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Weiße Weihnachten

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19.05.2015
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Weiße Weihnachten

Während der Nacht lief der Heizstrahler. Die Brüder schliefen an der gegenüberliegenden Wand auf Matratzen. Das Fenster hatten sie mit Styropor abgedichtet, um die Kälte abzuhalten, die von draußen reinkroch, Spinnen, Käfer und Raupen und was auch immer an Getier nach einem sicheren Unterschlupf suchte. Von den Bergen, von Mosambik her, war schlechtes Wetter nach Johannesburg herübergezogen, hatte sich in den letzten Tagen mit rauen Winden angekündigt. Sie schwitzten. Joseph nahm den Gestank ihrer Ausdünstungen erst wahr, als er zum Pinkeln nach draußen ging. Der Himmel, die Welt, die sonst vibrierte, war eine graue Masse, leer und still und die Kälte fuhr ihm durch die Glieder. Ohne Heizung wäre es nicht auszuhalten. Beim Einschlafen fiel ihm die Mama Jala ein und er fragte sich, wie viel Winter sie erlebt hatte. Sie hatte ihm erst gestern die Geschichte des Elefanten erzählt, den sie vor gar nicht langer Zeit gesehen hatte, einem Bullen mit Stoßzähnen bis zum Boden, einem Tusker, einer Legende, Reste eines fast ausgestorbenen Genpools, von dem es in ganz Afrika noch dreißig oder vierzig Tiere geben soll. So wenig! Er schaute auf die Uhr, drei Uhr in der Nacht. Um fünf mussten sie aufstehen. Der frühe Springbock bekommt das beste Wasser. Wie es wohl wäre mit einem Elefanten wie diesem zu wandern? Die Geister der Ahnen steckten in solchen Wesen. Das war klar, konnte gar nicht anders sein. Zwei Stunden noch. Joseph suchte nach dem Namen des Tuskers, als ob er diesen in den Tiefen seines Gedächtnisses vergraben hätte, als ob es möglich wäre, dass Erinnerungen von anderen auf ihn übergehen könnten, von jemandem, der genau diesen Elefanten gekannt hatte, noch bevor Joseph geboren war.

Der Weckton riss ihn aus dem Schlaf. Sein Bruder lag immer noch eingerollt auf der Matratze und drehte sich um, als das Signal verklungen war.
„Schnarchnase, aufstehen!“, rief Joseph und rüttelte an den Schultern Luckys.
„Viel zu früh und viel zu kalt.“
„Los jetzt! Wir müssen unser Zeug holen und uns zurechtmachen.“
„Wart mal, ich brauche noch einen Moment.“ Dann schloss er die Augen und rührte sich nicht.
„Hej, Lucky, du verpasst Eva, willst du das? Sie wird in etwa vierzig Minuten von ihrem Fahrer zum College gebracht, weißt du doch.“
„Na und?“
„Ich habe gesehen, wie sie dich angeschaut hat, ich hab’s gesehen, Bruder!“
„Komm schon, viel zu weiß für mich. Die ist so weiß wie Schnee. Hast du ihre Haut gesehen?“
„Sie hat die Scheibe runtergelassen und dir zugewunken, Lucky, und das hat sie jetzt schon zum dritten Mal gemacht. Und denk an die Scheine. Sie hat uns doppelt so viele gegeben wie die anderen. Egal wie weiß sie ist, sie mag dich.“
„Ich stelle mir vor, wie das ist, wenn man so weiße Haut hat, ob man da auf die Adern aufpassen muss, die direkt zum Herz führen, weil man sie durch die Haut hervorlugen sieht.“
„Zeit für ein Date, was?“
„Übertreib mal nicht, nur weil ich mit ihr texte.“
„Wirklich?“
„Ich habe ihr den Zettel mit meiner Nummer gestern zugesteckt. Abends hat sie mir dann geantwortet.“
„Zeig mal.“
„Nee, privat.“
„Du hast mit ihr geschrieben, mm?“
„Schon!“

