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Blutrünstig oder die Teufelszunge
Der Fußball rollt weit in die benachbarte Wiese hinein und bleibt vor schmutzigen Turnschuhen stehen, in denen die Füße von Ulrich, den alle fürchten, stecken. Ulrich bückt sich und hebt den Ball auf. Er prellt damit einbisschen herum. Levin kommt angelaufen. "Danke. Kann ich ihn bitte wieder haben?", fragt er schüchtern.
Ulrich beachtet ihn nicht. Er ist einen Kopf größer als Levin und doppelt so breit.
"Hallo ... ähm ... entschuldigung, kann ich ihn bitte wieder haben ...?"
Ulrich dribbelt den Ball unter seinen Beinen durch.
"Hey! Ich will meinen Ball wieder haben!" Levin rennt zu Ulrich, will den Ball an sich reißen, und findet sich sogleich auf dem Boden wieder. Ulrichs Ellenbogen hat ihn schmerzhaft in der Magengrube erwischt.
"Aua!" Levin liegt da und fängt an zu schluchzen. Keiner hilft ihm, die anderen Kinder stehen nur drumherum, weil alle Ulrich fürchten.
"Hey Fettbacke!" Ein unbekannter Junge, kaum größer als Levin, steht am Wiesenrand.
"Wie hast du mich genannt, du Hurensohn?" Ulrich schmeißt den Ball auf den Boden und geht auf den Neuen zu.
"Oh, oh", murmeln die anderen Kinder, "hoffentlich kann der Karate, sonst ist der gleich tot ..."
Der Neue macht keine Anstalten, abzuhauen. "Du kannst mich gerne schlagen, aber dann werden alle Kinder erfahren, was ich gestern durch dein Fenster gesehen habe."
Für einen Augenblick hält Ulrich inne.
"Tjaha, da staunst du, ne, fettes Schwein! Damit hast du wohl nicht gerechnet! Hast wohl Angst, alle Kinder auf dem Spielplatz erfahren, was bei dir daheim so abgeht. Würd ich an deiner Stelle auch haben, mir wäre es enorm peinlich."
"Ich mach dich fertig!" Ulrich geht wutschäumend auf ihn los.
"STOPP!", ruft der Junge. Ulrich bleibt tatsächlich wie angewurzelt stehen. Etwas im Tonfall des Jungen ist beängstigend. Wie wenn jemand redet, der Karate kann.
"Es tut mir leid, die Wahrheit ist", der Junge leckt sich mit der Zunge über die Oberlippe, "du musst mich verprügeln, richtig krankenhausreif schlagen. Weil ich es leider schon rumerzählt habe. Alle wissen es. Ich habe gestern sogar Fotos durch dein Fenster gemacht. Ja, wirklich, ungefähr zehn Stück. Ich hab sie überall rumgezeigt. Ich wollte es zuerst für mich behalten. Aber es war einfach zu lustig."
Das ist weit über die Grenze. Normalerweise macht Ulrich jeden für so eine Dreistigkeit mit seinen beiden Freunden "Intensivstation" und "Friedhof" bekannt. Aber die Stimme, mit der der Junge mutterseelenruhig redet, irgendwie viel zu tief für ihn ... Ulrich kann es sich nicht erklären, er fühlt sich fast ... eingeschüchtert, zumindest genug, um einen weiteren Augenblick zu zögern, bevor er dem Jungen gleich den Schädel einschlagen wird.
"Ach egal", zuckt der Junge mit den Achseln, "ich erzähl es jetzt nochmal vor allen Leuten. Einfach für diejenigen, die die Geschichte noch nicht kennen. Aaaalso, gestern Nachmittag bin ich da am Fenster von der Fettbacke -" - Zack, fängt er sich endlich den ersten Schwinger ein.
Nun liegt der Junge auf dem Rücken und Ulrich sitzt auf ihm drauf, er holt zum nächsten Schlag aus. Zack und links und rechts. Der Junge stöhnt auf. Seine Lippe ist geplatzt, er öffnet den Mund und zwischen seinen Lippen ziehen blutige Speichelfäden. Er lächelt. Ulrichs Gesicht spiegelt einen Anflug von Abscheu und Entsetzen wider.
"Wo bin ich stehengeblieben?", spuckt der Junge Blut aus, "Gestern Nachmittag bin ich also da vorbei -"
Ulrich schlägt mit aller Kraft zu. "Halt dein Maul!", ruft er verzweifelt. "Du lügst!"
Der Junge lacht aus blutigem Mund: "Haha, du armseliges Schweinchen! Du bist im Arsch! Du bist voll im Arsch! Selbst wenn du mich heute totschlägst, kannst du dich nie mehr wieder auf den Spielplatz trauen. Es werden immer mehr Kinder erfahren, sie werden es sich gegenseitig weitererzählen. Sie werden mit dem Finger auf dich zeigen: Seht her, das ist Fettbacke. Weißt du schon, was ich über den gehört hab? Und es werden neue Kinder kommen, stärkere, und sie werden dich dermaßen fertig machen, dass du dir wünschst, nie geboren worden zu sein."
Als er dem Jungen wieder eine reinhaut, ist Ulrichs Gesicht zu einer weinerlichen Grimasse verzogen. "Halts Maul ....!"
