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Berliner Abgründe
Er würgte. Tränen liefen über seine Wangen. Die Berührungen der anderen zwiebelten wie Peitschenschläge. Vergeblich versuchte er sich mit seinen Armen zu schützen, als unter dem Gekreisch des Warnsignals die U-Bahntüren zur Seite donnerten. Heerscharen an Berufspendlern drängelten, schubsten und stießen sich hinaus auf den Rehberger Bahnsteig. Und mitten unter ihnen: Mattias.
Alles strömte in Richtung Treppe. Mattias befreite sich aus der Menschenflut, wankte in eine Ecke und lehnte sich an die Wand. Galle brandete einem Tsunami gleich über seine Geschmacksknospen hinweg. Dann kotzte er sein Frühstück auf die Dreihundert Euro teuren Nikes. Seiner Lagerfeld-Jeans erging es kaum besser.
Zitternd stierte er auf die Lache aus Magensaft und türkischem Kaffee, in der Boulettenstückchen schwammen. Dieser Anblick und der Geschmack im Mund genügten, um ihm kalten Schweiß auf die Stirn und den Mageninhalt ein zweites Mal die Speiseröhre hinauf zu treiben. Speichelfäden zogen sich in die Länge und tropften schließlich zu Boden.
»K-k-alt-t«, schlotterte er und hängte ein befreiendes »F-fuck!« hinten ran. Nur, um sich einen Augenblick später den dröhnenden Schädel zu halten.
»Fuck, Fuck, Fuck!«, wiederholte er den Fluch, allerdings wesentlich leiser. Seine Trommelfelle standen kurz vor dem Zerreißen. Die Schritte der Menschen hallten und knirschten auf dem Steinboden und niemand beachtete Mattias. Normaler Weise war es an ihm, einfach vorüber zu gehen und den Penner in der Ecke zu übersehen.
›Aber ich bin kein verschissener Penner!‹ Selbstmitleid und Wut drückten auf seine Tränendrüse. ›Das sieht man doch, oder nicht? Die blonden Strähnchen doch sauteuer!‹
Nachdem der letzte Fahrgast die Stufen hinaufgepoltert war, kehrte einen Moment lang Ruhe auf dem Bahnsteig ein. Mattias stand vorsichtig auf und betrachtete die Schweinerei auf seinem Schoß.
›Das wird teuer!‹, überlegte er und zitterte weiter.
Eisiger Wind stach zehntausend Nadeln in sein Gesicht. Seine Arme brannten vor Kälte. Aber das war noch nicht das Schlimmste hier unten. Der Gestank schalen Biers, abgestandenen Urins und Tausender Zigarettenleichen echote von den Hallenwänden wie Kanonendonner. Der Kloakenmief verfeinert mit Rattenkot, Menschenschweiß, Öldünsten und Ozon ätzte fußballfeldgroße Löcher in seine Schleimhäute.
›Verflucht! Warum hab’ ich mir das scheiß Plugin ausgerechnet in der U-Bahn runtergeladen?‹
Er stöhnte und hoffte inständig, dass ihm bald seine Nase abfallen würde. Als dies nicht geschah, drückte er sie sich mit aller Kraft zu, was aber bis auf Schmerzen ebenfalls keinerlei Ergebnis brachte. Sein Cooperative Implant empfing, filterte und potenzierte alle Sinneseindrücke munter weiter und überflutete die Großhirnrinde mit Unmengen an Daten.
Faustschläge gegen den Nacken erhöhten nur seine Kopfschmerzen. Dem Computerchip konnten sie nichts anhaben, denn der lag sicher eingehüllt irgendwo hinter dem Kleinhirn.
Der nächste Zug toste aus der Dunkelheit des Tunnels heran und brachte Mattias an die Grenzen eines akustischen Komas. In Panik flüchtete er die Stufen hinauf und sprang über die stark befahrene Chaussee-Straße. Das Hupen der Autos fraß sich wie Säure in seine Ohren. Aber das war noch halbwegs zu ertragen, verglichen mit dem Gefühl, brennende Kohlestücke statt Augen im Kopf zu haben.
