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Wendepunkt
Sie konnte nicht einschlafen. Es war mitten in der Nacht und sie lag im Bett, wälzte sich von einer Seite auf die andere. Das war ungewöhnlich. In der Regel schlief sie gut. Ja, manchmal fragte sie sich sogar, ob alles in Ordnung war. Kaum hatte sie sich hingelegt, wurde sie auch schon schläfrig. Dicke Bücher las sie im Bett nicht mal mehr, weil sie oft nach fünf oder zehn Minuten vor Müdigkeit die Augen schloss und für gewöhnlich nicht mehr als drei, vier, höchstens zehn Seiten lesen konnte, bevor sie richtig einschlief. Am nächsten Abend musste sie die Seiten dann noch einmal lesen, da sie sich nicht mehr erinnerte, was sie am Abend zuvor gelesen hatte. Kurze Geschichten, das ging gerade noch.
Heute Nacht war es jedoch anders. Sie hatte viel gelesen und sich dann gesagt, dass nun endlich Schluss sei, hatte das Licht ausgemacht und versucht, zu schlafen. Schließlich musste sie morgen früh wieder zur Arbeit und durfte nicht übermüdet dort auftauchen. Gerade morgen nicht, stand doch ein wichtiger Kundentermin bevor. Aber der Schlaf wollte nicht kommen.
Mittlerweile war es mit Sicherheit schon nach drei Uhr morgens. Sie öffnete die Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte die Konturen des Schreibtischs und des Schranks klar ausmachen. In der Stadt war es anders als auf dem Land. Hier herrschte nie richtige Dunkelheit. Auf dem Land war die Nacht pechschwarz, die Hand nicht vor den Augen zu erkennen. Und die Stille auf dem Land! Etwas dergleichen gab es in der Stadt nicht.
Sie schloss die Augen. Das Summen der Stadt drang durch die geöffneten Fenster in ihre Ohren. Hatte sie das vorher überhaupt schon einmal so wahrgenommen? Dieses Rauschen von unidentifizierbaren Maschinen, der monotone, mechanische Grundton einer Stadt, die zwar schläft, aber doch lebendig ist; das Herz schlägt, das Gehirn erspinnt wirre Abenteuer und Geschichten, die Eingeweide verrichten ihre Arbeit. Die Stadt schien ihr auf einmal als ein organisches Ganzes zu funktionieren. Dies war das Geräusch des schlafenden Molochs. Sie musste unwillkürlich an ”Metropolis" von Fritz Lang denken. An die Scharen von Arbeitern, die im Untergrund dafür sorgten, dass an der Oberfläche alles so ablaufen konnte, wie es ablaufen sollte. Irgendwo tief im Innern der Stadt gab es das Herz und die Lunge, die rund um die Uhr arbeiteten. Und nur in den Stunden der tiefen Nacht konnte man sie hören. Für gewöhnlich war das alles ein Hintergrundgeräusch, dessen man sich nicht bewusst war. Tagsüber ist der Lärm der kleinen aktiven Zellen um ein Vieles größer und deckt dieses Zeichen des vegetativen Lebendigseins zu.
Ihre Gedanken hüpften von einem Thema zum anderen. Sie dachte an Thomas und das Ende ihrer Beziehung vor drei Monaten. Fünf Jahre waren sie zusammen gewesen. Im Grunde genommen hätte sie schon viel früher Schluss machen sollen. Die letzten zwei Jahre hatten sich dahingeschleppt wie ein müder alter Körper, der nicht mehr in der Lage war, das Gewicht ihrer Beziehung zu tragen. So hatten sie mit der Zeit immer mehr über Bord geworfen, Erwartungen, Wünsche, Pläne - bis sie dann merkte, dass es gar keine Beziehung mehr gab, nur noch ein Gerippe aus Routinen und immergleichen Worthülsen.
Mit ihrer Arbeit ging es ihr seit einiger Zeit ebenso. Oder waren das Anzeichen einer Depression? Wie schön die Zeit mit Thomas in den ersten beiden Jahren war. Ihre Urlaube, die Wanderungen auf La Palma und in Portugal. Die Natur, einfach nur Wälder, Berge und Flüsse, keine anderen Menschen, nur sie zwei und die Stille. Wie sehr vermisste sie das!
Hatte sie für morgen alles vorbereitet? Der Termin stand schon seit Wochen fest und alle nötigen Unterlagen waren vorhanden - warum musste sie also daran denken? Aufhören zu denken, einschlafen, abschalten. Was war nur los mit ihr? Woher kam diese Unruhe? War alles in Ordnung mit ihr? Körperlich schon - war es also doch eine Depression? Oder die Anzeichen eines Burnouts? Ihr Job verlangte ihr doch nicht viel ab, das konnte es nicht sein.
