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Chrissy (11): Abschied von Papa

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CoK

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24.08.2020
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Chrissy (11): Abschied von Papa

Am Abend, bevor Weitoma uns besuchte, schickte Mama mich ins Dorf, um Papa zu holen. Ich ging zuerst in den Hirsch und hatte Glück, er war dort.
„Da kommt meine Große, willst du eine Limo? Ich trinke noch ein Bier, danach gehen wir nach Hause.“ Papa klopfte auf den freien Stuhl neben sich. Zu gerne hätte ich eine Limo getrunken, die gab es bei uns nie. Doch, Mama würde sauer werden. Wir mussten sparen und Papa sollte mitkommen. Ich schüttelte den Kopf und Papa bestellte trotzdem ein Bier.
Auf dem Nachhauseweg streichelte er mir über das Gesicht, „Chrissy, du bist mein bestes Mädchen. Du sagst der Mama doch nicht, dass ich noch ein Bier getrunken habe!“, Papa lächelte mich an und seine Stimme klang leise und sanft.
Ich schüttelte den Kopf.
„Hast du den Brief?“
Wieder schüttelte ich den Kopf. Alle zwei Wochen brachte Frau Kohler die blauen Briefe mit dem Fensterchen. Papa wollte, dass ich sie vor Mama verstecke, damit sie sich nicht aufregen musste. Doch diesen Dienstag war kein Brief gekommen.
Papa starrte mich mit rot glänzenden Augen an. „Warst du überhaupt zu Hause und hast aufgepasst?“ Ich zuckte zusammen. Er klang laut und zornig.
„Den ganzen Nachmittag!, „Mama hat mich nach draußen geschickt. Martin war im Hof und wollte mit mir in den Wald zum Schatz suchen. Ich habe nein gesagt und ihn überredet, mit mir Ball zu spielen. Wir haben Zehnerle geübt, aber die Frau Kohler ist nicht gekommen.“
Papa wühlte sich mit einer Hand durch die Haare, er zitterte dabei wie Opa.
Als wir nach Hause kamen, fehlte Mama. „Sie holt Grumbeeren“, erklärte Marie.
Bevor es dunkel wurde, ging sie oft auf die Felder und suchte nach den Kartoffeln, die bei der Ernte vergessen wurden. Damit Papa nicht mehr wütend auf mich sein konnte, zog ich mein Nachthemd an und bin ins Bett gegangen.
Am anderen Tag ist dann Weitoma gekommen. Als ich von der Schule nach Hause kam, saß sie mit Mama in der Küche. Auf dem Tisch lag ein Kuvert mit Fensterchen. Mama stützte ihren Kopf auf die Hände und starrte auf ein Schreiben. Ich traute mich nicht zu fragen, woher der Brief war. Weitoma nahm mich in den Arm und drückte mich. Ich mochte das nicht, denn sie roch immer so seltsam, ein bisschen schimmelig.
Oma Anna hatte nie so gerochen; sie roch nach Kuchen, Marmelade und nach Lavendel.
„Chrissy, möchtest du Kartoffeln essen?“ Mama schaute mich an. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe und sie waren rot, wie beim Zwiebelschneiden. Ich wollte nichts essen und schüttelte den Kopf.
„Wenn du keine Kartoffeln willst, geh Pilze suchen!“, schlug Mama vor. Sie kramte eine Plastiktüte aus der Schublade und gab mir ein Messer. „Pass auf das Messer auf!“
Ich nickte, und weil ich ihr eine Freude machen wollte, fragte ich, ob ich meine Schwestern mitnehmen sollte.
„Die sind bei eurer Tante, deine Mama und ich müssen etwas bereden.“ Weitoma drückte ihre Augen zusammen und nickte mir zu.
Früher ging Mama zu Oma Anna, um zu reden. Doch ihre Mutter war im Frühling gestorben. Als es Maipilze gab. Die haben Mama und ich unter Wacholdersträuchern und versteckt zwischen Heidegras und Silberdisteln gefunden.
Mama hatte mir alle Pilzplätze gezeigt, auch die auf der Kuhwiese. Vielleicht wäre sie mitgekommen, wenn sie nicht so traurig gewesen wäre. Bestimmt wegen Papa. Sicher hatte er bei Frau Kohler Geld abgehoben, um Bier zu kaufen.

Einmal im Monat gingen Mama und ich in unsere Dorfsparkasse. Jedes Mal ermahnte sie mich, an der Zimmertüre stehenzubleiben und zu warten. Auf Frau Kohlers Tisch stand ein Tresor. Damit er aufging, musste sie an einer kleinen Scheibe mit Ziffern drehen. Ich hatte immer Angst, dass sie die Zahlen einmal vergessen würde und wir dann kein Geld bekämen. Das war auch schon passiert, aber nicht, weil Frau Kohler die Zahlen vergessen hatte, sondern weil auf Papas Konto kein Geld mehr war. Irgendwie bekam ich immer schwitzige Hände, wenn ich an der Tür stand und die beiden Frauen beobachtete. Inzwischen wusste ich, wenn Frau Kohler Mama traurig ansah und den Kopf schüttelte, dann bekamen wir nur wenig Geld. Mamas Mund öffnete sich dann, wie wenn ihr die Luft ausgehen würde. An diesen Tagen stritten meine Eltern.

