hecke und sah hindurch: Felder und Wiesen, die aussahen wie seine Wiese. Bäume und Büsche, aber keine Häuser. Alles weg! Nur seine Baustelle war noch da.
Das gibt es nicht!, dachte Simon wieder und fühlte, daß er gleich weinen würde. Er schrie: „Mama!“, wartete einen Augenblick und schrie noch „Hilfe! Hilfe!“, was man nur rufen darf, wenn man wirklich in Not und Gefahr ist. Dann weinte er, weil er ja sehen konnte, daß niemand da war. Nur der Weg war da und führte irgendwohin. Alle Wege führen irgendwohin, dachte Simon, ich laufe jetzt den Weg entlang, bis ich mich auskenne, das kann nicht weit weg sein.
Er zog die Nase hoch und ging los. Den Eimer nahm er mit und ließ ihn aus Gewohnheit schlenkern und vom Knie abprallen. Dabei sah er genau auf den Weg vor seinen Füßen, damit er den nicht auch noch verlor.
Als er schon eine gute Strecke gegangen war, sah er einen Frosch auf dem Weg liegen. Der Frosch lag auf dem Rücken und sah tot aus. Simon hob ihn auf und stellte fest, daß er nicht tot war.
Vielleicht ist er ohnmächtig, dachte Simon, hauchte den Frosch an und dachte: Der braucht Wasser.
Er riß ein Büschel Gras aus, stopfte es in den Eimer und legte den ohnmächtigen Frosch darauf. Beim Weitergehen ließ er den Eimer nicht mehr schlenkern.
Links von ihm und sehr weit weg war jetzt auf einem Hügel etwas zu erkennen, das Simon bisher nur auf Bildern gesehen hatte: Eine Windmühle.
Windmühlen gibt es in Holland, hatte seine Mutter erzählt, und er dachte: Bin ich in Holland? Wie weit weg ist denn Holland?
Die Windmühlenflügel drehten sich langsam. Da wohnt jemand, dachte Simon. Vielleicht ist das gar nicht so weit weg. Und mehr verlaufen kann ich mich auch nicht, weil die Windmühle so hoch oben steht, daß ich sie immer sehen kann.
Dann kamen ihm aber Zweifel, weil der Weg nicht zur Windmühle führte. Den Weg zu verlassen ist ganz schlecht, dachte er. Nachher ist bei der Mühle niemand, und dann finde ich den Weg nicht mehr wieder.
So betrachtete er die Windmühle nur vom Weg aus, weil sie so schön war und weil es seine erste Windmühle war. Er betrachtete sie beim Gehen, bis das nicht mehr ging, weil der Weg wieder an einer Hecke entlangführte, und diesmal war es eine Hecke, durch die man nicht sehen konnte.
Gerade, als Simon merkte, daß seine Füße wehtaten, hörte er eine Stimme. Da sang ein Mädchen, oder eigentlich war das kein Lied, eher ein Johlen, jedenfalls ganz nah, direkt hinter der Hecke.
Simon nahm den Eimer in beide Hände, hielt ihn vor sich und rannte, bis er zu einem Durchgang in der Hecke kam. Das war sogar ein richtig schöner Durchgang, mit einem Rosenbogen und einem Törchen, das offenstand und durch das er in einen Garten blickte, der genauso aussah, wie er sich den Garten auf der Wiese auch wünschte, mit Gartenhäuschen, Teich und Bäumen. Am Ast des größten Baumes hingen zwei Seile, auf dem Brett am unteren Ende saß ein kleines Mädchen und schaukelte. Jedesmal, wenn sie hochflog, schrie und jubelte sie.
Simon ging zu ihr hinüber und stellte sich so hin, daß sie ihn sehen konnte. Sie bremste die Schaukel ab, blieb aber darauf sitzen und sagte:
„Wer bist du denn?“
„Ich hab mich verlaufen“, sagte Simon.
„Ich wohn da drüben“, sagte das Mädchen und zeigte auf die gegenüberliegende Seite der Hecke. Dort war ein zweiter Durchgang, und dahinter lag Simons Haus.
„Da ist ja unser Haus!“, rief Simon. „Da wohn ich! Nur der Garten – “
„Da wohnst du gar nicht!“, sagte das Mädchen. „Du spinnst ja! Was hast du da in dem Eimer?“
„Ohnmächtigen Frosch.“
Das Mädchen sah in den Eimer und verzog das Gesicht.
„Der ist doch tot! Gib mal her!“
„Nein, der lebt noch. Der braucht Wasser.“
Simon nahm den Frosch vorsichtig von seinem Grasbett und gab ihn ihr. Sie schloß die Finger darum, viel zu fest, holte aus und schleuderte den Frosch in die Hecke. Dann stieß sie sich ab und begann wieder zu schaukeln.
„Du blöde Kuh!“, schrie Simon, packte die Beine des Mädchens und riß daran. Sie verlor den Halt, stürzte und landete auf Simon. Das schwere Brett flog hoch in die Luft, kam zurück und knallte gegen ihren Kopf. Sie fiel mit dem Gesicht in eine Pfütze und blieb liegen.
Simon rappelte sich hoch und betrachtete sie. Schlamm bedeckte ihren Hinterkopf und verklebte die Haare. Blasen stiegen aus dem Mund. Sie spielt baden, dachte er. Erst bringt sie meinen Frosch um, und dann springt sie selber in die Pfütze. Alles ist völlig verkehrt, dachte er. So verkehrt, das gibt es gar nicht.
Er sah sein eigenes Gesicht im dunklen Wasser und wischte sich Schmutz von der Wange. Wind kämmte Laub aus den Zweigen und Blätter tanzten zu Boden. Der Mund des Mädchens bewegte sich. Ihre Lider flatterten. Die Schaukel pendelte langsam über ihrem Kopf.
„Ich geh jetzt heim“, sagte Simon.
Er wartete kurz, dann ging er los. Nach ein paar Metern kehrte er um, bückte sich nach einem Plastikauto und drehte an den Rädern. Dann stapfte er davon, seine Stiefel schmatzten auf der feuchten Erde.
Beim Essen fragte er seine Mutter nach dem Garten. Sie hörte kaum zu und sagte nur:
„Wir haben doch noch gar keinen Garten!“
Bevor er zu Bett ging, malte er seiner Mutter ein Bild von der Windmühle. Sie warf einen Blick darauf und lächelte. Aus der Blechdose auf dem Küchenregal nahm sie eine Mark und gab sie ihm, dann legte sie das Bild zu den anderen in die Schublade.