"Hey", keucht der Junge matschig. "Wenn es nur der Ball ist, den du haben willst, zum Trost kauf ich dir nen Ball, wenn du dir keinen leisten kannst. Denn du musst doch selber zugeben", sein Blick wird zu einem Fokus unendlicher Konzentration, während er wie in Zeitlupe weiterspricht, "es ist hart das Leben. Es ist hart, keine Freunde zu haben, tagein, tagaus alleine zu sein, die anderen Kinder zu sehen, wie sie miteinander spielen und fröhlich lachen. Aber das ist noch okay. Der schlimme Teil kommt erst, wenn es Abend wird, und das Schweinchen nach Hause muss. Schweinchen, so nennt er dich doch, dein Vater? Wie ist es? Stinkt er nach Schnaps? Sind seine Bartstoppeln stachelig? Schweinchen, komm zu Vati, Schweinchen, hab dich nicht so, Schweinchen, du willst es doch auch ... Du kannst noch so viele Kinder zusammenschlagen, aber die Blutergüsse an deinem ganzen Körper werden immer weiter wehtun, sie werden niemals heilen und alle werden sie sehen ..."
"NEIN!" Ulrich schlägt seine Hände vor das Gesicht, kippt zur Seite und fängt an, auf dem Boden zu heulen.
"Hier!", sagt der Junge und überreicht Levin dessen Ball. Geistesabwesend nimmt Levin ihn entgegen. Sein Blick ist starr auf Ulrich gerichtet, der wie ein Baby plärrt. "Mann ... was hast du mit ihm gemacht?"
Der Neue legt Levin eine Hand auf die Schulter: "Merk dir immer eins: Worte bringen viel mehr als Gewalt. Vergiss das nie." Mit einem Augenzwinkern (dasjenige Auge, das nicht blau ist) verlässt er die Wiese.
Levin sieht ihm nach. Vergiss das nie.
KLIRR!!
Erschrocken sprangen die Mitarbeiter aus ihren Bürostühlen auf, Knie schlugen an, Kaffee kippte auf Papierkram und Hosen, die Sekretärin, die gerade den Raum betrat, ließ den dicken Aktenstapel auf den Boden plumpsen, und alle standen sie wie versteinert da, bis auf den dicken kahlköpfigen Netzwerk-Administrator, der sich unter dem Tisch wie im mütterlichen Schutze einer Fruchtblase zusammengerollt hatte, oder dem jungen Praktikanten, der bereits das Treppenhaus hinunterschoss, um sich geistesgegenwärtig vor einem potentiellen Flugzeug zu retten, das in die zweite Etage der EF-Bank Ernsfurt hineinkrachen und sie alle in den Tod reißen würde.
Nach Sekunden der Stille bekam der Abteilungsleiter Adolf Wolff von seinem Assistenten Schaaf einen Stoß an den Arm, begleitet von einer dringlichen Geste, die besagte, dass es in dieser Situation eine echte Führungspersönlichkeit brauchte.
Entschlossen schlug Wolff also mit der Faust auf den Tisch, was wesentlich unbeeindruckender war als eine ohne Vorwarnung zerberstende Fensterscheibe, nichtsdestotrotz erschrak sich der Netzwerk-Admin ein zweites Mal und stieß mit dem Kopf schmerzhaft gegen die Unterseite seines Schreibstisches.
Leider fiel dem Herrn Abteilungsleiter nach dem Schlag nichts mehr ein, als auf die Faust zu starren - welch wundersamer Anblick! - und es blieb seinem Assistenten nichts anderes übrig, als den Souffleur zu machen, und Wolff von hinten die fehlenden Worte zuzuflüstern.
"Ok", sprach Wolff mit der unerschütterlich festen Stimme eines Anführers die Satzbrocken, die er aus Schaafs Flüstern erhaschte, "Erst einmal bitte ich Sie. Alle die Ruhe zu bewahren. Und ohne Panik den Raum. Zu verlassen. Sie haben jetzt Mittagspause. Holen Sie sich nen Kaffee oder. Gehen Sie Rauchen. Sie werden informiert bis sich die Lage geklärt. Hat."
Schaafs warnenden Blicke hinderten Wolff daran, der Verlockung nachzugeben, ein weiteres Mal auf den Tisch zu hauen.
Vor der Geräuschkulisse beunruhigten Murmelns begaben sich die Mitarbeiter und Sekretärinnen Richtung Ausgang, auch der kahle Schädel des dicken Netzwerk-Admins lugte schüchtern unter dem Schreibtisch hervor.
Als Wolff seinen Kopf nach Schaaf drehte, welcher mittlerweile geduckt an den Fenstern entlang lief und eifrig nach draußen Ausschau hielt, schweifte sein Blick den Mitarbeiter, der als einziger seinen Platz nicht verlassen hatte, sondern regungslos mit dem Kopf auf dem Schreibtisch lag.
"Schaaf, rufen Sie die Polizei!", sprach aus Wolff die Intuition eines Mannes, der noch nie eine Columbo-Folge ausgelassen hatte, während er zu dem toten Mitarbeiter stürzte.
"Nein, doch nicht!"
Die Leiche namens Müller entpuppte sich bloß als schlafend, der Kopf war gemütlich in die fleischigen Oberarme gebettet, in den Ohren steckten unauffällig kleine Kopfhörer, aus denen man einen Beat noch aus einem Meter Entfernung hören konnte. Kein Wunder also, dass der Mann die zerklirrende Fensterscheibe verschnarchen konnte!
"So, so, Herr Müller, während der Arbeit Musik hören und die Frechheit besitzen, dabei einzuschlafen?", sprach aus Wolff die Intuition eines Chefs, der gleich jemanden feuern wird. Er riss Müller eins der millimetergroßen Kopfhörer-Stöpsel aus dem Ohr und steckte es sich in das eigene.
"Enrique Iglesias? Müller, sind Sie schwul?", brüllte Wolff den immer noch Reglosen an. "Müller?"
Erst jetzt bemerkte Wolff, wie feucht und klebrig sich der Stöpsel im Ohr anfühlte, und das nicht einmal wegen Enrique Iglesias. Übelkeit überkam ihn, als er das blutrote Rinnsal sah, das sich seinen Weg aus dem freigemachten Ohr Müllers suchte. Ein Stück höher war das nicht einmal fünf Cent große Loch in Müllers Kopf.