Unterdessen war Lucky aufgestanden, zum Waschbecken gelaufen, hat es gefüllt und sich mit Waschlappen und Seife der entledigt. Zum Duschen war keine Zeit und dazu hätten sie in Bens Haus gehen müssen. Joseph war längst fertig, weißes T-Shirt, enge Jeans, Sneaker, Hoody drüber, auf dem ein Löwe mit aufgerissenem Maul zu sehen war. Lucky trug dieselbe Uniform. Sie schwiegen, tranken den heißen Tee, den Joseph aus den Resten des Krautes gebrüht hatte. Die Großmutter hatte es gemixt und ihnen mit der Bemerkung gegeben, es helfe gegen Hitze und Kälte gleichzeitig. Dann suchten sie die Ausrüstung zusammen, die sie für den Auftritt auf der Straße brauchten: vier leere Getränkekästen, Tücher, Politur, Glasreiniger, sowie die batteriebetriebene Mini-Anlage für die passende Musik. Lucky sprühte sich noch etwas Rasierwasser auf den Hals und die Handgelenke. Eva mochte es, wenn ein Junge gut riecht, hatte sie geschrieben. Und einen Smiley und Daumen-Hoch Emoji geschickt, als er ihr erklärte, was er im Leben vorhabe, dass er mit dem Job auf der Straße Geld sammle, um ans College zu gehen, dass ihm das Mandela-Hilfswerk eine Art Stipendium versprochen habe, wenn er so weit wäre, schließlich habe er die Schule als Drittbester abgeschlossen und das wäre schon was, auf dem man aufbauen könne. Die Kosten für die Uni würden übernommen, aber er müsse selbst für Verpflegung und Unterkunft aufkommen. Seinem Bruder hatte er davon nichts erzählt.

Sie zogen die Base-Caps über die Ohren. Ein paar Grad über Null. Wer war das schon in Johannesburg gewöhnt? Der Morgen brach bald an. Die Dämmerung nahte. Durch einen Fetzen klaren Himmels waren ein paar Sterne zu sehen, Betageuze links oben, unweit von Orion. Zumindest glaubte Joseph das. Eine Galaxie, unerreichbar für Menschen. Von Südafrika aus war die Antarktis viel näher als Europa. Man muss nur von Kapstadt oder Durban aus lossegeln oder ein Schiff finden, das einen mitnimmt. Dort gab es richtige Kälte, hier bestenfalls einen Vorgeschmack. Ein grauer Tag schälte sich aus der Nacht, keine Aussicht auf eine südliche Sonne. Selbst die früh einsetzende Geschäftigkeit der Stadt wirkte gedämpft, vielleicht waren die Menschen misstrauisch angesichts des ungewohnten Wetters, vielleicht hatte irgendein alter Zauberer Hühnerblut vergossen und herausgefunden, dass das Ende der Welt nahte, wenn der kalte Wind aus Mosambik erst über Johannesburg strich und eine Eiszeit mit Schnee und ewiger Kälte brachte.

Sie liefen zum Eingang des Township. Unterwegs trafen sie niemanden. Ohne Mauern geht es nicht in diesem Land, ohne Sicherheit erst recht nicht. Sie winkten der Wache zu, verließen den geschützten Bereich und gingen die Straße entlang zur Hauptverkehrsader, die von Sandton über die Provinz Gauteng weiter nach Pretoria führte und von dort aus in den Norden, zum Kruger Nationalpark. Der Wind drang durch die Kleider. Sie kamen an einigen Villen vorbei, die nach hinten versetzt, hinter Zäunen und NATO-Draht versteckt lagen, sodass man die Häuser und Pools nicht sehen konnte. An ihrer Kreuzung trafen sie auf Joe und seinen Vater. Der alte Mann saß im Rollstuhl und grinste sie aus einem zahnlosen Mund an.
„Ihr seid auch bei der Kälte unterwegs?“, fragte er.
„Ja, klar, konnten nicht schlafen und dachten, wir verdienen bisschen Geld.“
„Haben wir auch vor.“
„Wo wollt ihr euch hinstellen?“
„An die Ampel, die vom Zentrum kommt.“
„Wir auch!“
„Gut, wir stellen uns stadtauswärts hin.“
„Ist ja klar“, sagte der alte Mann.
„Da gibt’s mehr Tips.“
„Aber nur, wenn man was bietet.“
Der Alte im Rollstuhl saß so, dass sein Anblick besonders viel Wirkung erzielte. Eine Armeedecke auf den Knien, die Haare wirr und die Haut fettig und dazu der Jammerblick, bei dem man glaubte, jederzeit würden die Tränen kullern, damit auch diejenigen, denen es selbst nicht besonders gut ging, das Gefühl hatten, es gäbe welche, denen es wesentlich schlechter ging. Dafür muss man schon etwas liefern, Mitleid erregen, wenngleich die beiden wirklich vom Schicksal geschlagen waren, denn Joes Vater Ben arbeitete viele Jahre als Gärtner bei einer ANC-Familie, Zulus, natürlich Zulus, die sich eine schöne Afrikaans-Villa geschnappt hatten, weil die Vorbesitzer allzu eifrige Verfechter der Apartheid waren und Hals über Kopf flüchten mussten, als der Wind drehte und diejenigen, die Blut an den Händen hatten, nicht mehr bleiben konnten. Die meisten versteckten sich und horteten ihr über Generationen gerafftes Vermögen, waren sich keiner Schuld bewusst. Und tatsächlich war vielen auch nichts nachzuweisen. So war das in den Zeiten des Umbruchs. Lucky und Joseph hatten das selbst nicht erlebt, aber darauf kommt es gar nicht an. Erinnerungen besitzen ein Eigenleben. Sie hatten die Erzählungen der Väter und Großväter, der Mütter und Großmütter, der Tanten und Onkel, der Lehrerinnen und Lehrer, der Frauen und Männer auf dem Markt gehört. Die Geschichten wurden ihnen wieder und wieder erzählt, mit Namen versehen, mit Gesichtern verbunden. Je öfter man etwas hört, desto mehr wird es zur eigenen Erinnerung, ganz so, als ob man selbst erlebt, was man nur gehört hat. Was am Ende bedeutete, dass man sich aussuchen konnte, was man für Wahrheit hielt, dass die wenigen echten Fakten möglicherweise in der Wirkweise der Naturgesetze begründet liegen und sich in der Weisheit erschöpften, dass man besser nicht von einer Felsenklippe am Signal Hill ins Meer springen sollte, allein wegen der Haie. Was Ben erzählt, mag also wahr sein oder eine Lüge oder etwas dazwischen, weil Ben daran glaubt.