Er musste hier weg.
Irgendwo hin, wo es weniger grell – viel schattiger und stiller war. Und wo es keine nach Verwesung stinkende Luft gab.
›Der Mond!‹, schoss es Mattias durch den Kopf, und: ›Galgenhumor! Na, der hat mir jetzt noch gefehlt.‹
Auf dem Bürgersteig stolperte er in seiner Hast über die eigenen Beine, stieß gegen einen Passanten und riss ihn mit sich zu Boden. Wellenfronten aus Schmerz überzogen erst sein Knie, dann den gesamten Körper. Halb betäubt richtete er sich auf, während sein Opfer ihn mit ihrer Handtasche traktierte.
»Verflucht! Pass doch auf, verdammtes Arschlo- ... Mattias?« Durch seine Gehörgänge gellten phonetische Atombombenexplosionen.
»Anika? Bist du das?«, flüsterte er unsicher und blinzelte die Frau an.
»Hast du keine Augen im Kopf?«, fragte sie.
»Fühlt sich momentan nicht so an, eher wie brennende... Super! Die borg’ ich mir mal.« Mit einer schnellen Handbewegung hatte Mattias ihr die Sonnenbrille von der Nase gerissen und sich selbst aufgesetzt.
»Aah, viel besser.«
»Hey, die ist von Gucci!«, keifte Anika.
»Bezahl’ ich dir nachher.«
»Wie siehst du denn eigentlich aus? Warum rennst du hier... Oh nein! Schau dir meine Strumpfhose an! Voller Löcher! Und mein Kostüm! Ich habe-«
»Jetzt übertreib mal nicht! Und hör auf, so rumzuschimpfen«, zischte Mattias seine Bekannte an. Eilig half er ihr auf und zerrte sie in eine Seitengasse. Der Gestank war hier nahezu unerträglich, was schon mal eine Verbesserung darstellte. Im Hintergrund donnerte der urbane Häuserkampf zwischen Automobilkrach und Einwohnerlärm. Langsam bekam Mattias seine Situation unter Kontrolle. Er zauberte sogar ein nervöses Lächeln auf seine Lippen, doch heute schien Anika nicht darauf reinzufallen.
»Guck’ dich nur an!«, musterte sie ihn pikiert. »Was ist das da auf deiner Hose und den Schuhen? Hast du dir Suppe über den Schoß-«
»Äh, ...ja. Suppe. Aber sei bitte leiser. Bin heute morgen etwas empfindlich.«
»Und wie du aus dem Mund stinkst. Warst du gestern Abend saufen?«
Mattias antwortete nicht, sondern lief weiter die Gasse hinunter. Sie stöckelte ihm hinterher.
Am Gassenende lag ein kleiner Park mit einem Kaffeehäuschen. Beide setzten sich an einen abseits gelegenen Tisch. Lindenblüten schwängerten die Luft mit ihren Pollen und verliehen ihr eine sirupartige Konsistenz, die jeden weiteren Geruch mit einer Glasur aus Honig überzog.
›Daran werde ich schon nicht sterben‹, hoffte Mattias.
Das allgegenwärtige Kindergegröle, das gerade mit seinen Hörnerven Gummihopse spielte, war unter den Umständen wesentlich gefährlicher. Mattias versuchte es auf die psychologische Tour, aber wüste Drohungen und Beschimpfungen zeigten nur wenig Resonanz. Die Bälger hatten einfach die besseren Trümpfe im Ärmel da Sopranstimmen in der Kehle.
Erst nach einer umfangreichen Kleingeldspendenaktion auf ihre Hosentaschenkonten, konnte er sich halbwegs entspannt zurücklehnen. Anika schien ebenfalls erleichtert.