"Chef", hörte er Schaafs ewige Arschkriecher-Stimme neben sich, "sollte ich nicht vielleicht doch die Polizei rufen?"
Wolff reagierte nicht. Sein Blick haftete auf Müller. Nie hatte er sich so sehr für diesen rückgratlosen Schwachmaten interessiert, als dieser noch nicht aus dem Kopf geblutet hatte. Und der Kopf schien nicht mit dem roten Saft geizen zu wollen. Wolff hatte noch nie viel Blut gesehen, er konnte sich gerade einmal daran erinnern, sich letzten Sommer in den Finger geschnitten zu haben, als er Sushi für seine Frau zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag zubereitete. Ein blutjunges Ding war sie, aber er hatte verdammt nochmal ein Anrecht auf blutjunge Dinger, schließlich hatte er nicht umsonst mit seinem Kopf einen kilometertiefen Tunnel in den Arsch des ehemaligen Chefs gegraben, um heute an der Spitze der Nahrungskette zu stehen. Ja, er machte keinen Hehl aus Arschkriecherei, er war sogar stolz darauf, weil er es geschafft hatte, und heute Andere ihm in den Arsch krochen, Leute wie Schaaf. Dabei hatte sein Vater immer gewollt, dass er Medizin studierte. Aber mal ehrlich, er hätte als Arzt oder Chirurg sicherlich eine weniger gute Figur gemacht, wäre stocksteif am OP-Tisch gestanden, die Augen unentwegt auf das helle und das dunkle Rot und das Rot in all seinen rötlichen Nuancen gerichtet. Surreal irgendwie, der Anblick von etwas, das man fast nur aus Filmen kannte, und dieses Etwas nun den Bruchteil eines Meters vor sich zu haben. Schaafs Stimme existierte irgendwo in weiter Ferne, dazwischen lag eine kilometerdicke Schicht aus Watte, herrgott, aus Isolierglas. Nun drang durch dieses Isolierglas noch etwas Neues, näherte sich von weit entfernt, wuchs in seiner Lautstärke. Auch etwas, mit dem Wolff die meiste Zeit bislang eher aus dem Abendprogramm vertraut war: Sirenengeheul.
Er warf seinen Mantel auf die Couchlehne.
"Liebling, du hast es sicher schon erfahren, aber du kannst dich beruhigen -", mir ist nichts passiert, wäre Wolffs Satz ausgegangen, hätte ihr messerscharfes "Schtt" diesen nicht abgeschnitten.
"Schatz, ich -", setzte er erneut an.
"Sei leise, ich schau grad Nachrichten." Ja, das tat sie, sie verfolgte gerade einen Bericht über einen tödlichen Anschlag, der von einem verwirrten Scharfschützen verübt wurde, und zwar auf eine Bankfiliale, die zufällig ein Mann leitete, mit dem sie verheiratet war, und der sich zum Zeitpunkt des Anschlags darin aufhielt. Aber das war anscheinend von sekundärem Interesse.
"Hallo? Kein: Liebling, oh Gott sei Dank, dass du am Leben bist! Bist du auch wirklich heil? Kein: Oh Schatzimausi, ich wäre fast vor Sorge gestorben!?", äffte Wolff eine Oktave höher und fuchtelte dabei wild mit den Händen.
"Der arme Attentäter", sagte sie, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Mattscheibe abzuwenden, "Es heißt, er soll jahrelang in der Schule gehänselt worden sein. Sieh nur, sein verstörtes Gesicht. Völlig traumatisiert!"
Die Wohnzimmertür wäre fast aus ihren Angeln gesprungen, so fest schlug Wolff sie zu, als er sich frustriert in sein Arbeitszimmer verkroch. Er ließ sich in seinen Ledersessel plumpsen und bohrte die Fingernägel in die Eiche seines fünftausend-Euro-Schreibtisches. Der Puls staute sich in seinen Schläfen, die Hitze kochte in seinem Kopf. Nur dieses eine Mal wollte er von Sandra beachtet werden, nur dieses eine gottverdammte Mal. War die Demütigung, die er von dieser Göre empfing, der Preis für all die Jahre Selbsterniedigungen, die er auf sich genommen hatte? Es gab Momente, da fühlte er sich wie ein richtiger Boss, wie der richtige Alfa-Man, der knallharte Bruce-Willis, der sein Territorium regierte. Momente, in denen er einfach mit der Faust auf den Tisch schlug, und damit eine Situation regelte, von der er nicht den geringsten Plan hatte. Das war der Wolff, der er sein wollte; den zu sein, eine Illusion war, der er die meiste Zeit erlag. Die meiste Zeit. Nur zuhause, an dem Ort, an dem er eigentlich das Anrecht auf ein höchstes Maß an Geborgenheit hatte, gab es für ihn keinen Rückzug vor der peinlichen Realität. Einer Realität, in der außer ihm jeder normale Mensch sich Respekt für eine solche Unverfrorenheit verschafft hätte. Wieso konnte er nicht einfach da rausgehen, und Sandra seine Meinung ins Gesicht sagen, sie vielleicht sogar ohrfeigen? Oder sich nicht einfach auf der Stelle von ihr scheiden lassen, was er schon lange hätte tun sollen? Die Schlampe liebte ihn nur wegen des Geldes. Falsch. Zu behaupten, sie liebte ihn nur wegen des Geldes, verspottete die wahren Begebenheiten. Ihn liebte Sandra schließlich kein Fünkchen, nur sein Geld liebte sie. Unverhohlener konnte eine Ehefrau ihre Nicht-Liebe zu ihrem Ehemann gar nicht mehr zeigen. Er sah es kristallklar vor sich. Und dennoch, er konnte sich nicht wehren. In diesem Moment war er immer noch der Grundschüler, dem im Schulhof das Pausenbrot aus der Hand gerissen wurde, der Teenager, der für ein bisschen Akzeptanz alles tat, was die Coolen der Klasse ihm befahlen, sei es noch so entwürdigend. Er hatte sich keinen Deut verändert. Vor seiner Frau war er so hilflos wie beim Anblick von Blut.