Als ich die Kuhweide erreichte, staunte ich. So viele Pilze hatte ich noch nie gesehen. Ich schnitt und schnitt einen Pilz nach dem anderen. Voller Begeisterung packte ich sie ein. Mama würde sich riesig freuen. Mit voller Tüte rannte ich nach Hause. Strahlend streckte ich sie ihr entgegen. Mama nahm die Pilze und legte sie auf den Herd. „Du musst doch sicher Hausaufgaben machen, geh ins Wohnzimmer!“
Klar musste ich welche machen. Seit ich nicht mehr in die Grundschule ging, sondern jeden Morgen mit dem Bus in die Hauptschule fahren musste, bekamen wir viele Aufgaben auf. Wütend knallte ich die Schulbücher auf den Tisch. Sollte Mama doch nächstes Mal selbst Pilze suchen!
Als ich fertig war und meinen Schulranzen neben die Garderobe stellte, kamen meine Schwestern nach Hause. Mama lief zur Bushaltestelle, um Papa abzuholen. Das würde Streit geben, dachte ich besorgt. Papa gefiel es gar nicht, wenn er abgeholt wurde und nicht mehr in die Wirtschaft konnte.
„Chrissy, du gehst mit deinen Schwestern ins Kinderzimmer!“ Omas faltiger Hals drehte sich und ihr Kopf deutete zu unserem Zimmer.
„Macht Mama dann meine Pilze?“ Ich schluckte bei dem Gedanken an die leckere Pilzpfanne.
„Bestimmt.“ Oma verschwand in der Küche.
Folgsam gingen wir vier ins Kinderzimmer. Ich schnupperte, sogar hier roch es nach Pilzen, nach Erde und ein wenig nach Mandeln. „Was wollt ihr spielen?“, fragte ich die drei und gruschtelte in der Spielkiste. Annas einbeinige Puppe ragte über den Rand. Vier nackte Barbiepuppen lagen übereinander. Legosteine flogen aus der Kiste. Viel zu wenige, um etwas Größeres zu bauen. Ich griff nach dem einzigen Buch und wir setzten uns auf den Boden. Während ich ihnen vorlas, hörte ich unsere Eltern nach Hause kommen.
„Du hättest nicht herfahren müssen!“ Papas Stimme war laut.
„Wir waren heute auf der Sparkasse, so kann es nicht weitergehen“, antwortete Oma. Ebenfalls, ohne Papa zu begrüßen.
Bestimmt hatten sie den Brief heute in der Stadtsparkasse bekommen, schoss es mir durch den Kopf.
„Das ist mein Geld, und ich kann damit machen, was ich will!“, brüllte Papa, dabei schlug er so laut auf den Tisch, dass Mama aufschrie.
„Sigi, denk doch an die Kinder!“, bat ihn Oma und ich hörte, wie die Küchentüre geschlossen wurde.
Jetzt verstanden wir nicht mehr, was die Erwachsenen miteinander redeten. Erkannten an ihren wütenden Stimmen, dass sie miteinander stritten. Ich las vor, so laut ich konnte.
Dann kam Papa ins Kinderzimmer. Er nahm meine jüngste Schwester auf den Arm. „Tschüss, meine Kleine, bleib schön brav!“, er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sie wieder ab.
Er beugte sich zu Marie, die neben mir saß. und streichelte ihr über den Rücken. „Du musst auch brav sein, hörst du, Papa muss jetzt gehen.“
Lotte war inzwischen unters Bett gekrochen. Papa zog sie hervor und sie begann zu weinen. „Du brauchst doch keine Angst zu haben. Ich will mich nur von dir verabschieden.“ Lotte weinte weiter, und Papa drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
Dann nahm er mich in den Arm. Papa weinte. Und ich musste auch weinen. „Meine Große, ich muss gehen und du wirst auf deine kleinen Schwestern aufpassen.“ Er drückte mich so fest, dass es weh tat und ich fast keine Luft mehr bekam.
„Papa, warum gehst du weg? Bleib hier!“, kreischte ich, als er mich losließ. Er ging. Ich wollte ihm hinterherlaufen, doch Mama kam und schob mich zurück.
„Lass mich los! Ich will zu Papa!“
Sie drückte die Türe zu und schloss ab. Weil ich fürchterliche Angst hatte, begann ich zu schreien: „Lass mich raus!“ Ich schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Ich weiß nicht, ob meine kleinen Schwestern zu schreien anfingen, weil ich ihnen Angst machte, oder weil Papa weg war. Vielleicht auch, weil es so schrecklich laut in unserem Zimmer wurde. Anna, die mit ihren sechs Jahren schon lange trocken war, pinkelte auf den Boden. Rotz lief ihr aus der Nase und ihr Gesicht war rot vom Schreien. „Papa“, bettelte Anna, „Papa“, während sie ihr verpinkeltes Röckchen in die Höhe hob.
„Mama!“, rief ich, „Mama, bitte mach doch auf, Anna hat in die Hose gemacht!“
Ich lauschte, sie kam aus der Küche und schloss auf. Mama nahm Anna auf den Arm und ich rannte an ihr vorbei aus dem Zimmer, durch die Wohnungstür in den Keller. In den Raum, in dem ich immer die Briefe mit den Fensterchen versteckte. Papa hing da. Ich wollte schreien, doch erst als ich meine Hand ausstreckte und ihn berührte, bekam ich Luft und schrie. Ich weiß nicht mehr, wie sie meinen Vater abgeschnitten haben. Er lag auf dem Kellerboden und Oma kniete sich neben ihn. Sie schlug ihm ins Gesicht. „Du dummer Bub, du“, ihre Stimme klang nicht wütend.
Wie bei Oma Anna, wenn ich mich verletzte und sie dann sagte: „Kind, du musst doch besser aufpassen!“
Mama schüttelte mich.
„Lass mich los, du hast Schuld!“, schrie ich sie an. „Warum hast du mich nicht zu Papa gelassen!“
Mama schüttelte weiter.
„Du musst Doktor Müßig anrufen, sag ihm, dass Papa sich aufgehängt hat. Geh, lauf zu Frau Rinter!“
Ich rannte los. In meinem Kopf war es laut, wie in unserem Kinderzimmer. Wenn ich den Doktor anrufen musste, dann war Papa vielleicht gar nicht tot? Tote Menschen haben doch immer die Augen auf? Papas Augen waren beide zu gewesen. Ich zählte eins … rannte weiter. Zwei … rannte weiter … fünf Häuser; im sechsten hatte Frau Rinter ihren Getränkehandel. Sie war die einzige, die in unserer Straße ein Telefon besaß. Ich klingelte Sturm. Keiner öffnete. Vielleicht hatte sie mich gesehen und dachte, ich wollte ein Bier holen. Papa hatte mich die letzten beiden Male anschreiben lassen. Vielleicht war sie auch nicht zu Hause. Ich musste zur Telefonzelle. Bis zum oberen Dorf waren es viel mehr Häuser.
Mein Hals brannte und meine Seite tat weh, als ich außer Atem die Glastüre der Zelle aufdrückte. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich kein Geld hatte. Gegenüber der Telefonzelle war Papas Lieblingswirtschaft. Die Wirtin kannte mich. Ich würde sie fragen, ob sie mir 20 Pfennig gab.
Ich riss die Tür zum Schankraum auf. „Wo ist Frau Hirsch?“, rief ich in den Gastraum.
„Die ist oben und füttert ihren Vater, sie kommt gleich wieder“, antwortete einer der Männer, die am Stammtisch saßen.
„Bitte, ich brauche schnell 20 Pfennig für die Telefonzelle!“, schrie ich die Männer an.
„Kind, warum denn so dringend?“, fragte mich einer freundlich, während er seinen Geldbeutel aus der Hosentasche zog.
„Ich muss den Arzt anrufen, mein Papa hat sich aufgehängt.“ In meinem Kopf dröhnte es, während in der Wirtschaft Stille herrschte. Der Mann sprang auf und ging mit mir zur Telefonzelle. „Was ist mit deinem Papa, ist er tot?“, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf.
Der Mann suchte im Telefonbuch nach der Nummer. Er wählte und reichte mir den Hörer. Meine Hand zitterte, ich spürte, wie er seine Hand über meine legte.
Der Arzt versprach sofort zu kommen.
Ich glaube, ich habe mich nicht einmal bedankt. So schnell ich konnte, rannte ich zurück nach Hause. Papa war nicht tot, der Arzt konnte ihm bestimmt noch helfen. Ich betete den ganzen Weg lang. „Ein Vater unser“, ein „Gegrüßet seist du, Maria“ und dann wieder ein Vater unser …
Während ich klingelte, hielt das Auto von Doktor Müßig vor unserem Haus.
Mama öffnete die Haustür. „Geh nach oben, zu deinen Schwestern!“, ihre Stimme war leise, doch sie betonte jedes Wort, während sie mich anstarrte. Ich traute mich nicht zu widersprechen.
Meine Schwestern und ich gingen am anderen Morgen in die Schule. Wir wollten nicht zu Hause bleiben, wo Mama und Oma saßen und weinten. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass es noch nicht alle gewusst hätten. Doch als ich an diesem Morgen in den Bus einstieg, stellte sich ein Junge vor mich hin und hängte sich pantomimisch einen Strick um den Hals. Legte den Kopf auf die Seite und ließ die Zunge heraushängen. Ich setzte mich schnell auf einen freien Platz. Meine Freundin rutschte neben mich und legte den Arm um meine Schultern. „Den hat sein Vater dumm geprügelt, mach dir nichts draus!“ Tröstend streichelte sie meinen Arm.
An diesem Tag fragte mich keiner nach dem Tod meines Vaters, auch nicht an den Tagen, die folgten. Ich kann mich nicht mehr an die Beerdigung erinnern oder wann Oma wieder nach Hause reiste, um nie wiederzukommen.

