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Der Fremde
Bahnhofshalle. Tausende von Menschen. Blicke treffen sich, gehen aneinander vorbei, saugen sich fest. Menschen umarmen sich, zur Begrüßung, zum Abschied. Aus Trauer, aus Freude. Immer wieder neue, immer wieder andere Menschen erzeugen immer wieder die gleiche Stimmung, das gleiche Bild.
Ein junges Paar: Sie mit Freude in den Augen, Neues zu sehen, er mit Trauer, sie zu verlieren – und sei es nur für den Moment. Verlust auf Zeit. Anrollen des Zuges, winkende Arme, laufende Zurückbleibende. Schnellerwerden des Zuges läßt diese zurückfallen; größer werdende Trennung zwischen Jetzt und Dort.
Sie rollt entspannt durch die Lande, Zeit zum Träumen, Lesen, Nachdenken. Endlich genug Zeit nur für sie. Zeit für Gedanken und gedankliche Taten, für Müßiggang und positiv egoistisches Alleinsein.
Sie blickt auf, sieht in fremde und doch vertraute Augen; warm und braun sind sie und lächeln. Automatismus: Zurücklächeln. Schnell wegsehen. Angst vor Kontakt. Wunsch nach Kontakt. Verwirrung.
Warme Stimme, dunkles Vibrieren mit Widerhall in ihrem Kopf, ihrem Unterleib, ihrer Seele. Sie antwortet, die Stimme versagt, sie räuspert sich. Sein Blick senkt sich in ihren, sie erwidert ihn. Reißt sich los, als er ihre Seele zu lesen scheint. Sie will fliehen und bleiben, wegsehen und hinsehen, sprechen und schweigen, hören und taub sein zugleich.
Der Wagen hält. Ruhig legt er seine Hand auf die ihre, steht auf, sieht ihr ein letztes Mal tief in die Augen, nimmt ihr Herz und ihre Seele mit sich und geht.
Am Zielort angekommen, sucht sie das Haus auf, öffnet alle Fenster, läßt sich aufs Bett fallen. Tief durchatmen, klare würzige Luft atmen, zur Ruhe kommen. Was war das? Nicht denken, nicht fragen. Sie muß die Begegnung, muß diesen Mann vergessen. 'Denk' an den, der Zuhause auf Dich wartet!' befiehlt sie sich, aber ihr Kopf und ihr Herz gehorchen nicht.
Am nächsten Tag wandert ihr Geist gleich ihrem Körper ruhelos umher, und während der eine auf kleinen Pfaden an klaren Gebirgsbächen und Felsmassiven vorbeigeht, reist der andere zwischen dem Ausgangspunkt ihrer Reise und der Begegnung im Zug hin und her, quer durch die frische Vergangenheit, und kommt zu keinem Ergebnis.
Wer ist er? Was empfindet sie noch für den Zurückgelassenen? Warum überhaupt denkt sie noch immer an jenen anderen, den sie nie wiedersehen wird und der sich maximal einen Spaß mit ihr gemacht hat?
Abends geht sie zum See runter, zieht sich aus, setzt einen Fuß ins Wasser und will mehr. Sie rennt los, Wasser spritzt um sie her, mit einem freudigen Aufschrei wirft sie sich in die Wellen, taucht ab.
Kälte schlägt über ihr zusammen, prickelt an ihrem Körper entlang. Sie schwimmt unter Wasser, kämpft gegen den Drang, zu atmen, noch ein Zug, noch einer, sie ringt einen nach dem anderen ihrer Lunge ab, bis sie schließlich auftauchen muß; in letzter Sekunde durchstößt ihr Kopf die Wasseroberfläche, sie ringt nach Atem, beruhigt sich, läßt sich treiben und fühlt sich glücklich und frei. Mit kräftigen Zügen schwimmt sie durch den See, vergißt Raum und Zeit, verausgabt sich völlig und sinkt schließlich erschöpft, aber restlos glücklich ans Ufer.
Warme Luft streicht über ihre Haut, am Himmel ziehen Schäfchenwolken vorbei, sie folgt mit ihren Augen, hat die Begegnung im Zug so gut wie vergessen. Träge fließen ihre Gedanken, kreisen um nichts Bestimmtes, halten sich nirgendwo auf.
Später sitzt sie auf dem Balkon, ißt eine Kleinigkeit, liest in ihrem Buch und befindet sich plötzlich gedanklich wieder im Zug.
Wer ist er? Ständiges Umkreisen dieser Frage durch ihre Gedanken. Warum geht er mir nicht aus dem Kopf? Doch je mehr sie sich wehrt, desto näher ist sie ihm.
Er sitzt neben ihr, hält ihre Hand, lächelt schweigend, wissend. Kennt ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Geheimnisse. Alles. Auch das Verborgenste. Nichts entgeht diesem Blick, der Seelen liest wie eine Tageszeitung, die irgendwer in der U-Bahn vergaß. Scheu sieht sie ihn an. Er steht auf, sie folgt ihm zögernd. Ihr Herz ist ihm schon voraus, doch ihre Vernunft hält sie zurück. "Du kennst ihn nicht", Warnung ihrer inneren Stimme, doch sie lacht diese aus. Will sie nicht hören, nie wieder, will nur der anderen Stimme folgen, die ihr sagt, alles wird gut, wenn sie nur folgt. Und während die Sonne langsam hinter den Bergen verschwindet, sinkt sie in seine Arme.