Beim Gedanken an Blut schoss ihm wieder das Bild von Müller durch den Kopf. Es gab unzählige Bilder, die er irgendwann in seinem Leben als wert erachtet hatte, sie in seinem Gedächtnis zu verewigen. Dieses wollte er unbedingt loswerden, doch es hielt sich unglaublich hartnäckig, irgendwo in den Reihen zwischem dem Kauf seines ersten Porsche und seiner Beförderung zum Filialleiter.
"Verpissen Sie sich, Müller, ich will Sie nicht sehen...", murmelte er. Müller ignorierte seinen Befehl so eiskalt, wie Sandra ihn ignoriert hätte. Wolff sah es auf einmal deutlich vor sich, als würde er auf den Sechzig-Zoll-Plasmaschirm in seinem Wohnzimmer starren. "Scheiße!", keuchte Wolff auf und stürzte auf den Boden. Ein langer Speichelfaden pendelte von seiner Unterlippe, als er in einem Anfall von Panik um sich schlug. Müllers Blut - es war überall, es lief an den Wänden herunter, während Enrique Iglesias eine eingängige Melodie jaulte!
Ein heftiger Schlag gegen seinen Schädel riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Benommen stellte er fest, dass er sich den Kopf am Schreibtisch angeschlagen hatte. Das Gefühl pochender Hitze, das sich im Mittelpunkt des Schmerzes zentrierte, fühlte sich fast erleichternd an, im Nachklang der schrecklichen Vision.
"Es... es war so real...", stöhnte Wolff.
"Chef, soll ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?" Schaaf umkreiste seinen Vorgesetzten wie ein Geier.
"Tun Sie .... was Sie wollen ...", entgegnete Wolff geistesabwesend. Zwischen Zeigefinger und Daumen drehte er unentwegt einen kleinen Gegenstand.
Schaaf lehnte sich zu Wolff rüber, als würde er ihn küssen wollen. "Chef, Sie... ähm... wirken schon seit drei Stunden irgendwie .... ich muss es mal bemerken ... etwas neben der Kappe."
Wolff schwieg.
"Naja ....", versuchte es Schaaf weiter, "Wenn es das ... tragische Ereignis kürzlich ist, das sie belastet, kann ich das vollkommen mitfühlen. Sie könnten sich doch freinehmen. Ruhen Sie sich aus. Ich werde das hier dann regeln und ihren Papierkram übernehmen, da machen Sie sich mal keine Sorgen."
Wolff hob den Blick. Ausdruckslos sah er Schaaf an und sagte schließlich mit ebenso ausdrucksloser Stimme: "Ich habe mich am Papier geschnitten."
"Ich hole Ihnen sofort ein Pflaster!" Schon war Schaaf aufgesprungen.
"Aber nein. Ich brauche kein Pflaster", fuhr Wolff monoton fort. "Es blutet. Sehen Sie meinen Finger? Schauen Sie hin. Sehen Sie, wie rot das Blut ist?"
"Oh mein Gott!",entfuhr es Schaaf, "Sind Sie sicher, dass Sie kein Pflaster wollen? Einen Verband vielleicht?"
Die erhobene linke Hand von Wolff legte den Blick auf das darunterliegende Papier frei. Es war regelrecht durchnässt von tiefroter Flüssigkeit.
Wolff sprach nur in dieser merkwürdig unbeteiligten Art weiter: "Blut ist rot. Rot ist eine eigenwillige Farbe. Schaaf, ist Ihnen jemals aufgefallen, dass Frau Enkebach immer diese blutrote Bluse trägt? Als hätte sie mit einer weißen Bluse in rotem Blut gebadet. Manchmal frage ich mich, ob es nicht vielleicht doch eine blutrote Bluse war, die sie anhatte, als sie in farblosem Wasser badete. Was ist Ihre Theorie?"
"A-a-also meine Theorie ist, ich hole Ihnen jetzt ein Verband."
Schaaf wollte gehen, wurde aber vom festen Griff seines offenbar geistig verwirrten Vorgesetzten aufgehalten. Er sah entsetzt an seinem Arm hinab. Wolffs Finger bohrten sich hinein und verschmierten das Blut in das weiße Stoff seines Hemdes.
"Sehen Sie?", sagte Wolff. "Das meinte ich. Quod erat demonstrandum."
"Chef, Sie sollten sich wirklich ein wenig Ruhe gönnen.... bitte lassen Sie mich los, Sie tun mir weh...."
Wolffs Hand schnappte auf und entließ Schaafs Arm. "Entschuldigen Sie mich bitte", räusperte sich Wolff.
Gerade wollte Schaaf sich zwingen, den Wahnsinn beiseite zu schieben und wieder den Verband holen zu gehen, als der Gegenstand, welchen Wolff die ganze Zeit zwischen seinen Fingern drehte, und der Schaaf anfänglich aufgefallen war, seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Es war eine deformierte Gewehrpatrone, verkrustet von braunem Rost. Doch Schaaf wusste es besser, es war etwa anderes als Rost.
"Wo haben Sie das her?", fragte Schaaf rundheraus.
Wolff beachtete ihn nicht. Gedankenverloren murmelte er: "Blood. Sang. Sanguis. Sangre."