Im neuen Jahr gingen Mama und ich in den Hirsch. Gleich nach der Beerdigung hatten sie Mama die Schuldscheine gezeigt. Von den vier Wirtschaften, in denen Papa Schulden gemacht hatte, wollten zwei Wirtinnen ihr Geld haben. Sie vereinbarten mit ihr, dass sie erst im neuen Jahr, zahlen musste, wenn die Beerdigung beglichen war.
Mutter riss aus einem alten Heft zwei leere Seiten; auf einer schrieb sie „Gasthaus Hirsch“ und auf die andere „Gasthaus Bruck“. Damit gingen wir an jedem Ersten im Monat zu den Wirtinnen. Mama zahlte ihnen fünf DM zurück. Sie schrieben das Datum und ihre Unterschriften darauf.
Vor ihrer Hochzeit war meine Mutter Näherin in einer Fabrik gewesen. Jetzt nahm sie Schneiderarbeiten an. Flickte Hemden, kürzte Hosen und Kleider und hatte keine Zeit mehr. Ich musste alleine in die Wirtschaften gehen. Jedes Mal druckste ich vor den Gaststätten herum, bis ich genügend Mut gesammelt hatte, um hineinzugehen. Blickte dann verschämt in die Gaststube und wenn viele Gäste an den Tischen saßen, ging ich wieder. Wartete bis weniger darin waren. Achtzehnmal.

 

Liebe @CoK,

was für eine total traurige Geschichte erwisch ich da von dir?

Ich hoffe, sie ist nicht biographisch. Chrissy tat mir unendlich leid, während ich das las und es wurde immer schlimmer. Das ist für mich auch so der Tenor dieser Geschichte: was Erwachsene alles Kindern antun, nur weil sie selbst so unfertige Menschen sind. Und das, was du schilderst, ist an seelischer Grausamkeit nicht zu überbieten. Klar spielt das alles in einer Zeit, in der Kinder einen ganz anderen Stellenwert hatten, man sehr Vieles einfach anders handhabte.
Aber liebende Eltern wissen in ihrem Inneren, was sie ihren Kindern antun, wenn sie sie instrumentalisieren, manipulieren, belügen und sie in ihrer Sorge und Angst einfach stehen lassen. Das ist nichts, was großes Wissen verlangt, das muss im Grunde nicht groß reflektiert werden, das Wort Mitgefühl für die eignen Kinder ist über alle Generationen von Eltern hinweg zeitlos. Und genau daran fehlt es hier in einer Gänze, dass mich deine Geschichte einfach nur sehr traurig macht.
Und insoweit ist dir eine sehr gute Geschichte gelungen, weil du dieses Gefühl gut rüberbringst.

Diese Stimmung ist dir also , auch wenn man anfänglich nicht so richtig versteht, wohin die Reise gehen soll, absolut gut gelungen. Wer in deiner Geschichte nicht voller Empathie für die Kinder ist, muss tatsächlich ein Eisklotz sein.

Trotzdem enthält deine Geschichte einige Teile, die mir nicht so ganz zusammen passen mögen.
Da ist schon mal der Beginn.
Sie beginnt Weihnachten. Später geht dann die Mutter ziemlich übergangslos Kartoffeln lesen. Und Chrissy sucht nach Pilzen.
Wozu das Weihnachten erwähnen? Es hat mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun.
Im Gegenteil, es verwirrt mich eher, weil ich mich genau das frage und in der Geschichte keine Antwort finde.
Ich würde daher das Weihnachtsthema komplett streichen.

Auch im übrigen alles, was mit dem Heizen zu tun hat. Auch hier habe ich mich gefragt, wozu die Autorin das nun erwähnt? Es hat auch mit dem Rest der Geschichte rein gar nichts Zusammenhängendes. Bis auf vielleicht die Tatsache, dass man eher in ärmlichen Verhältnissen lebt. Aber das erfährt man als Leser ziemlich schnell als es um diese Sache mit den blauen Umschlägen geht. Die stehen ja geradezu wie ein Fanal für die Schulden der Eltern von Chrissy.

Ich würde die Geschichte genau da beginnen lassen, wo der Vater Chrissy bittet, zu schweigen bzw. sie ihn in der Gaststätte aufsucht. Das wär für mich ein sehr passender Beginn.

Mir fällt noch eine Bemerkung zum Titel ein. Der ist zwar gutklingend, aber die Szene, in der Chrissy die Pilze alle sucht und erfolgreich eine große Menge findet, verebbt dann sofort infolge des Selbstmordes des Vaters.
Und ich habe mich gefragt, wieso dann im Titel aber so überdeutlich du das Pilzsammeln als Thema herausnimmst. Ein Titel soll ja nicht nur so spannend sein, dass der Leser unbedingt wissen will, was das für eine Geschichte ist, sondern er muss auch so gestaltet sein, dass er zur Geschichte passt. Das tut er nicht. Klar, es werden Pilze gesammelt, und klar ist auch, dass es vermutlich nie wieder so viele zu sammeln gab, wie in diesem einen Jahr, aber das Hauptthema ist das doch gar nicht.
Zum Beispiel "Blaue Umschläge" oder "Die blauen Umschläge" fände ich passend, weil sie letztendlich das Bindeglied zwischen allen Teilnehmern sind. Frau Kohler, die sie verschickt, der Vater, der sie verschwinden lässst, Chrissy, die dichthalten muss, damit er nicht auffliegt, die Mutter, die davon nichts wissen soll, aber durch Zufall doch alles erfährt, die Oma, die zur Unterstützung dazu geholt wird, der Vater, der deswegen zur Rede gestellt wird und sich dann selbst tötet. Diese Umschläge haben eine große Bedeutung in deiner Geschichte.