Dass es verdammt kalt geworden ist und Joseph sich fragte, wie das mit dem Schnee funktionierte, welche Temperatur erreicht werden musste, damit er fällt, das lag schon näher an der Realität. Wobei man sich auch darauf nicht komplett verlassen konnte, schließlich gab es Wunder und die waren wahrer als Realitäten. Zum Beispiel die Zaubersprüche seiner Großmutter, das Kraut, das sie zusammenbraute, um Liebeskummer zu bekämpfen, einen Fluch oder einen Segen zu erwirken. Und natürlich der Tusker irgendwo da draußen im Kruger, der das Wissen der Welt zwischen den Stoßzähnen festhielt und hütete, was Menschen nicht bewahren können. Ein leichter Regen setzte ein, aber die Tropfen fühlten sich schwer auf der Haut an. Anstatt dass es wärmer wurde, je weiter der Tag fortschritt, nahm die Kälte zu, schlüpfte unter die Kleidung, wie es die Brüder nie zuvor gespürt hatten. In diesen Breiten brauchte man keine Heizung, keine Funktionsjacken. Wozu auch? Sie hatten in Filmen gesehen, wie Menschen im Norden in watte- oder daunen- oder plastikgepolsterte Jacken gepresst wurden und aussahen, als wären sie Enten oder hätten riesige Wänste. Während die Sonne unerbittlich Geist und Körper folterte, wirkte Kälte subtiler, sorgte für zitternde Glieder und dafür, dass die Poren der Haut sich zusammenzogen. Die Wangen fühlten sich eiskalt an. Joseph und Lucky erreichten ihren Standort an der Kreuzung. Ein paar Fahrzeuge waren schon unterwegs. JoBurg, eGoli, war eine dieser Städte, in der nie geschlafen wurde. Ein endloses Brausen lag über den Straßen und Häusern, ein Brei aus Stimmen und Geräuschen. Schreie, Weinen, Glück und Furcht, Ekstase und Bedrohung.
Unterdessen blätterte die Farbe auf den Pillars in Newtown langsam ab: Respect, Diversity, Democracy, Freedom, Resposibilty, Reconcillation stand da, während überall in der Stadt, als Graffiti an den Wänden, als Statue, in den Herzen der Menschen, der Mann, der alles verändert hat, die Menschen anlächelte. After climbing a great hill, one only finds that there are many more hills to climb.