"Haben Sie es auf dem Boden gefunden?"
"Aima. Krew. Hsüe. Ketsu eki."
"Es lag hier irgendwo rum, oder? Nein. Das kann nicht sein. Das kann die Spurensicherung unmöglich hier liegen gelassen haben. Wo haben Sie das her?"
"Vitae. Plasma. Serum. Erythrozyten. Lebenssaft. Vitae. - Sagte ich das bereits?", runzelte Wolff seine Stirn, die sich wieder auhellte, als er sich der Formulierung des nächsten Satzes widmete: "Welch grenzenlose sprachliche Vielfalt vereint in Wohlklang und Poesie!"
Schaaf durfte sich nicht mehr zurückhalten. Schnell vergewisserte er sich, dass niemand zuschaute, packte dann Wolff am Kragen und sagte mit aller Eindringlichkeit, die er aufbringen konnte: "Chef, Sie müssen mir zuhören! Sie wissen, dass sich der Prozess um den Hauptverdächtigen so lange hinzieht, weil nicht genügend Beweise vorliegen? Diese Kugel ist das Puzzleteil, das die ganze Zeit gefehlt hat! Es muss sofort von der Polizei überprüft werden!"
Die Beerdigung Müllers und die gerichtliche Verhandlung, der Wolff eine Woche später als Hauptzeuge beiwohnen musste, nahm er wie durch einen Nebel war. Einen blutroten. Nur Fetzen der Wirklichkeit erreichten sein Bewusstsein. Da war dieser "verwirrte Attentäter", von dem die Medien berichteten. Die nicht auffindbare Kugel, die "anscheinend bei der Tatortsicherung übersehen wurde" - wie Schaaf aussagte, wurde mit der mutmaßlichen Tatwaffe verglichen: Ein Volltreffer. Der Richter verurteilte den Täter auf Mord. Wolff bleckte seine Zähne, als er das Urteil vernahm. Es gab wohl noch echte Gerechtigkeit auf Erden, dafür dass der Schütze nicht auf Unzurechnungsfähig davonkam. Aber war es wirklich, was Wolff glaubte? Verdiente der Täter wirklich zwanzig Jahre?
Als Wolff sich in seinem Arbeitszimmer verbarrikardierte, wie er es seit zwei Wochen jeden Feierabend machte, und sich in seinem schweren Ledersessel niederließ, war er innerlich genauso leer wie der Raum zwischen seinem Daumen und Zeigefinger. Der Flummi, den er aus seiner Schublade herauskramte, war ein geringer Ersatz für den kalten Metall, stellenweise berandet mit pulveriger Kruste. Der Gummiball war nur eine Bagatelle, die deformierte Patrone aber ein Symbol. Oder eine Botschaft. Die Medien glaubten, dass der Attentäter eine Botschaft an die Gesellschaft richten wollte, ein Hilfeschrei, erzeugt mit den Stimmlippen der Gewalt. Aber Wolff wusste es besser: Die Botschaft galt nicht der Gesellschaft, sie galt ihm allein, eine Mission, mit der er und kein anderer betraut worden war. Der Attentäter war ein Handlanger des Schicksals, das ihm einen Keil in den Faden seines spießigen Alltags treiben wollte, um ihn wachzurütteln, um ihn zu alarmieren, ihn zu formen. Oh ja, er spürte, wie er Form annahm, vorher war er nur einer von vielen Schatten gewesen, die zusammen zu einem großen Schatten verschmolzen, aber seit dem Vorfall hatte er allmählich eine Eigenkontur angenommen, hob vom Rest ab. Er durfte den Attentäter nicht enttäuschen.
Aus den Hinterhöfen seines Unterbewusstseins drangen Töne, eine Melodie hervor und nahm ihren Weg summend aus seinem Mund.
Die Tür wurde harsch aufgestoßen. Im Türrahmen stand Sandra, das Weiße in ihren Augen war zu sehen. "Du .... du ....", schnaufte sie vor Wut. "Du warst es! Du hast meine Schuhe ruiniert!"
Mit einer für ihn ungewöhnlich geschmeidigen Bewegung wich er einem paar Lederboots aus, die ihm entgegengeschleudert kamen. Im Vorbeifliegen verbreiteten sie kurz den stechenden Geruch des Ammoniaks, das sie zerfressen hatte.
"Nur die Ruhe", entgegnete er trocken. "Aufregung ist schlecht für den BLUTdruck."
Das war nicht die Reaktion, die sie von ihm erwartet hätte, einen Moment lang blieb sie sprachlos.
Er duckte sich und hob die Lederboots behutsam auf. "Weißt du, Liebling", sprach er, den Blick nachdenklich auf die Stiefel gerichtet, "eigentlich wollte ich sie in Blut tränken, meine Wahl wäre auf Rinderblut gefallen, aber mir stand keins zur Verfügung. Würden wir eine Katze besitzen, hätte ich ihre Schlagadern hierfür gemolken. Aber wir hatten nur dieses Ammoniak. Du benutzt es für deine Haare. Ich glaube, diesmal hat das Ammoniak seine Wirkung durchaus erreicht, nicht wie sonst immer bei deinen Haaren, ne?"
"Oh du Arschloch, das wirst du mir büßen!", kam sie in altem Temperament auf ihn zugestürmt.
Schnurstracks zückte Wolff den Flummi und schlug ihn mit größter Wucht gegen die empfindliche Gabelung ihrer Halsschlagadern. Sofort sank seine Furie von Ehefrau bewusstlos zu Boden.
"Rache ist BLUTwurst", knurrte Wolff, und zum ersten Mal in seinem Leben imitierte er das Heulen eines Kojoten, der seine Schnauze dem Vollmond engegenreckt.