Brachte Mama zwanzig DM, einen Teller mit Weihnachtsplätzchen und einen roten Pullover.
Solche Bürgermeister gibt es tatsächlich? Oder ist es nur reinste Fiktion?
drei jüngeren Schwestern in einem Haus, das Vater vier Jahre zuvor gebaut hatte.
Ich habe mich gefragt, wenn er das Haus vier Jahre zuvor gebaut hatte, wieso
Die undichten Fenster ließen Kälte in die Zimmer und der Wind bewegte gruselig die Vorhänge.
es dann schon undichte Fenster hatte. Sehr seltsam. Die gehen doch nicht innerhalb von vier Jahren kaputt. Das dauert meist etwas länger, bevor neue Fenster undicht werden.
Aber, wie schon oben erwähnt, würde ich sowieso die ganzen Mitteilungen zum Winter und dem Heizen weglassen, weil sie gar nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben.
Wir mussten sparen und Papa sollte mitkommen. Ich schüttelte den Kopf und Papa bestellte trotzdem ein Bier.
Das arme Kind. Was für eine fiese Aufgabe, den Vater vom Trinken abzuhalten und dann noch standhaft sich eine Brause zu versagen, um dann mitzuerleben, dass dem Vater das alles egal ist. Das sind so diese mentalen Dinge, die man als Aussenstehender nie mitkriegt, in welchen Nöten und Bedrängnissen solche Kinder stecken. Für mich ist das eine Form von seelischem Missbrauch, der hier am Kind stattfindet.
. Papa wollte, dass ich sie vor Mama verstecke, damit sie sich nicht aufregen musste.
Auch das ist für mich Missbrauch des Kindes. Es soll etwas Verbotenes tun, das weiß das Kind genau. Und mit diesem Wunsch spaltet der Vater brutal das Kind von seiner Mutter ab, denn nun hat Chrissy doch automatisch ein schlechtes Gewissen gegenüber der Mutter, weil sie ihr etwas verheimlicht. Aber zugleich hätte sie sofort ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Vater, wenn sie sich nicht an seine Wünsche hält. Das ist ein seelischer Konflikt vom Feinsten.
Und egal, wie unwichtig das seelische Wohl der Kinder zu der damaligen Zeit auch war, dieser Vater weiß in seinem Innersten, dass er hier dem Kind etwas zumutet und es einfach nicht mehr Kind sein lässt, weil Chrissy hier wie eine kleine Erwachsene handeln muss. Aber natürlich weiß auch die Mutter genau, was sie Chrissy zumutet, indem sie sie in die Gaststätte schickt, um den Vater zu holen. Das wäre die Aufgabe der Mutter gewesen, ihren Ehemann da wegzuholen, nicht Chrissys.

Obendrein zur Krönung dann noch dieses Lügengebilde, zu behaupten, damit sich die Mutter nicht aufregen müsse, sollen die Briefe versteckt werden. Dabei ist es ja zum Teil der Vater, der der Übeltäter ist und weswegen diese Briefe erfolgen.

Damit Papa nicht mehr wütend auf mich sein konnte, habe ich mich ausgezogen und bin ins Bett gegangen.
Das beschreibst du hervorragend, dass dieses Kind nun schon Taktiken anwenden muss, um sich vor noch weiteren seelischen Übergriffen zu schützen. Das arme Kind! Die Formulierung "habe ich mich ausgezogen" würde ich allerdings ändern, in : "habe ich mein Nachthemd angezogen (oder Schlafanzug) und bin dann ins Bett gegangen."
Ich mochte das nicht, denn sie roch immer so seltsam, ein bisschen schimmelig.
Das kenn ich, lach, gut beschrieben. Seltsamerweise waren es immer diejenigen Verwandten, die dann auch noch so eklige feuchte Schmatzer verteilten, die obendrein so widerlich rochen.
geh Pilze suchen“, schlug Mama vor.
Genau hier habe ich gestutzt, weil ich mich noch im tiefsten Winter wähnte.
Irgendwie bekam ich immer schwitzige Hände, wenn ich an der Tür stand und die beiden Frauen beobachtete.
gut beschrieben, kann ich sofort nachvollziehen
gruschtelte in der Spielkiste.
das Wort gefällt mir gut, mehr davon
Ich klingelte Sturm. Keiner öffnete.
Diese Szene, wie Chrissy versucht, Hilfe zu holen, ist atemberaubend, man leidet mit ihr, fiebert mit ihr und möchte ihr so gerne helfen. Da ist sehr viel Spannung in deiner Geschichte. Gefällt mir sehr gut wie du das angegangen bist.
„Bitte, ich brauche schnell 20 Pfennig für die Telefonzelle!“, schrie ich die Männer an.
Jede Menge Hindernisse für das Kind. Gut beschrieben.
Doch als ich an diesem Morgen in den Bus einstieg, stellte sich ein Junge vor mich hin und hängte sich pantomimisch einen Strick um den Hals. Legte den Kopf auf die Seite und ließ die Zunge heraushängen.
Kinder können so grausam miteinander umgehen. Ein gut gewähltes Beispiel dafür.
Jedes Mal druckste ich vor den Gaststätten herum, bis ich genügend Mut gesammelt hatte, um hineinzugehen. Blickte dann verschämt in die Gaststube und wenn viele Gäste an den Tischen saßen, ging ich wieder. Wartete bis weniger darin waren. Achtzehnmal.
Auch wieder einmal so eine widerliche Form des Kindesmissbrauchs. Die Mutter weiß genau, wie es Chrissy ergeht, wenn sie allein in die Gaststätte gehen muss. Die Scham, überhaupt Schulden zu haben, die hat sie an Chrissy fein übertragen und dann inmitten einer Menge Leute, die alle wissen, was los ist, dann das Geld übergeben zu müssen, was löst das bloß in diesem armen Kind aus? Du beschreibst es sehr eindringlich als Scham. Und ich frage mich, was bedeutet das später für das Kind? Welche Spätfolgen trägt es davon von dieser Aktion. Und auch hier würde ich sagen, egal wie elendig anders damals man Kinder erzog und wenig auf die Gefühle der Kleinen achtete, ein liebender Elternteil weiß genau, was für eine unangenehme Situation das ist, das Geld in die Gaststätten zu tragen.


Liebe CoK, dir ist eine sehr berührende, tragische und hochtraurige Geschichte gelungen!


Lieben Gruß

lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe @lakita,

vielleicht hast du ja das Plumpsen bis nach Hamburg gehört, als mir der Stein vom Herzen gefallen ist. Ich freue mich auf jeden Fall riesig, dass du meine Geschichte gelesen und kommentiert hast.

Ich hoffe, sie ist nicht biographisch. Chrissy tat mir unendlich leid, während ich das las und es wurde immer schlimmer.
Da muss ich dich enttäuschen, sie ist biografisch. Ich hatte es irgendwann einmal erwähnt, dass ich vorhabe, die Chrissy Geschichten meinen Kindern und Enkelkindern zu hinterlassen. Um zu erklären, warum ihre Mama und Oma so geworden ist, wie sie letztlich war. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, aber ich würde es ohne dieses Forum nicht machen. Mein Wunsch ist es, die (fast) Biografie in einer guten Schreibform zu hinterlassen. Darum übe und schreibe ich hier. Das ist natürlich ohne Sicherheit, dass sie es dann später einmal lesen werden.
Sie beginnt Weihnachten. Später geht dann die Mutter ziemlich übergangslos Kartoffeln lesen. Und Chrissy sucht nach Pilzen.
Wozu das Weihnachten erwähnen? Es hat mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun.
Im Gegenteil, es verwirrt mich eher, weil ich mich genau das frage und in der Geschichte keine Antwort finde.
Ich hatte diesen Absatz auch schon später im Text, doch ich fand diese Episode als guten Einstieg. Der Bürgermeister hatte nur einen Sohn und wahrscheinlich weigerte er sich, eine Mädchenfarbe anzuziehen. Also machte man ein großherziges Geschenk an die arme Witwe. Und wir bekamen an Heiligabend Streit, weil jede den roten Pullover wollte. Mir ist dieser Absatz schon wichtig. Ich werde aber überlegen, ob ich ihn anders einbaue.
Es ist ein Beispiel für die privilegierteren Menschen.