Lucky gab den Takt vor und sie begannen mit den Übungen vor der Show, Muskeln lockern und den Geist entspannen. Lucky dachte an Eva, daran, wie er es schaffen könnte, sie zu daten. Er würde sie fragen, gleich heute noch, das nahm er sich fest vor. Sie würden irgendwo Eis essen, in einer Mall flanieren wie all die anderen Paare. Und sie würden sich Blicke zuwerfen, lächeln, Händchen halten, was man eben machte und er würde gut auf sie aufpassen. Er war ein Zulu, ein Krieger, einer, den niemand besiegen würde, niemals. Er erwachte aus seinem Traum, als sein Bruder ihn anstieß und zum Himmel zeigte. Der Wind hatte nachgelassen, vom Himmel schwebten Schneeflocken. Was geschah hier und warum? Ein Zeichen des Klimawandels, von dem alle sprachen? Wäre nicht zu erwarten gewesen, dass die Hitze das Land ersticken würde? Wie merkwürdig es aussah, weiße Flocken auf die Straße fallen zu sehen, die sich nach und nach zu einem sichtbaren Belag schichteten, so winzig, aber millionenfach zu Kristallen geformt fielen sie unaufhörlich herab. Die Brüder schauten sich an. Sie zogen beinahe gleichzeitig an ihren Mützen, rückten sie fester auf ihrem Kopf zurecht.
„Was nun? Gehen wir auf die Straße wie immer?“
„Klar, wie immer!“
Was anderes käme auch nicht in Frage, bei Wind und Wetter, ohne Unterlass. Außerdem machte es Spaß. Wer etwas mit Leidenschaft macht, der schaut nicht auf die Uhr oder zum Himmel, der schwitzt und friert und lässt die Sonne brennen oder den Sturm toben und lächelt dabei, weil es darum geht, zu tanzen und die Menschen zu unterhalten. Also schritten sie voran, auf die Straße, gleich neben der Ampel, während der alte Mann im Rollstuhl zögerlich zu ihnen schaute und sich vom Gehweg nicht weg bewegte. Die Fahrzeuge fuhren langsamer. Jeder schien sich darüber zu wundern, was da passierte, eine Singularität, die es nicht geben durfte, etwas Verbotenes, vielleicht durch einen Zauber verursacht, wer wusste das schon.

Die Brüder legten los, stellten ihre Kisten auf, tanzten und ließen die Rhythmen gegen den Schnee kämpfen, während sie sich wilder bewegten, je mehr Flocken die Straße bedeckten. Sie waren Schneekönige, weiß gekrönte Fantasiegestalten, nur ihrer eigenen Welt verpflichtet. Sie befreiten die Scheiben der Autos von den Resten der fremden Macht, die sich aus fernen Gegenden eingeschlichen, verirrt hatte. Ein Dienstag im Juli in Johannesburg. Etwas wie Weihnachten.

Joseph hatte einen Einfall, stoppte mitten in der Vorstellung seinen Tanz und rüttelte an den Schultern seines Bruders. „Hej Mann, Bruder, lass uns etwas Spaß haben. Wir haben doch so eine Playlist, Last Christmas, Jingle Bells, du weißt schon. Gibt vielleicht sogar fett Trinkgeld.“

Sein Bruder sah ihn erst verwirrt an, begann dann aber breit zu grinsen. Sie klatschten sich ab, stellten die Lautstärke des Players auf maximal und legten los. Keiner von ihnen wusste, wie man als Weihnachtsmann tanzt, ob man die Hüften bewegen durfte oder nicht. Dennoch versuchten sie es und die Leute in ihren Fahrzeugen, auf schneeverwehter Straße, staunten. Der Verkehr kam zum Erliegen, Menschen stiegen aus, rückten die Kleidung zurecht und tanzten nach den Melodien der Weihnachtslieder.

Irgendwann tauchte auch der Wagen auf, in dem Eva saß. Sie umarmte Lucky zur Begrüßung und tanzte mit ihm. White Christmas in JoBurg.

Joseph glaubte in der Ferne den Schatten des Tuskers zu sehen, der sich langsam auf sie zubewegte, den Rüssel hoch erhoben und die mächtigen Ohren angelegt, während die Stoßzähne manchmal den Asphalt berührten.

 
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Hallo @Isegrims,

jetzt wurde ich schon neugierig, warum die Weihnachtsgeschichte wieder aufgetaucht ist.

Dabei bin ich auf folgendes gestoßen, was meine Botaniker, äh, Entomologen-Seele betrübt:

@Fliege

Fliege schrieb:
Spinnen, Käfer, Raupen sind doch Insekten! Komische Aufzählung. Wie Gemüse, Tomaten, Gurken und Paprika, und anderes Grünzeug - macht ja auch keinen Sinn. Streich die Insekten

Liebe Fliege, du als fliegendes Insekt solltest deine Feinde, die Spinnen, nicht zu deiner zoologischen Klasse zählen! Das würde im Fall des Falles eine Art von Klassen-Kannibalismus bedeuten.
So viel zu meiner Off-Topic- :klug:Aktion.

Guter Vorschlag, die Streichung.

LG,

Woltochinon

 

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