»Endlich Ruhe!«, war ihr lapidarer Kommentar. »Kinder sollten verboten werden.« Mattias versuchte, auf ihr Geschnatter nicht zu achten. Sein Puls lag nun bei stabilen Hundertachtzig und langsam bekam er wohl sein Implantat in den Griff.
›Fuck, fühl ich mich fertig!‹, stellte er fest. Dabei waren höchstens fünfzehn Minuten seit dem Download vergangen.
Der Kellner brachte den bestellten Kaffee. Mattias hatte mit Wasser vorlieb genommen. Mit einem großen Schluck spülte er sich den Mund aus, spuckte in die Büsche und beließ es dabei. Im Moment schmeckte für ihn selbst klares Arktisgletschereis wie öliges Brackwasser, was es wahrscheinlich auch war.
Anika ignorierte sein Verhalten und begann wieder über ihre zerstörten Strumpfhosen, das ruinierte Kostüm und sonstwas zu lamentieren:
»... und schau dir nur mal meine Pumps an. Das ist Prada. Korrigiere: Das war Prada. Die kann ich jetzt jedenfalls wegschmeißen. Und...«
»Ich bezahle ja alles! Gib endlich Ruhe!«, unterbrach er sie total entnervt.
»Auf was für einem Trip bist du denn heute?«
»Bin krank«, antwortete er knapp, in der Hoffnung, Anika damit vertreiben und sich danach endlich seinen Problemen widmen zu können. Aber Anika und sein Co-Imp hatten offenbar andere Pläne.
›Trip? Dumme Kuh! Was weiß die denn schon von meinem Trip?‹, ärgerte sich Mattias und sah die Kokainspuren an ihrer Oberlippe.
›Wenn's bei mir doch auch nur Koks wäre. Aber nein, ich muss ja mal wieder über das Ziel hinausschießen.‹ Anikas Achselschweiß transpirierte durch die Seidenbluse.
›Bäh!‹, dachte er, und: ›Scheiß Hacker-Seiten. Hätten ja wenigstens eine Warnung neben den verfluchten Link schreiben können.‹
+SuperSense-Extension+, die krasseste Erfahrung, die du je gemacht hast! War zwar völlig richtig, allerdings hatte er die Nase gestrichen voll davon.
›Blödes Sprichwort! Und trotzdem mehr als zutreffend.‹
Der Mief um ihn herum gewann allmählich die olfaktorische Form eines Fischs.
Das verdammte Plugin ließ sich einfach nicht abstellen. Mattias hatte es bereits die ersten dreißig Sekunden in der U-Bahn vergeblich versucht, bis sich die Tür geöffnet und ihn eine Woge aus Menschenleibern, Schweiß, Deo, Qualm und viel, viel Schlimmerem an Land geworfen hatte. Wie einen zappelnden Fisch.
Fisch? War wohl eher eine ganze Fischereiflotte, die ihm gerade durch die Nase schipperte. Er hörte, wie Anikas Herzschlag sich erhöhte, Blut ihre Arterien hinaufschoss. Seine Augen fokussierten die winzigen Äderchen ihrer Wangen, die anschwollen und ihr Gesicht trotz der Puderschicht wie eine Tomate strahlen ließen. Östrogen blubberte auf seiner Zunge.
Dann geschah etwas Seltsames.
Anikas Kontur verschwamm zu einem Brei aus Farbe, Geruch und Geschmack.
Mattias versuchte mit aller Kraft, seine Wahrnehmung zu bündeln...
Und plötzlich sah, hörte, roch, schmeckte und fühlte er tiefer in einen Menschen hinein, als er es je zuvor getan hatte. Seine Supersinne rissen Anikas Fassade aus Oberflächlichkeiten beiseite und sahen ihr wahres Innerstes.
»Is’ ja nicht grad viel!« Mattias war erschüttert.