Ich würde daher das Weihnachtsthema komplett streichen.
Darüber denke ich nach.
Auch im übrigen alles, was mit dem Heizen zu tun hat. Auch hier habe ich mich gefragt, wozu die Autorin das nun erwähnt
Es war eine Kindheit des frierens. Wenn ich shoppen, gehe, ist meine Tochter immer entsetzt: schon wieder eine Jacke.
Und ich habe mich gefragt, wieso dann im Titel aber so überdeutlich du das Pilzsammeln als Thema herausnimmst. Ein Titel soll ja nicht nur so spannend sein, dass der Leser unbedingt wissen will, was das für eine Geschichte ist, sondern er muss auch so gestaltet sein, dass er zur Geschichte passt. Das tut er nicht. Klar, es werden Pilze gesammelt, und klar ist auch, dass es vermutlich nie wieder so viele zu sammeln gab, wie in diesem einen Jahr, aber das Hauptthema ist das doch gar nicht.
Wir hatten wenig zu essen. Die Kartoffeln und Pilze waren ein großer Bestandteil davon. Da war die Freude über die vielen Pilze und dann ist sie weg. (Wie die Pilze, die wir nie gegessen haben.)


Zum Beispiel "Blaue Umschläge" oder "Die blauen Umschläge" fände ich passend, weil sie letztendlich das Bindeglied zwischen allen Teilnehmern sind. Frau Kohler, die sie verschickt, der Vater, der sie verschwinden lässst, Chrissy, die dichthalten muss, damit er nicht auffliegt, die Mutter, die davon nichts wissen soll, aber durch Zufall doch alles erfährt, die Oma, die zur Unterstützung dazu geholt wird, der Vater, der deswegen zur Rede gestellt wird und sich dann selbst tötet. Diese Umschläge haben eine große Bedeutung in deiner Geschichte.
Stimmt. Auch darüber werde ich nachdenken.

Solche Bürgermeister gibt es tatsächlich? Oder ist es nur reinste Fiktion?
Tatsache. Gab es.
Ich habe mich gefragt, wenn er das Haus vier Jahre zuvor gebaut hatte, wieso
Die undichten Fenster ließen Kälte in die Zimmer und der Wind bewegte gruselig die Vorhänge.
es dann schon undichte Fenster hatte. Sehr seltsam. Die gehen doch nicht innerhalb von vier Jahren kaputt. Das dauert meist etwas länger, bevor neue Fenster undicht werden.
Das ganze Haus war billig gebaut. Die Heizung funktionierte nicht und die Fenster waren billig und schlecht mit dem Mauerwerk verbunden.
Das arme Kind! Die Formulierung "habe ich mich ausgezogen" würde ich allerdings ändern, in : "habe ich mein Nachthemd angezogen (oder Schlafanzug) und bin dann ins Bett gegangen."
Stimmt. Habe ich geändert.
Genau hier habe ich gestutzt, weil ich mich noch im tiefsten Winter wähnte.
Ich dachte, der Leser könnte mitgehen, so als Einstieg in meine Gedankenwelt.
Ich denke nicht immer chronologisch.
Ich habe aber auch schon darüber nachgedacht, als ich es umgeändert habe, dass das so nicht funktionieren könnte.
Liebe CoK, dir ist eine sehr berührende, tragische und hochtraurige Geschichte gelungen!
Wenn sie später einmal zu einem besseren Verständnis führt, hat sie ihren Zweck erreicht.

Vielen Dank für deine Zeit und dein Lob.
Liebe Grüße CoK Ich

 

Liebe @CoK, ach, was für eine traurige Geschichte! Hatte es ja schon gefürchtet, als ich sie heute früh las, dass es wieder autobiographisch sein würde. Und hat mich an unsree Nachbarskinder erinnert, da war die Mutter ein Flüchtlingskind und der Vater fehlte, und es hieß "Krebs" und erst viel später habe ich erfahren, dass er sich erhängt hatte, bevor wir in die Straße gezogen sind. Die Kälte der "eingeborenen" Städter gegen die Witwe mit zwei kleinen Kindern und ihrer ostpreußischen Mutter, das kann man sich nicht vorstellen.
Wie alle "Chrissys" ist dein Text überzeugend, wieder ganz ehrlich in der Kindersicht, und macht dabei die Manipuationen der Erwachsenen dadurch umso sichtbarer.
Den Einstieg habe ich allerdings falsch zugeordnet. Mir war nicht klar, dass nach der Weihnachtsszene eine Rückblende kommt. Vielleicht kannst du das deutlicher machen.
Wie @lakita war ich auch überrascht, wie wenig Raum die Pilze nehmen, wann wurde die Pilzpfanne denn gegessen? Oder wurde alles weggeworfen?
Das Ende hat mich dann noch einmal ganz umgehauen: 18 Mal: das sind 90 Mark. Nur 90 Mark, um die es letztlich ging.
Ich habe keine Zitate markiert, kann aber gern noch mal auf Kommas durchkämmen.
Liebe Grüße zum Abend
Placidus

 

Liebe @Placidus,

vielen lieben Dank für dein Lesen und Kommentieren. Das ist auch eine traurige Geschichte von deinen Nachbarskindern. Ich denke, solche Schicksale gab es damals viele.

Den Einstieg habe ich allerdings falsch zugeordnet. Mir war nicht klar, dass nach der Weihnachtsszene eine Rückblende kommt. Vielleicht kannst du das deutlicher machen.
Wie @lakita war ich auch überrascht, wie wenig Raum die Pilze nehmen, wann wurde die Pilzpfanne denn gegessen? Oder wurde alles weggeworfen?
Ich überlege, wie ich das deutlicher machen kann oder den Einstieg wieder nach hinten schiebe. Die Pilze waren einfach nicht mehr da. Wie die Freude.
Ich dachte, der Leser könnte mitgehen, so als Einstieg in meine Gedankenwelt.
Ich denkt nicht immer chronologisch.
Ich habe aber auch schon darüber nachgedacht, als ich es umgeändert habe, dass das so nicht funktionieren könnte.

Das Ende hat mich dann noch einmal ganz umgehauen: 18 Mal: das sind 90 Mark. Nur 90 Mark, um die es letztlich ging.
Ja, am Anfang die zwanzig DM und am Schluss die neunzig DM, das prägt.

Ich habe keine Zitate markiert, kann aber gern noch mal auf Kommas durchkämmen.
Lieben Dank für dein Angebot, ich hoffe alles verbessert zu haben. :rolleyes:


Wünsche dir einen wunderschönen Abend
Liebe Grüße CoK

 

Liebe @CoK,

nachdem ich @Placidus Feedback gelesen habe, begreife ich, dass es sich um bei der Weihnachts- und Winterszene um eine Rückblende handeln soll.
Ich verstehe auch, dass du diese Momente gerne weiter in deinem Text lassen möchtest, aber vielleicht ist dir das an einer anderen Stelle in einer anderen Geschichte möglich. Es kommt ja letztendlich nicht so exakt auf das Jahr an, in welchem dieser rote Pullover verschenkt wurde und auch nicht, in welchem Jahr die Familie so frieren musste.
Wenn du da ein kleines bisschen von der Wirklichkeit abweichst, und diese beiden Themen, woanders hinpackst, verlieren sie ja keinesfalls ihre Bedeutung. Sie sind ja fast schon als zeitlos zu bezeichnen.