Ihr Kopf fällt schwer auf die Tischplatte, läßt sie hochschrecken. Sie fröstelt. Zieht ihre Bluse fester um die Schultern, bemerkt, daß es spät geworden ist. Geht ins Haus, schließt die Fenster, macht sich einen heißen Kakao, legt sich in die Badewanne, später ins Bett. Kläglicher Versuch, endlich diesen Tag zu vergessen. Loslassen zu können, sich auf Neues zu konzentrieren. Irgendwann gelingt es. Sie schläft ein.
Ihr Freund steht vor ihr, lächelt sie an, küßt sie. Er ist da. Doch er ist nicht der, für den sie ihn hält, ist der, den sie vergessen will. Sie ist gefangen, will laufen und ist gefesselt. Will schreien und ist wie gelähmt. Er redet zärtlich auf sie ein, doch es klingt gleich einer Bedrohung. Mit letzter Anstrengung all ihrer Willenskraft zerreißt sie ihre Fesseln, schreit auf – und sitzt schweißgebadet, pochenden Herzens in ihrem Bett.
Erster Gedanke am nächsten Morgen: Was habe ich getan, daß ich so von ihm gefangen bin, er sogar in meine Träume eindringt? Sie kann es nicht herausfinden, will ihn vergessen, vergessen, vergessen. Sündhaft langes Duschen zu diesem Zweck: er ist bei ihr. Folgt ihr zum Bäcker, bei dem sie frische Brötchen holt, folgt ihr später ins Dorf, als sie einen Spaziergang macht. Sie hält es nicht mehr aus, geht zum Telefon, ruft den Zurückgelassenen an, ist erleichtert ob seiner Stimme. Für seine Ohren klingt sie ungewohnt zärtlich, anhänglich. Erleichtert, ihn zu hören. Er ist zurückhaltender, will herausbekommen, was geschah, sie so zärtlich werden ließ.
Aufatmen nach dem Gespräch. Befreiung von der Enge in ihrer Brust. Sie läuft einige Kilometer durch die Landschaft, klettert hoch hinauf, bestaunt die Aussicht, ist wie immer neu fasziniert, berauscht, ungläubig. Gefangen in einem Schein der Unwirklichkeit. Meint, fast müßten Elfen oder Feen hinter den Felsvorsprüngen hervorkommen, sie mit in ihr Reich nehmen. Nichts dergleichen, nur ein einsamer Alter, ihr entgegenkommend, auf die fast schon schmerzlich vertraute Art grüßend und in ihr den Wunsch aufkeimen lassend, nie fortgegangen zu sein. Aber es gab keine Möglichkeit, keine Chance auf Ewigkeit, unausweichlich war ihr Schicksal. Nun steht sie hier als Fremde unter Fremden, als Besucherin auf Zeit. Was einst ihre Heimat war, ist fremd geworden, doch auch die Fremde konnte ihr nicht Heimat werden. Sie ist einsam, entwurzelt, ruhelos. Kann keinen Ort auf Dauer ertragen, muß reisen, immer Neues entdecken, um doch endlich an den Ort, der am ehesten "Heimat" zu nennen ist, zurückzukehren.
Als sie den Gipfel erklommen hat, breitet eine innere Ruhe sich in ihr aus. Verspricht Befriedigung. Dies ein Teil ihres Lebens, ein Teil, der nur ihr gehört. Nicht ihrem Freund, nicht mehr ihrer Familie, niemals dem Mann im Zug.
Plötzliche Angst schnürt ihre Kehle zu. Er scheint magische Kräfte zu haben, scheint eine Macht über sie zu besitzen, die es ihm erlaubt, ihre Gedanken immer wieder auf sich zu lenken. Sie bemerkt, daß ihr Tränen über das Gesicht laufen und Haß an ihrem Herzen nagt. Wenn sie ihn jemals wiedersieht, wird sie ihn töten. Wie eine Voodoo-Puppe. Wie du mir, so ich dir. Während sie den Berg hinabsteigt, versucht sie, sich auf etwas anderes zu konzentrieren und für den Augenblick gelingt es.
Unten angekommen sucht sie ihr Bett auf. Hineinwerfen, das Denken abschalten. Doch Bilder sind unabwendbar. Vor ihrem inneren Auge ER, immer wieder, unausweichlich. Sie haßt ihn. Läuft zum Telefon, weckt ihren Freund. Bittet ihn ohne Angabe von Gründen, zu kommen. Er verspricht es, klingt erleichtert und beunruhigt. Beides gleichermaßen. Sie geht zurück, legt sich ins Bett, schläft ein. Diese Nacht bleibt traumlos.
Am Morgen das Gefühl, nicht allein zu sein.
"Schatz, bist du's?" in die Bettdecke gemurmelt.
"Ja, ich bin's." Wir tröstlich. Doch irgend etwas läßt sie mißtrauisch werden. Sie öffnet ein Auge, das andere, dreht sich um und schreit. ER sitzt dort, lächelnd, diabolisch. Sie glaubt an einen Traum, einen Alp und will fliehen, doch er hält sie fest, zieht sie zu sich hin und küßt sie mit sanfter Gewalt.
Als ihr Freund ankommt, findet er das Haus verwaist, doch er spürt, daß sie irgendwo auf ihn wartet. Wenn er nur das Mädchen aus dem Zug vergessen könnte...