»Was meinst du?«, fragte Anika überrascht. Der Hormongehalt der Luft fiel für einen Augenblick um drei Punkte.
»Nichts. Äh... mein Co-Imp spinnt heute etwas rum«, log Mattias gekonnt die Wahrheit.
»Das kenn' ich. Hab meines letzte Woche updaten lassen. Geh bloß nicht zu diesem schmierigen Händler Ecke Mariannenstraße und-«
»Werd’ ich nicht!«, unterbrach er sie und wünschte sich insgeheim das Kindergegröl zurück.
»Äh... Mattias? Ich wollte dir schon lange etwas sagen...«
›Dass sich hinter deiner mehr schlecht als recht hochgestylten, parfümierten und operierten Hülle nur eine riesige Leere verbirgt?‹, dachte er, grummelte aber nur ein abwesendes »Hhm?«
» ...Normaler Weise mach ich so was ja nicht oft...«
›Die ganze Zeit gibt sie vor, eine starke, selbstbewusste Frau zu sein. In Wirklichkeit ist sie nur eine kleine, dumme Göre. Sie hat Angst vor dem Leben und weiß das nicht einmal. Beinahe könnte man Mitleid mit ihr haben. Aber sie stinkt. Ich kann riechen, wie sie stinkt. Nach Arroganz. Nach Feigheit. Nach Anpassung. ‹
» ...Was ich meine: wir kennen uns nun schon ziemlich lange...«
›Viel zu lange habe ich es nicht bemerkt, nicht gerochen. Konnte es gar nicht! Und warum? Weil ich selber zu sehr stinke. Jetzt schaue ich in ihre Augen und sehe das Spiegelbild eines menschlichen Abfallhaufens. Ich sehe mich.‹
» ...und wir haben auch ein paar Mal miteinander geschlafen...«
›Sex, Parties, Alkohol, Drogen, Shoppen – was soll das sein? Leben? Erfüllung? Oberflächlicher Dreck, mehr nicht. Pausenfüller. Ablenkungen. Zeitvertreib. Zeitverschwendung! Es hält einen davon ab zu fragen, wer man ist und was man will.‹
» ...Dabei hatte ich immer das Gefühl, dass wir uns ziemlich ähnlich sind...«
›Wie Anika - das bin ich! Und Anika ist wie ich. Und zusammen mit allen um uns herum sind wir trotzdem nichts. Leer. Inhaltslos. Fassade um der Fassade willen. Filmattrappen echter Menschen!‹
» ...Ich könnte mir vorstellen, dass viele uns schon für ein Paar gehalten haben...«
›Ein Haufen menschlicher Dreck, das sind wir! Ich. Anika. Alle. Die ganze verdammte Stadt ist ein riesiger, gammelnder, zum Himmel stinkender Kadaver. Und wir sind die Fliegenmaden, die sich darin suhlen!‹
» ...Vielleicht liegt es nur daran, dass wir Frühling haben. Die Sonne scheint und...«
›Wir schwimmen in einem Meer aus Kälte und Finsternis und stoßen einander immer wieder unter auf dem Weg zum Ufer. Aber da ist kein Ufer! Kein weißer Palmenstrand in Sicht. Keine Rettung. Niemal- ‹
Eine Windböe unterbrach Mattias dabei, in grenzenlosem Selbstmitleid zu versinken. Sie trug einen ganz eigenen, zerbrechlichen Duft mit sich. Wie ein Fis in einem Moll-Akkord schwang über dem Mief der Stadt ein Hauch purer Lieblichkeit.
Purer weiblicher Lieblichkeit.
In einer Reinheit, die er nicht kannte.
Als sich das Cooperative Implant begeistert auf die neuen Daten stürzte, brachen weitere sensorische Schockwellen über sein Stammhirn herein. Doch Mattias hielt stand und seine Nase in den Wind.