Der Bürgermeister hatte nur einen Sohn und wahrscheinlich weigerte er sich, eine Mädchenfarbe anzuziehen. Also machte man ein großherziges Geschenk an die arme Witwe.
Oh, das würde ich auf jeden Fall erwähnen, dass das die Vermutung ist, z.B. könnte die Mutter doch so etwas sagen und die Kinder, die sich eigentlich über den Pullover freuen, erleben, dass sich die Mutter gar nicht freut, weil sie z.B. völlig zu Recht sagt, es müssten, wenn schon, denn schon alle ihre Kinder einen Pullover bekommen und dann könnte sie ihre Vermutung, weshalb es nur ein Pullover ist, an die Kinder weiterreichen.
Es ist ein Beispiel für die privilegierteren Menschen.
Ja, genau deswegen würd ich es erwähnen.
Es war eine Kindheit des frierens. Wenn ich shoppen, gehe, ist meine Tochter immer entsetzt: schon wieder eine Jacke.
Verstehe ich gut. Aber eben nicht in dieser Geschichte.
Wir hatten wenig zu essen. Die Kartoffeln und Pilze waren ein großer Bestandteil davon. Da war die Freude über die vielen Pilze und dann ist sie weg. (Wie die Pilze, die wir nie gegessen haben.)
Ja, das ist mir schon absolut klar geworden. Aber wie auch Placidus schon angemerkt hat, wäre es eine Überlegung, über den Verbleib der vielen Pilze etwas zu schreiben. Ich könnte mir vorstellen, dass sie verwendet und gegessen wurden, weil man es sich nicht leisten konnte, so eine Mahlzeit verderben zu lassen. Gut möglich aber auch, dass genau das passiert ist, weil alle so fertig waren und keiner etwas essen wollte und da Pilze nicht ewig halten, mussten sie halt weggeworfen werden.
Das ganze Haus war billig gebaut. Die Heizung funktionierte nicht und die Fenster waren billig und schlecht mit dem Mauerwerk verbunden.
Das würde ich dann praktisch in einem Nebensatz erwähnen, dass das Haus schon gleich nach seiner Fertigstellung nicht dicht war und es überall durch die Fensterleibungen durchzog.

Lieben Gruß

lakita

 

Guten Morgen @lakita,

ich spüre, du hast recht. Eine der ersten Anleitungen, die ich hier im Forum gelernt habe, war der Satz: kill your Darlings. Fällt nur verdammt schwer. Ich gebe mir noch ein wenig Zeit, dann tue ich es.

Lieben Dank für deinen hilfreichen Kommentar.
Ich wünsche dir eine wunderschöne Woche.
Liebe Grüße CoK

 

Und weiter gehts in der Selberlebensbeschreibung als „nackte“ (oder „pure“) Literatur der Arbeitswelt, die ja nicht nur am Fließband, an der Werksbank, dem Schreibtisch oder … oder … besteht, sondern als Quelle des Unterhaltshalts die eigene Familie nebst Mietskaserne und selbst bei einigem angesparten Wohlstand (oder Erbes) die Wohnverhältnisse und somit das Familienleben umfasst. Mein alter Herr „musste“ – unterbrochen durch einen Weltkrieg und (immerhin „nur“) französischer Gefangenschaft - Lohn nach Hause bringen, da war weder Zeit noch Raum zur Ausbildung.

Interessant in dem Zusammenhang, die „Gute Hoffnungs Hütte“ („GHH“, welch ein verhöhnender Name!) ließ den Lohn – zumindest in meiner frühesten Erinnerung Ende der 50er Jahre im und bei gutem Wetter am „Klumpen Moritz“, also auf der Bahnhofstraße mitten in Sterkrade „öffentlich“ auszahlen … Da war der schnelle (mehr oder weniger starke) „Konsum“ geradezu vorbestimmt … (bei feuchtem Wetter natürlich in der Kneipe ...)

So viel zur „wirtschaftlichen“ Ertüchtigung durch Verschwisterung von Finanzgewerbe, Industrie und heimischer „Wirtschaft“. Erst in den 60er Jahren konnte er in der chemischen Industrie sich anlernen lassen, da übernahm aber schon die Geldwirtschaft (bei uns zB die Stadtsparkasse) die Kontrolle über Lohn- und Gehaltszahlung.

Aber an Deiner m. E. gelungenen Geschichte,

liebe CoK,

quasi die Rückseite der Literatur der Arbeitswelt, gibts mE nix zu mosern – vllt, dass gelegentlich ein ! Mehr verwendet werden kann, wie etwa bereits hier


„Grüßen Sie bitte Ihre Frau und Ihren Sohn“[!], sagte Mama, als sie ihn zur Haustüre begleitete.
Oder eindringlicher hier
„Chrissy, du bist mein bestes Mädchen. Du sagst der Mama doch nicht, dass ich noch ein Bier getrunken habe“, Papa lächelte mich an und seine Stimme klang leise und sanft.
wobei der Vater es manipulativierend fragend anbietet ...

„Wenn du keine Kartoffeln willst, geh Pilze suchen[!]“, schlug Mama vor.

However, gern gelesen vom

Friedel,

der dann doch noch aus der Erfahrung heraus, als zu Lingen sich ein Nachbar erhängte mein Schwiegervater in spe den Nachbarn wegen seines „Mutes“ bewunderte …

Für gewöhnlich stirbt man tausend Tode, bevor man sich traut, buchstäblich sein „eigener Herr“/seine „eigene Herrin“ zu sein, den letzten Schritt zu gehen.

 

Hallo @CoK,
ich hatte auch gehofft, dass die Geschichte keinen autobiografischen Hintergrund hat. Dem ist nicht so. Ich würde an der Erzählung nichts ändern. Ich sehe da keine Widersprüche.
Ich fand es auch sehr interessant, dass die Tochter so eine tiefe Verbindung zum Vater hatte, dass sie spürte, was mit ihm geschah und zu ihm wollte. Wahrscheinlich hätte sie das dann noch verhindern können. Es existieren schon unbewusste Bande zwischen Angehörigen.
Ich hatte eigentlich geglaubt, dass in den Siebzigern in der Bundesrepublik eine soziales Netz existierte, anders als bei uns im Osten, wo es keine Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Zuschüsse zu Bekleidung und Heizung gab.

In das zugige Haus Deiner Familie kann man sich gut hineinversetzen. Ich glaube, Leute, die so wie Du aufgewachsen sind, leiden bestimmt unter Sparzwang und unter einem extremen Streben nach Sicherheit. Hoffentlich bist Du wegen dieser Kindheit nicht geizig gegenüber anderen. Verstehen könnte man Dich.
Gruß Frieda

 

Lieber Friedel,

herzlichen Dank für Dein Lesen und Deinen Kommentar.

Da war der schnelle (mehr oder weniger starke) „Konsum“ geradezu vorbestimmt …
Traurig war das.