Nein, sie spürte eine tiefe Unzufriedenheit, eine Unzufriedenheit mit ihrem jetzigen Zustand, mit ihrem Leben im Allgemeinen. Irgendwie befand sie sich in einer Tretmühle, bewegte sich auf ausgetretenen Pfaden, die sich mit jedem Tag tiefer eingruben und denen somit immer schwerer zu entkommen war. Sie spürte, dass sie mit dem Ende ihrer Beziehung nur einen Schritt aus diesem eingefahrenen Weg gemacht hatte. Danach war sie sehr schnell wieder in den alten Trott verfallen, hatte ihre gewohnten Bahnen durchlaufen. Die Gewohnheit hat etwas Beruhigendes, sie ermöglicht es uns, abzuschalten, uns keine Gedanken darüber zu machen, ob das, was wir tun, sinnvoll ist, ob es das ist, was wir wirklich tun wollen.
Warum kann man nicht immer so etwas Außerordentliches erleben wie im Urlaub? Das ganze Jahr über arbeiten und auf zwei, drei Wochen warten, in denen man Außerordentliches erlebt - sollte es nicht eher andersherum sein? Wie kann man überhaupt den Wert eines schönen, sonnigen Tages am Meer oder in der klaren Luft der Berge bemessen? Wie viel Geld müsste man ihr wirklich geben, damit sie einen solchen Tag stattdessen im Büro verbringt, in Kundengesprächen und beim Erstellen von Präsentationen? Dieser Tag ist verloren, es gibt keinen Ersatz für diese Lebenszeit, sie ist unwiederbringlich abgelaufen und man kann sie nicht zurückkaufen.
Auf einmal verspürte sie die unbändige Lust, aus dem Bett zu springen und in die Nacht hinauszugehen, den schlafenden Körper der Stadt zu durchlaufen und die brummende Stille tief in sich aufzunehmen. Aber was ist mit der Arbeit morgen? Ein Teil ihres Bewusstseins kleidete sich in das Gewand der Vernunft. So eine Kinderei, Du bist erwachsen, nicht einmal mehr die Jüngste, und führst Dich auf wie eine Jugendliche, verantwortungslos, denk doch an Deine Zukunft. Was wird denn aus Dir, wenn Du das alles fallen lässt? Alles, was Du Dir über die Jahre aufgebaut hast, so einfach mir nichts dir nichts zerstörst? Noch einmal von vorne anfangen? Das ist doch lächerlich! Alles, was Du in den letzten 20 Jahren gemacht hast, wäre umsonst.
Ja, es wäre vernünftig, abzuschalten, einzuschlafen und morgen dann wenigstens einigermaßen fit ins Büro zu gehen. Es fühlte sich nur nicht so an. Ganz im Gegenteil, sie wurde sich immer klarer darüber, dass sie ihren Job hasste, dass alles, was ihr einmal an ihm gefallen hatte, nicht mehr vorhanden war. Der Gedanke daran, auch nur für einen weiteren Tag dieselben Gesichter zu sehen, dieselben öden Tätigkeiten auszuüben, erfüllte sie mit tiefem Abscheu. Nein, sie konnte es nicht mehr. Die so genannte Stimme der Vernunft in ihr war ein Konglomerat aus sozialen Erwartungen und Vorstellungen, das sie seit frühester Kindheit in sich aufgenommen hatte, dessen alleiniger Zweck es war, die bestehende Ordnung der Dinge aufrecht zu erhalten. Ihre Vernunft sagte ihr ganz klar und deutlich, dass sie sich mit jedem weiteren Tag auf dem Job von sich selbst entfernte, sich eines Tages auflösen würde, eine leere Hülle, die ein gelungenes Leben führt. Ein gelungenes Leben! Wer bestimmt denn, was ein gelungenes Leben ist? Wer hat überhaupt das Recht, sich zum Richter über das Leben eines anderen zu machen? Können wir nicht selbst bestimmen, was ein gelungenes Leben für uns bedeutet? Wer sagt, dass es nur eine Ordnung der Dinge gibt?
Sie warf die Decke von sich, streifte ihr Nachthemd ab, in der kühlen Luft stellten sich ihre Haare auf, ihre Brustwarzen zogen sich zusammen und wurden hart, ihr Herz schlug kräftig und schnell. Aus dem Schrank griff sie sich eine Hose, ein T-Shirt und einen Pullover. Sie ging in den Flur, zog sich die Schuhe an und streifte ihre Jacke über. Dann öffnete sie die Tür. Wenn Du jetzt hinausgehst, dann endet Dein altes Leben, dachte sie. Während dieser Gedanke sie vor einer Stunde noch mit abgrundtiefer Angst erfüllt hätte, durchströmte sie jetzt ein Gefühl unsäglicher Erleichterung und unbegrenzter Freiheit, als wäre ein schweres Gewicht von ihren Schultern genommen. So muss sich jemand fühlen, der von einer hohen Klippe ins Meer springt, ein Bungee-Jumper, der sich von der Brücke schwingt, zurückgeworfen auf sich selbst, ganz im Einklang mit seiner Angst und seiner unbändigen Freude, am Leben zu sein. Mit dem Gefühl, dass alles möglich sei, schritt sie durch die Tür hinaus in die tiefe Nacht.