Mit jedem Atemzug, den er nahm, dockten Hunderte feinster Pheromone an die Rezeptoren seines Vomeronasalorgans und aktivierten uralte Instinkte.
Eigentlich eine Aufgabe für das menschliche Unterbewusstsein, aber sein super-erweitertes Co-Imp sah das anders.
Ähnlich wie zuvor bei Anika, war Mattias in der Lage, mit der Nase diese Botschaft wie ein Buch zu lesen oder wie ein Lied zu hören. Und auch ein wenig: wie ein Gericht zu schmecken.
Und es schmeckte guuut. Sehr gut sogar. Ein femininer Traum, kulinarisch verpackt: Sahneeis, das sich samten an den Gaumen schmiegte. Erdbeerstückchen, die im Mund zergingen und zusammen mit peruanischer Vanille der Zunge ein Liebeslied sangen. Das alles in diesem feinen Duft, diesem ambrosischen Odeur , diesem göttlichen Wohlgeru-
»Hey!«, unterbrach Anika den sinnlichen Moment. »Ich bin auch noch da.«
»Äh... Was?« Mit einem Schreck erwachte Mattias aus seiner Trance.
»Hast du mir nicht zugehört?«
»Tschuldigung...« Er entsann sich dunkel, aus Anikas Richtung irgendwelche Worte gehört zu haben.
»Ich hab’ grad gefragt, ob du Lust hast, mich mal demnächst ins Kino einzuladen, oder so.« Sein Gesicht zeigte das mimische Äquivalent eines Fragezeichens.
»Jetzt stell dich nicht so an! Scheiße, ich will mit dir zusammen sein. Normaler Weise reagieren die Männer an dieser Stelle etwas fröhlicher, wenn ich sie frage.«
Mattias sprang entsetzt vom Stuhl. Einen Augenblick lang schwieg die Welt auf metaphorischer Ebene.
Auf der aromatischen tat sie es nicht: Erneut trieb der Wind Spuren dieses wunderbaren Dufts in seine Nase. Und mit einem Mal war Mattias klar, dass es hier für ihn nichts Interessantes mehr gab.
»Was?... Wo willst du denn hin?« Anika starrte ihn mit großen Augen an.
»Weg! Ich muss jemanden suchen.«
»Und was ist mit mir?«
»Du wirst schon einen anderen finden.« Mattias zog sich rasch die Jacke an. »So schlecht im Bett, wie du denkst, bist du gar nicht.« Er warf ihr einige große Scheine hin. »Dein Schadenersatz. Ich will das alles jetzt nicht mehr.«
»Äh? Was... ?«
»So leben!«, rief er ihr zu. »Ich wollte es noch nie, und jetzt weiß ich es endlich.« Dann war Anika außer Hörweite und aus seinem Leben verschwunden.
Jetzt hieß es: Suchen und Finden.
Eigentlich hatte er schon sein ganzes Leben lang gesucht, es nur nicht gewusst. Und wer nicht weiß, dass er sucht, kann auch nichts finden. Allerdings hatte sich das bei ihm nun geändert.
Wie an einem Faden zog ihn die Fährte immer tiefer in den Schiller Park. An ihrem Ende wartete der...
›Topf voll Gold? Nein,... · Mattias schüttelt den Kopf. ›...viel zu profane Metapher.‹
Er konnte sich keine Vorstellung von der Frau machen. Er fühlte nur ganz tief in sich drin, dass er zu ihr wollte. Ihre Körperchemie hatte ihm den Weg mit hormonellen Brotkrumen markiert.
Seine Nase war jetzt sein wichtigstes Auge. Die anderen beiden hielt er geschlossen, um nicht abgelenkt zu werden, denn der Faden war dünn und des Öfteren fast zerrissen.