Ertüchtigung durch Verschwisterung von Finanzgewerbe, Industrie und heimischer „Wirtschaft“
Das war wohl eine WIN WIN Wirtschaft.
Aber an Deiner m. E. gelungenen Geschichte,
Lieben Dank.
Oder eindringlicher hier
Ich habe mal die Ausrufezeichen gerettet. :)

Für gewöhnlich stirbt man tausend Tode, bevor man sich traut, buchstäblich sein „eigener Herr“/seine „eigene Herrin“ zu sein, den letzten Schritt zu gehen.
Es mag wohl stimmen, dass man tausend Tode stirbt, bevor man sich traut.
mein Schwiegervater in spe den Nachbarn wegen seines „Mutes“ bewunderte …
Doch ich halte es viel bewundernswerter, wenn man nicht feige verschwindet, sondern versucht, das Leben zu meisterten.

Ich wünsche Dir noch eine schöne Woche.
Liebe Grüße CoK

Hallo @Frieda Kreuz,
lieben Dank, für Dein Lesen und Deinen Kommentar.

Ich würde an der Erzählung nichts ändern. Ich sehe da keine Widersprüche.
Das freut mich.
Doch ich bin nicht ganz zufrieden mit der Geschichte und möchte noch etwas ändern.
Wahrscheinlich hätte sie das dann noch verhindern können.
Nein, wenn ein Mensch den Entschluss gefasst hat, sich umzubringen, dann kann ihn nichts davon abhalten. (Ausnahmen sind natürlich die Menschen, die ständig damit drohen oder sich selbst verletzen als eine Art Hilferuf.)
Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oder Zuschüsse zu Bekleidung und Heizung gab.
Natürlich gab es das bei uns. Nur wenn die Väter alles vertrunken haben oder die Mütter meinten, ein Haus zu erhalten …
Aber diese Hilfen waren gering. Bei uns gab es zum Beispiel auch noch ein Armenhaus.
. Ich glaube, Leute, die so wie Du aufgewachsen sind, leiden bestimmt unter Sparzwang und unter einem extremen Streben nach Sicherheit. Hoffentlich bist Du wegen dieser Kindheit nicht geizig gegenüber anderen.
Soweit ich das sagen kann, war ich nie geizig. Ich habe das auch nie als Vorwurf bekommen.
Ich war ein Mensch, der sparsam war und ich strebte auch Sicherheit an. Doch wie so vieles in meinem Leben hat sich auch das verändert …

Ich wünsche Dir eine schöne Woche.
Liebe Grüße CoK

 

Guten Morgen @lakita,

geschafft.
„Das blaue Kuvert“ für die Überschrift hat mir sehr gut gefallen. Dann fiel mir „Abschied von Papa“ ein.
Du hattest recht, der Text wirkt jetzt in sich geschlossener.
Verständlicher.
(Ich werde mit dem gelöschten ersten Absatz meine neue Geschichte beginnen. Vielleicht gelingt es mir, Heizung und Haus, deinem Vorschlag folgend, in den nächsten Text einzubauen.)

Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende.
Liebe Grüße CoK

 

Moin @CoK,

ja, eindeutig hat deine Geschichte dadurch gewonnen und ich finde auch, dass der Teil, den du rausgenommen hast auf jeden Fall nicht verloren ist, weil du ihn für eine andere Geschichte verwenden kannst.
Dass du den Titel mit dem Vater gewählt hast, ist absolut nachvollziehbar, der ist schließlich die Hauptperson in dieser Geschichte.
Dann habe ich mit etwas Abstand nochmals über die Pilze nachgedacht und mir die Stelle angeschaut als Chrissy die der Mutter stolz bringt. Ich bin mittlerweile der Auffassung, dass du es auch dabei belassen kannst. Mir kommt auch so vor als hättest du diese Stelle noch nachgearbeitet? Wie auch immer, ich habe da meine Ansicht geändert. Es gibt im weiteren Verlauf der Geschichte keine einzige Stelle, an der es passen würde, die Pilze nochmals zu erwähnen.
Da die Familie ein furchtbares Schicksal ereilt, würde jetzt die weitere Erwähnung der Pilze die Dramatik des Vatertodes verwässern.

Gut, dass du dich von dem Anfang in deiner Geschichte getrennt hast. Ich kenne das ja auch gut, wenn mir jemand rät, dass ich mich von was trennen soll. Das fällt mir genauso schwer wie allen hier.

Lieben Gruß

lakita

 

Hallo @CoK

Die prekären Verhältnisse, in der die Familie lebt, hast du, wie ich finde, sehr eindringlich aus dem Blickwinkel des Kindes beschrieben. Das hat mir gefallen. Es ist eine Geschichte, die mich als Leser in eine Nacht mitgenommen hat, die von keinem Lichtfunken erhellt wird. Du wolltest ja ein Stückchen deiner Biografie gut schreiben und das ist dir wirklich gelungen.

Die vorige Version kenne ich nicht, aber jetzt macht die Geschichte einen runden Eindruck. Wenn es eine fiktive Kurzgeschichte wäre, würde ich sagen, das Ende müsste man früher ansetzen, zum Beispiel mit dem Weggang der Oma, aber für eine Biografie ist dieses Abbezahlen vielleicht wichtig.

Hier noch Kleinigkeiten:

„Den ganzen Nachmittag!, Mama hat mich nach draußen geschickt. Martin war im Hof und wollte mit mir in den Wald zum Schatz suchen. Ich habe nein gesagt und ihn überredet, mit mir Ball zu spielen. Wir haben Zehnerle geübt, aber die Frau Kohler ist nicht gekommen.“
Hier könntest du mehr das Mündliche betonen. Ich höre sie nicht sprechen. Zu lange Sätze.
Vielleicht so: "Mama hat mich rausgeschickt. Martin war im Hof. Er wollte mit mir im Wald Schatzsuchen spielen. Aber ich hab nein gesagt. Ich hab ihn überredet, mit mir Ball zu spielen. Dann haben wir Zehnerle geübt. Aber die Frau Kohler, die ist nicht gekommen."
Früher ging Mama zu Oma Anna, um zu reden. Doch sie war im Frühling gestorben. Als es Maipilze gab. Mama und ich haben sie unter Wacholdersträuchern und versteckt zwischen Heidegras und Silberdisteln gefunden.
Etwas missverständlich formuliert. Man könnte denken, sie finden die Oma.
Als es Maipilze gab. Die haben Mama und ich unter …
Ich betete den ganzen Weg lang. Ein Vater unser, ein gegrüßet seist du Maria und dann wieder ein Vater unser …
Ein "Vater unser", ein "Gegrüßet seist du, Maria" und ...
Sie vereinbarten mit ihr, dass sie erst im neuen Jahr, zahlen musste, wenn die Beerdigung beglichen war.
Sie hatten mit ihr vereinbart. Es ist ja eine kurze Rückblende.
Vor ihrer Hochzeit arbeitete meine Mutter als Näherin in einer Fabrik. Jetzt nahm sie Schneiderarbeiten an.
Auch hier ist wieder die vollendete Vergangenheit gefordert: ... hatte sie als Näherin in einer Fabrik gearbeitet. Das lag ja schon lange zurück und ist abgeschlossen.