Das Radio dröhnte den ganzen Raum voll.
"Nein, nein, nein, das gefällt mit nicht." Das weiße Rauschen des Radiowellenäthers ersetzte Kylie Minogues quirlige Stimme, die Red Blooded Woman säuselte, als Wolff nervös am Frequenzschalter drehte. Der nächste Sender, den er erreichte, spielte einen Musikgeschmack, den er vielleicht geteilt hätte, wenn er halb so alt gewesen wäre: Eminem, Blood in Blood out. Schnell wechselte er auf eine Frequenz, auf der Michael Jackson Blood on the Dance Floor schrie. Doch nur der Oldies-Sender, der von den Beatles Young Blood spielte, lud Wolff zum Verweilen ein.
Er tänzelte mit einem Rasiermesser in der Hand - jeweils drei Schritte vor und zwei Schritte zurück, bis er Schaaf erreichte, der mit Klebeband und einer Frau Sandra Wolff am Stuhl gefesselt war, und entknebelte ihn mit der scharfen Klinge.
"Chef", schoss es aus Schaaf heraus, er sprach trotz wahnsinnigem Tempo mit unglaublicher Beherrschung, "sehen Sie, wenn mir etwas zustoßen sollte, wenn ihrer Frau etwas zustoßen sollte, Sie sollten wissen, dass neunundachtzig Prozent aller Gewaltverbrechen in den ersten sechs Monaten gelöst werden, die restlichen elf Prozent früher oder später. Mikroskopisch kleine DNA-Spuren bleiben über Jahrzehnte erhalten und können mit allen möglichen Methoden auf den Täter zurückführen. Was auch immer Sie zu dieser Handlung antreibt, ich bin mir sicher, es ist ein Missverständnis. In wenigen Stunden werden Sie die Tat bereuen, in einigen Tagen werden Sie geplagt werden von Verfolgungswahn. Sehen Sie sich um. Sie sind reich. Selbst wenn Sie die Hälfte Ihres Vermögens abgeben würden, würden Sie ein Leben führen, für das Sie die Mehrheit der Menschheit beneiden würde. Wenn Sie lebenslänglich bekommen, beneidet Sie niemand. Gut, wir sind jetzt alle zusammen in diesem Raum. So weit ist es schon gekommen. Sie haben einen Fehler gemacht. Aber Sie waren mir immer ein guter Chef und Sie waren auch ein anständiger Mensch. Das werde ich nie vergessen und auch jetzt in diesem Augenblick hat sich grundsätzlich für mich nichts geändert an dem Bild, dass ich von Ihnen habe. Dieser einzige Fehler muss Ihr Leben nicht ruinieren. Es gibt eine Lösung, wie wir alle heil hier rauskommen -"
Wolff knebelte ihn wieder zu und entknebelte als nächstes seine Frau.
"Hilfe! Er wird uns alle umbringen!", schrie sie aus vollem Halse. Schon war sie wieder zugeknebelt.
Wolff kratzte sich in einer verlegenen Geste am Kopf und schaute mit entschuldigendem Blick zu Schaaf hinüber: "Mich haben Sie ja überzeugt...." Dann lächelte er entwaffnend. "Naja. Aber ihr beide irrt euch an einem Punkt: Gewaltverbrechen, Umbringen. Nichts Entfernteres habe ich im Sinn. Ich habe zu diesem Treffen meine wichtigsten Partner einberufen, sowohl im Geschäft, als auch im Privatleben. Und das sind Sie und Sandra. Ich möchte eine kleine Diskussion über Zielorientierung der nächsten Jahre führen, sozusagen worauf wir Kurs halten. Leider fahren wir momentan durch trübe Gewässer und das Schiff wankt. Wissen Sie, was Piraten machen, um das Schiff zu retten? Sie schmeißen Ballast ab. Wenn unser Schiff den Hafen glücklicher Ehe sicher erreichen soll, dürfen nur Zwei an Bord sein. Der Dritte wird über die Leitplanke geschickt."
"Hmm hmmm", entgegnete Schaaf. Wolff entknebelte ihn. "Ich schlafe nicht mit Ihrer Frau! Vielleicht schläft Ihre Frau mit irgend jemandem, aber das bin nicht ich!"
"Hmm. Das ist jammerschade. Ich habe mich schon gefreut, Ihnen Ihr Hemd zurückgeben zu können. Aber dann ist es ja gar nicht Ihres." Wolff zog aus einer Schublade ein weißes Hemd hervor. Am rechten Ärmel zeichneten sich Reste der Blutflecken ab, die Wolff eine Woche zuvor mit seiner geschnittenen Hand hinterlassen hatte. "Hm, wer hat es denn dann in meinem Schlafzimmer vergessen?"
Schaaf antwortete ohne ein Zögern: "Ich hab mein Hemd noch. Wieso sollte ich mein Hemd bei Ihnen liegenlassen, nachdem ich mit Ihrer Frau geschlafen hätte?"
"Hätte, wäre, wenn. Tatsache ist, es ist Ihr Hemd. Das, was Sie glauben, Ihres zu sein, ist eins von meinen."
"Aber bei meinem ist auch noch Blut drauf!"
"Ich habe alle meine Hemden vollgeblutet. Die Flecken sehen sich sehr ähnlich. Ich kann mittlerweile nicht mehr aus dem Haus gehen, ohne eine frisch blutende Wunde. Sehen Sie?" Er krempelte seinen linken Ärmel hoch, entblößte eine frische Schnittwunde neben mehreren verkrusteten und lachte: "Es ist verrückt. Wie eine Frau, die sich nur geschminkt auf die Straße traut. Sonst fühle ich mich in meinem Körper irgendwie .... unwohl. Dieses Rasiermesser hier in meiner Hand ist mein Schminkkasten. Shit, ich glaube, es ist wieder an der Zeit ...."