Er stolperte über die Wiesen und wich – für jeden Beobachter unerklärlich – allen Bäumen halbwegs geschickt aus. Dabei schlug er große Bögen; immer so, wie der Wind gerade stand. Irgendwann war er auf der anderen Seite des Parks angekommen. Hinter der kleinen Mauer, der Grenze zur Berliner Innenstadt, transformierte sich das olfaktorische Ambiente aus Hundekot, Grassamen und Marihuanaqualm zum altbekannten Stadtgestank. Durch diese unsichtbare Wand musste Mattias sich mühevoll vorwärts graben, bis er an einer Fußgängerampel erneut Witterung aufnahm.
Hier hatte seine große Unbekannte gestanden, den Signalknopf gedrückt und auf Grün gewartet. Er streichelt sanft über das Plastik. Glatt und eben fühlte es sich an. Tot. Es roch nach dem Schweiß Tausender Hände. Und dem Duft dieser einen einzigen, auf die es jetzt nur noch ankam.
Das Signalpiepen der Ampel riss ihn schmerzhaft aus seiner Gedankenwelt. Mit den Zeigefingern in den Ohren konnte er sich vorerst vor weiteren akustischen Überraschungen schützen, sah aber ansonsten ziemlich bescheuert aus.
›Egal!‹
Die Menschen umspülten ihn wie einen Felsen im Fluss. Mattias versuchte ihre Anwesenheit zu ignorieren, und der Umstand, in Berlin geboren zu sein, half ihm dabei. Allen sinnlichen Widerwärtigkeiten zum Trotz, kämpfte er sich weiter stromaufwärts die Bristol-Straße hinauf und dann rechts in die Barfus-Straße. Sechshundert Meter und zwei Berliner-Currywurstbuden-Würgereize später hieß es erneut rechts.
›Das Mädel lässt mich ja ganz schöne Kreise laufen‹, dachte er sich, stapfte aber unbeirrt voran. Die Spur wurde heißer und der Duft intensiver – einem Bukett schon ziemlich ähnlich.
Die Augen geschlossen; die Finger in den Ohren; bluthundhechelnd und -schnuppernd, so lief er die Straße hinab und erntete skeptische Blicke von seinen Mitmenschen. Die sah er zwar nicht, aber ihre Körper glühten für ihn wie Hochöfen. Immer sicherer werdend, arbeitete Mattias sich voran.
Dann rannte er gegen eine Mauer.
Eigentlich war es ein Loch im Boden, aufgefüllt mit allen Widerlichkeiten dieser Welt. Mattias kannte es bereits. Er öffnete die Augen und stand vor dem Eingang zur U-Bahn-Haltestelle Rehberge. Seine Traumfrau war dort hinunter verschwunden. Mehrere rotblinkende, unsichtbare Duftpfeile zeigten in diese Richtung.
Etwas in ihm sträubte sich. Seine erste Begegnung auf intensiv-geruchlicher Ebene mit dieser Station vor fast einer Stunde war nicht gerade zufrieden stellend verlaufen. Er hatte sich jetzt zwar besser im Griff, aber...
›Reicht das für dort unten?‹
Einen Moment lang überlegte er und fuhr dann doch mit der Rolltreppe in die Dunkelheit. Ein Gutes hatte die Sache wenigstens: Er wurde endlich diese grässliche Damensonnenbrille los, auch wenn er dafür erneut den herben Eau-de-Stank des Berliner Untergrunds in Kauf nehmen musste.
Bereits auf der Treppe wünschte er sich, lieber im Hinterteil eines Moschusochsen zu stecken, als noch einmal hier herunter zu müssen. Aber es half nichts. Das Glück lag nun mal immer am Ende eines steinigen - oder in Mattias Fall stinkenden - Weges.
Unterdessen war aus dem Fis eine schwungvolle Sinfonie geworden, die sich tapfer gegen die Legionen aus Schweiß, Nikotin und allen möglichen anderen Gerüchen zur Wehr setzte. Es würde für Mattias ein Leichtes sein, die Gesuchte hier herauszuschnuppern, wenn auch keine angenehme Erfahrung.
