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Am Sog

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22.08.2007
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Am Sog

Wieder im Boot. Und wieder die dunklen Wolken. Dahinter die Halbinsel, die ich nicht sehe, von der ich nur weiss, weil ich schon dort war.

Die Wellen gehen hoch. Wir haben die Segel längst eingeholt. Die Ruder liegen bereit, obwohl an Rudern jetzt gar nicht zu denken ist. Wenn wir nur an dem Sog vorbei kommen, in dessen Mitte sich der Trichter in die Tiefe schraubt. Ein schwarzes Loch im kreisenden Wasserschacht. Was da unten ist, kennt nur, wer sich befreit hat und wieder hochkam. Vorstellen kann es sich keiner. Niemand will das auch.

Der Sog ist das Allerschlimmste, schreit jemand und:
Wenn wir am Sog vorbei kommen, ist alles gut.

Wir werden vorbei kommen. Wir sind immer vorbei gekommen. Trotzdem die Angst. Es könnte ja diesmal anders sein.

Jemand sagt: Das ist alles unwichtig. Wichtig sind die Wolken über dem Land. Wenn sie hell werden und sich auflösen, dann wirst du sehen.

Ich will sehen. Will in der Sonne gehen, durch das Ried. Über die warmen Steine, die ausgetretenen Stufen hinauf, im Chor der Zikaden, die vor meinen Schritten nicht verstummen. Zur Quelle will ich und der Rose zu Füssen der Göttin Wasser bringen. In diesem Boot, am Rande des Sogs, weiss ich immer, was ich will, auch jetzt.

Trotzdem die Angst im Sturm, das Kreischen der Möwen, ihre spitzen Schreie, immer lauter.

Ein Vorbeikommen wird diesmal nicht möglich sein. Wer zur Quelle will, um der Rose Wasser zu geben, muss sich befreit haben. Auch ich.

 

Hallo Gisanne

Da Friedel den Lesern es ans Herz legte, habe ich deinen kleinen Text meiner Vorstellungskraft nochmals unterbreitet, das Tiefgründige analysierend und sich zelebrieren lassend.

Mit Zwang musste ich mein verinnerlichtes Bild vom Walensee, mit seinen mythischen Tiefen, zur Seite schieben, die wuchtigen Berge darum vergessen, um das erzählte Geschehen unbefangen aufzunehmen. Ganz leicht fällt mir diese Abspaltung nicht, da es in einer Woche 160 Jahre her sind, dass bei einem heftigen Sturm der Dampfer Delphin dort mit 13 Menschen in den Untergrund gezogen wurde, … letzte Nacht mit Mann und Maus untergegangen, schrieb damals der dort ansässige Posthalter Beeler. Nur eine Mütze und ein Koffer trieben auf der Wasseroberfläche.

Es beginnt ahnungsvoll und mythisch, die dunklen Wolken, dahinter nicht erkennbar die Halbinsel. Der Sog, wie ein Synonym von Urangst schwer lastend auf den Menschen. Das Boot ist der Weg, auf dem alles klar wird, doch keine Abweichung wird gewährt. Nur wer die Tiefe mit ihrer drohenden Urgewalt überwindet, gelangt zur Quelle der Läuterung, nimmt die Rose zu Füssen der Göttin wahr und kann ihr Leben spenden.

Man kann es als Meditation lesen, als ein sich einlassen in die eigene Tiefe, doch vorab nicht wissend, geht man geläutert oder verbrannt daraus hervor. Aber auch als gesellschaftlicher Bezug weist es Gültigkeit, die Symbole des Sturms, des mitreissenden Sogs, der kreischenden Möwen, lassen verschiedene Deutungen zu, die der menschlichen Unzulänglichkeiten, der Desaster aber auch der eines hoffnungsvollen Neubeginns zugänglich sind. Konkret kann man, wie Friedel es tat, gar an reale Geschehnisse anknüpfen. Dies ist bei Anekdoten so, und natürlich bei Weisheiten, welche vom geschilderten Geschehen unabhängig eine allgemeine Gültigkeit besitzen.

An einen Traum dachte ich keinen Moment, aber ich denke, es braucht die Wahrnehmung einer entsprechenden Umgebung, um sich literarisch in solche Tiefen einzulassen.

Ich finde das Prädikat Lesenswert angemessen, da es sprachlich und inhaltlich anspruchsvoll sowie - in seinem wenigstens von mir wahrgenommenen mythologischen Bezug - herausfordernd ist.

Gruss

Anakreon

 

Salü Friedel,

danke für Deine Empfehlung! Ich denke, dass das Textchen nun wieder im Sog der Seiten untergehen kann :D

Auch Dir, Anakreon, herzlichen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, so ein Sog kann in allen Gegenden und Seinslagen vorkommen. Schön, wenn jeder sich eigene Gedanken macht. Dazu muss dann der Autor gar nichts mehr sagen :) Wenns stimmt, stimmts.

Entschuldigt, wenn ich mich erst jetzt melde: Ich bin am Guetzli backen. Das ist fast so schön wie schreiben :)

Liebe Grüsse,
Gisanne

 
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Entschuldigt, wenn ich mich erst jetzt melde: Ich bin am Guetzli backen. Das ist fast so schön wie schreiben
- und ist - wie ich vermute - um einiges leckrer als so mancher Text,

liebe Gisanne,

aber vor der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember ist die Delphin - an die Anakreon erinnerte - auch nicht untergegangen. Bin aber überzeugt, dass der Text auch dieses Datum überstehen wird!

Gruß

Friedel

Nachtrag;

Nun ja, vor 160 Jahren sank das erste Dampfschiff im Süßwasser: es war in der Sturmnacht vom 16. auf den 17. Dezember 1850, dass die „Delphin“ auf dem Walensee sank. Der Raddampfer war für 80 Personen ausgelegt, so dass es geradezu eine glückliche Fügung war, dass das Schiff zum Postschiff umgewidmet wurde und „nur“ dreizehn Personen an Bord waren. Wie später bei der Titanic findet sich hier schon der Aberglaube der Unsinkbarkeit.

 

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