Er setzte mit der Klinge an der alten Wunde an und zog die rote Linie mit schönem Druck nach.
"Argh .... herrlich! Man kann einfach nicht mehr aufhören, wenn man einmal BLUT geleckt hat!"
Sandras Augen weiteten sich vor Entsetzen.
"Keine Sorge, Liebling, mir geht es gut....", zart strich Wolff ihr eine ihrer schwarzen Stränen aus dem Gesicht. Liebevoll betrachtete er seine wie Espenlaub zitternde, blasse Frau. "Weiß wie Schnee ... schwarz wie Ebenholz ...", Wolff hob das Rasiermesser langsam in die Höhe, wie um auszuholen, "... und ROT wie BLUT!!"
Sie wand sich mit aller Kraft unter dem Klebeband. Jeden Augenblick würde das Raisermesser mit einem zischendem Geräusch auf sie niedersausen.
Schaafs Miene verfinsterte sich. Diese Besessenheit von Blut ... langsam verstand er, was mit Wolff los war. Schaafs Blick nahm Eiseskälte an und die Stimme, mit der er nun sprach, war tiefer und von einer unheimlichen Stärke durchdrungen:
"Sie werden sterben. Der Amokläufer wollte nicht Müller töten, sondern eigentlich Sie. Der Kopfschuss galt Ihnen. Ich hatte vor, es Ihnen zu erzählen: Oberst Rothmeier hat mich vor drei Tagen angerufen. Der Anwalt des Amokläufers hat eine zweite psychische Begutachtung bewirken lassen, jetzt ist er doch noch in die Psychatrie verwiesen worden."
Wolff folgte Schaaf mit verdutztem Gesicht. "Was zum verfickten Teufel ...." Mit erhobenem Messer stand er da, rührte sich nicht. Was war bloß mit diesem Schaaf los? Nicht, dass Wolff auch nur einem einzigen seiner Worte glaubte. Aber die Art wie er redete. Als würde er auf etwas ... Schreckliches hinaus wollen. Irgend etwas an diesem Augenblick fühlte sich verdammt falsch an.
"Sie glauben", fuhr Schaaf fort, "Sie haben die Situation unter Kontrolle? Sie sind völlig durchgeknallt, lassen Ihren debilen Wahnsinn auf die Menschheit los, wie Eltern, die ihren Kindern zum ersten Mal Disneyland bieten. Der einzige Grund, warum sie momentan mehr Kontrolle über die Situation haben als sonst, ist, weil ihr Wahnsinn die Situation austrickst. Wie oft habe ich Ihren Arsch gerettet? Vergessen Sie nicht, wer Sie vor Gericht gedeckt hat. Meinem geschickten Eingreifen verdanken Sie es Tag für Tag, dass Ihre lächerlichen Führungsqualitäten die Abteilung zusammenhalten. Denken Sie an all die Momente, in denen Sie verdrängen, wie viel Respekt Sie in Wirklichkeit vor mir haben. Wie sicher und geborgen Sie sich fühlen, weil es mich gibt."
Wolff hatte unbewusst das Messer sinken lassen. Irgend etwas sagte ihm, dass Schaaf nicht nur in einem Anflug aus Überlebenskampfgeist wahnwitzig daherbluffte. War Schaaf ebenso verrückt geworden wie er selbst?
"Sie haben mich schon immer gebraucht", Schaaf leckte sich mit der Zunge über die Oberlippe, "aber wenn mir etwas geschieht, wer wird Sie dann decken, Ihnen die richtigen Worte zuflüstern, im richtigen Moment die richtigen Hinweise geben? Wer wird Sie dann beschützen vor dem Amokläufer? Er sieht nur wenigen Jahren in der Klapsmühle entgegen, aber diese Jahre werden sich als Hölle herausstellen. Er hasst die Zeit dort drin, hasst jede einzelne Pille, die er zu schlucken gezwungen wird. All die menschenunwürdigen Behandlungen, die er von Ärzten über sich ergehen lassen muss. Männer mit weißen Kitteln, die hinter jenen Wänden Gott spielen. Und schließlich wird er entlassen. Er kommt raus in die Freiheit, was wird er als erstes tun? Er hat nie vergessen, wessen Zeugenaussage er es verdankt, verhaftet worden zu sein. Dem Helden der Stunde, der die verschwundene Gewehrpatrone doch noch gefunden hatte. Wie wird er Ihnen seine Dankbarkeit erweisen? Sie haben seine Gewehrkugel doch so gemocht. Vielleicht wird er Ihnen eine neue schenken? Mitten in den Kopf? In Wirklichkeit...", Schaafs Blick wurde ein Fokus unendlicher Konzentration, als er hypnotisch fortfuhr, "... in Wirklichkeit sind Sie bereits tot, Sie wissen es nur noch nicht. Sie können dem nicht entrinnen, es ist unausweichlich. Es wird Ihnen von Sekunde zu Sekunde klarer, und jeder andere Gedanke, jeder Anflug von Hoffnung zerschellt an der Unerbittlichkeit der Realität."
"Halts Maul!", brachte Wolff keuchend hervor. Es war, als ob jede einzelne von Schaafs Worten eine neue Saite in Wolffs Seele erzittern ließ, bis sein Resonanzkörper von Verstand zerbrechen würde.
"Sehen Sie, wie Sie daliegen, als Leiche mit Loch im Kopf, aus dem frisches, hellrotes Blut herausquellt? Sehen Sie es vor sich? Blut, das in einem klebrigen Rinnsal seinen Weg aus Ihrem Ohr sucht, während Enrique Iglesias aus dem Kopfhörer erklingt und sich die Sirenen von weitem nähern? Sie können nichts machen, das Blut ist überall, Sie schwimmen hilflos in einem Meer aus Blut. Wollen Sie das nochmal durchmachen?"