Nur noch wenige Augenblicke und er-
Plötzlich war alles weg!
Kein Gestank. Keine duftende Sinfonie. Kein Licht.
Mattias zog verwirrt die Finger aus den Ohren. Taub.
Noch bevor er sich fragen konnte, was zur Hölle hier vor sich ging, wurde ein Schriftzug in sein Sichtfeld eingeblendet.
›Die Teststunde für SuperSense-Extension Version 3.2 ist abgelaufen. Bei Interesse an einer Vollversion bitten wir dich eine Email an folgende...‹
Es war vorbei.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an das Licht. Und mit der nächsten U-Bahn hielt sein normales Hörvermögen wieder Einzug. In die Menschenmenge kam Bewegung. Entsetzt sah Mattias sich um. Wo war die Frau? Wer war sie?
Er starrte in die Gesichter der Leute, und diese starrten achselzuckend zurück.
»Wo bist du?«, schrie er in die sich leerende Halle.
Keine Antwort und keine Zeit.
›Scheiße! Ich brauch’ das verfluchte Plugin!‹
Mit rasenden Gedanken rief er das Web-Interface seines Co-Imps auf.
›Wie war verdammtnochmal der scheiß Name dieser scheiß Hacker-Seite?‹ Der Verlaufscache würde es wissen. Schnell, bevor die...
Mit einem Rumsen fielen die Hydrauliktüren zu. Elektromotoren sprangen an und binnen Sekunden hatte die Bahn die Station wieder verlassen.
Fassungslos starrte Mattias ihr hinterher.
›Sie fährt weg! Einfach weg. Alles umsonst! Alles vergebens!‹
Jetzt hatte er keine Chance mehr, sie wiederzusehen. Selbst mit dem Supersinnen-Plugin für sein Implantat war das ein hoffnungsloses Unterfangen in einem Moloch wie Berlin.
Auf einer Wartebank sackte er zusammen, schloss die Augen und versuchte die Ereignisse der letzten Stunde in Gedanken zu resümieren.
Er kam nicht weit.
Jemand tippte ihm auf die Schulter. Erschrocken blickte er auf.
»Verzeihen Sie.« Die junge Frau hüstelte nervös und versteckte ihre Hände hinter den etwas breiten Hüften.
»Äh... Ich glaube, ich bin hier falsch. Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich nach Charlottenburg komme? Ich kenne mich leider in Berlin nicht gut aus.« Mattias sprang auf und sah sie überrascht an.
»Vanilleeis mit Erdbeeren«, flüsterte er.
»Wie bitte?«
»Nichts. Charlottenburg sagten Sie? Kein Problem!« Er lächelte. »Zeig ich Ihnen. Wenn Sie genug Zeit haben, zeig' ich Ihnen alles, was Sie sehen wollen.« Dann lachte er das fröhlichste Lachen seines Lebens.
Alternatives Ende für Prozac:
Auf einer Wartebank sackte er zusammen, schloss die Augen und versuchte die Ereignisse der letzten Stunde in Gedanken zu resümieren.
Er kam nicht weit. Ein Hauch von Vanilleeis und Erdbeer stieg ihm in die Nase. Und dazu noch jede Menge After-Shave.
»Verzeihen Sie.« Der junge Mann hüstelte nervös und spielte sich am Ohrstecker rum. »Können Sie mir vielleicht sagen, wie ich nach Charlottenb-«
»Fuck!«, rief Mattias und sprang erschrocken auf.
»Wie bitte?«
»Äh... Nichts«, antworte er hastig und fluchte innerlich: ·Blödes, verficktes Co-Imp! Ich bin nicht schwul! Nein, nein, nein!·
Dann sah er sich sein Gegenüber etwas genauer an.
»Andererseits...? Hmm! Was sagten Sie, wo wollen Sie hin? Charlottenburg? Ich könnte Sie hinbringen.« Er lächelte verwegen.