Wolffs Blick war starr auf das Rasiermesser gerichtet, in dessen blanken Klinge sein Spiegelbild zu sehen war. Keine Gemütsregung war ihm anzumerken, bis auf kleinste Zuckungen des rechten Unterlids, die seine innere Erregung verrieten.
"Oh ja, Sie werden es nochmal durchmachen, sobald Ihnen die kleinste Unvorsichtigkeit unterläuft, wieder und wieder werden Sie es erleben. Nirgendwo werden Sie mehr sicher sein vor seiner Blutrache, nicht einmal in Ihrer eigenen Wohnung. Überall wird er auf Sie lauern. Erbarmungslos wird er Sie jagen. Und eines Tages hören Sie eine zerklirrende Fensterscheibe neben sich - die letzte in Ihrem Leben."
Geräuschvoll schnalzte Schaaf mit der Zunge. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sprang Wolff zurück. "Das ist ein Trick!", stieß er panisch aus. Er konnte nicht länger tatenlos herumstehen, musste handeln. Ein Blick auf seine eigene blutende Wunde verschaffte seinem vor Bedrängnis kochendem Gemüt Abkühlung, wie eine kalte Coladose, die man an einem heißen Sommertag an die Wange hält. Das war die Lösung, er musste dem Amokläufer, diesem unerbittlichen Bluträcher, zuvorkommen!! Mit der Entschlossenheit eines Mannes, der seine nackte Haut retten will, stieß er sich die Klinge tief in die Ellenbeuge und riss das Messer ruckartig zur Seite. Leuchtendes Rot spritzte hervor und Wolff stöhnte vor Erleichterung auf. Mehr! Sein linker Arm hing kraftlos herab, weil der Schnitt die Bizepssehne durchtrennt hatte. Pulsartig verspritzte seine offengelegte Unterarmarterie den lebensspendenden Cocktail. Mehr! Das Zimmer war von seinem krankhaft verzweifelten Lachen erfüllt, die Tapete mit seinem Blut bescheck, hellrot und tiefrot und rot in allen rötlichen Nuancen. Mehr! So war es gut!
Ein Jahr später. Der neue Bankfilialleiter sitzt in seinem Büro, die Beine lässig auf dem Tisch. Die Schrecknisse vergangener Tage rücken mit den Wochen und Monaten in den Schatten des Vergessens, auch wenn in manch unerwarteten Momenten bedrohliche Erinnerungsfetzen aufzublitzen vermögen.
KLIRR!!
Erschrocken zuckt er zusammen.
"Oh, es tut mir so leid, Herr Direktor! Ich ... ich ... weiß auch nicht, die Kaffeetasse ist mir einfach aus der Hand ...", stammelt Sekretärin Frau Enkebach, während sie hilflos und verzweifelt auf den braunen Fleck auf dem Teppich sieht, aus dem Porzellanscherben wie Eisberge herausragen.
"Ist schon gut." Schaaf schwingt seine Beine vom Tisch, steht auf und überreicht ihr ein Tempo. "Wischen Sie erst einmal ihre hübsche Bluse ab, bevor die Kaffeeflecken nicht mehr aus dem schönen Rot herauszukriegen sind. Ich hol ein paar Küchentücher. Nein, machen Sie keine Anstalten, ich mach das schon, keine Sorge, das kann jedem mal passieren ..."
In der Büroküche angekommen, kramt er aus dem Schrank eine Küchenrolle hervor, als ihm der dicke Netzwerk-Administrator zuruft: "Hey Chef, Sie sind in den Nachrichten."
Schaaf schaut auf und sieht sich selbst im Fernsehen, wie ihm ein Mikrofon entgegengehalten wird.
Der Reporter befragt ihn: "Ihr ehemaliger Chef, der nun in die forensische Anstalt nach Webersbach verlegt wurde, hat vor einem Jahr Sie und seine Frau gekidnappt und sich vor Ihren Augen am ganzen Körper aufgeschlitzt. Können Sie sich seine Motive erklären?"
Der Schaaf auf der Mattscheibe antwortet: "Herr Wolff wirkte äußerlich normal, innerlich war er aber geistig verwirrt. Ich habe ihn in Momenten erlebt, in denen sein Gesicht völlig verstört war. Er hat mir einmal anvertraut, dass er früher jahrelang in der Schule gehänselt wurde. Der Mord an Müller muss ihn damals völlig traumatisiert haben."
"Oh Mann, Chef", der Administrator blickt ihn entsetzt an, "ist das wahr, ich hab das damals gar nicht so richtig mitgekriegt, er hat sich echt vor Ihren Augen aufgeschlitzt? Wenn mir das passiert wäre, ich hätte mir vor Angst in die Hosen gemacht!"
Levin Schaaf verfolgt still und ernsthaft die Sendung auf dem Bildschirm. Schließlich klopft er dem dicken Netzwerk-Administrator auf die Schulter und sagt: "Danken wir Gott, dass Frau Wolff und ich damals heil aus der Sache herausgekommen sind!"
Er dreht sich um und will mit der Papierrolle gehen. Bevor er im Flur ist, hält er noch einmal inne und sagt: "Genießen Sie Ihre Mittagspause, Egon, und machen Sie weiterhin so gut mit ihrer Arbeit weiter!"
Mit einem Augenzwinkern verlässt er die Küche.
Egon, der Administrator, hat noch lange ein Lächeln im Gesicht. Der neue Direktor ist doch wirklich ein feiner Kerl. Und wie er mit Worten umgehen kann.