Grüße
Sturek

 

Liebe @CoK ,
in dem Chrissy-Universum gibt es inzwischen viele Geschichten, auch spannende und humorvolle, wie die Schule der alten Damen. Überwiegend ist es aber eine schwere Kindheit, die du beschreibst, vor allem von so viel Armut geprägt. Und diese Geschichte hier ist bisher die Traurigste. Ich bin beeindruckt, dass du es dir gelingt, so schlimme Erinnerungen in die Form einer Kurzgeschichte zu bringen, die nicht nur für Angehörige lesenswert ist.
Du hast ja inzwischen ein paar Dinge gekürzt und ich finde das gut, z.B. die Sache mit dem Pullover wegzulassen und dass du nun direkt mit dem Thema "Vater" in die Geschichte einsteigst. Ein bisschen trauere ich aber der alten Überschrift hinterher, die ich sehr viel origineller fand. Jetzt steht als Überschrift der Inhalt der Geschichte zusammengefasst, ich warte darauf, auf welche Weise der Vater die Familie verlässt. Als ich die Geschichte zum ersten Mal gelesen habe, hat mich der Selbstmord des Vaters kalt erwischt, ich musste den nochmal lesen und dachte an das Mädchen und war schockiert. Jetzt ist man schon vorbereitet.

Wir mussten sparen und Papa sollte mitkommen. Ich schüttelte den Kopf und Papa bestellte trotzdem ein Bier.
Die Machtlosigkeit des Kindes.
Auf dem Nachhauseweg streichelte er mir über das Gesicht, „Chrissy, du bist mein bestes Mädchen. Du sagst der Mama doch nicht, dass ich noch ein Bier getrunken habe!“, Papa lächelte mich an und seine Stimme klang leise und sanft.
Papa starrte mich mit rot glänzenden Augen an. „Warst du überhaupt zu Hause und hast aufgepasst?“ Ich zuckte zusammen. Er klang laut und zornig.
Eventuell sind die fettgedruckten Sätze entbehrlich. Ich finde, du zeigst das sehr eindrucksvoll, wie der Vater in seinen Stimmungen kippt, zwei Gesichter hat und sein Wohlwollen auch an ihre Komplizenschaft gebunden ist.
Papa wühlte sich mit einer Hand durch die Haare, er zitterte dabei wie Opa.
Erste Anzeichen vom Alkoholkonsum oder Angst. Auf jeden Fall ein sehr sehr schwacher Vater, gleichzeitig bedrohlich und krank. Und du zeigst auch, wie sie ihn liebt.
Damit Papa nicht mehr wütend auf mich sein konnte, habe ich mein Nachthemd angezogen und bin ins Bett gegangen.
Hier würde ich Vergangenheit nehmen. "Damit Papa nicht mehr wütend auf mich sein konnte, zog ich mein Nachthemd an und ging ins Bett".
Weitoma nahm mich in den Arm und drückte mich. Ich mochte das nicht, denn sie roch immer so seltsam, ein bisschen schimmelig.
Oma Anna hatte nie so gerochen; sie roch nach Kuchen, Marmelade und nach Lavendel.
Irgendwie war ich die ganze Zeit mit der Frage beschäftigt, ob die Weitoma nun die Mutter der Mama oder des Papas ist. Am Ende kommt die Oma nie mehr wieder, könnte dafür sprechen, dass sie die Mutter des Vaters war.
Früher ging Mama zu Oma Anna, um zu reden. Doch sie war im Frühling gestorben. Als es Maipilze gab. Mama und ich haben sie unter Wacholdersträuchern und versteckt zwischen Heidegras und Silberdisteln gefunden.
Hier gibt es zwei Todesfälle, den einen während der Maipilze und den anderen im Frühherbst und mir gefällt "Das Jahr der Pilze", es hat so etwas Schicksalhaftes. Ich finde, es passt auch, den Abschied vom Vater in der Überschrift noch nicht zu benennen, weil es sich langsam, während des Erzählens entwickelt, so wie es manchmal ist, man fängt mit etwas ganz Harmlosen an, weil das Eigentliche noch zu schlimm ist. So ähnlich wie "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". So etwas vordergründig Harmloses, aber dahinter soviel Leid.

Als ich die Kuhweide erreichte, staunte ich. So viele Pilze hatte ich noch nie gesehen. Ich schnitt und schnitt einen Pilz nach dem anderen. Voller Begeisterung packte ich sie ein. Mama würde sich riesig freuen. Mit voller Tüte rannte ich nach Hause. Strahlend streckte ich sie ihr entgegen. Mama nahm die Pilze und legte sie auf den Herd.
Mit der Pilzsuche verbinde ich das Bemühen des Mädchens, etwas gut zu machen, hier kann sie etwas tun, ist nicht so machtlos. Und der Reichtum der Pilze in diesem Jahr steht so in Kontrast zu der materiellen Armut der Familie. Da kommt sie mit den Armen voller Pilze, war so fleißig und auch das macht es nicht gut. Die Katastrophe ist schon zu weit fortgeschritten, die Eltern haben keinen Blick mehr dafür. Das ist wirklich herzzereißend.
Folgsam gingen wir vier ins Kinderzimmer. Ich schnupperte, sogar hier roch es nach Pilzen, nach Erde und ein wenig nach Mandeln.
Irgendwie auch so irre, wie das im Leben manchmal zusammengeht, der wunderbare Geruch und das Schlimme, was zugleich passiert. Und die bittere Tatsache, dass die Kinder ja auch wirklich hungrig sind, den Duft riechen, aber nichts bekommen.
Dann kam Papa ins Kinderzimmer. Er nahm meine jüngste Schwester auf den Arm. „Tschüss, meine Kleine, bleib schön brav!“, er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sie wieder ab.
Er beugte sich zu Marie, die neben mir saß. und streichelte ihr über den Rücken. „Du musst auch brav sein, hörst du, Papa muss jetzt gehen.“
Lotte war inzwischen unters Bett gekrochen. Papa zog sie hervor und sie begann zu weinen. „Du brauchst doch keine Angst zu haben. Ich will mich nur von dir verabschieden.“
Unvorstellbar, dass er das so tun konnte, sich so verabschieden und auch dass er sich danach umbringen konnte. Ich glaube, das versteht man nie.
Sie drückte die Türe zu und schloss ab. Weil ich fürchterliche Angst hatte, begann ich zu schreien: „Lass mich raus!“ I
„Mama!“, rief ich, „Mama, bitte mach doch auf, Anna hat in die Hose gemacht!“
Ich lauschte, sie kam aus der Küche und schloss auf.
Hier war ich im Nachhinein irgendwie irritiert, weil es mir doch wenig Zeit vorkam, bis sie zu ihm in den Keller läuft. Das wirkte wie wenige Minuten, in denen er seinen Plan umsetzte. Ich finde es beeindruckend, wie genau du dich sonst an all das Schmerzliche erinnerst, aber hier wirkt es, als ob da ein Stück fehlt.
In den Raum, in dem ich immer die Briefe mit den Fensterchen versteckte. Papa hing da. Ich wollte schreien, doch erst als ich meine Hand ausstreckte und ihn berührte, bekam ich Luft und schrie.
So klein der Satz, dass man ihn fast überliest. Ich habe überlegt, ob er einen eigenen Absatz bekommen sollte, aber du schreibst sonst so wenig pathetisch, vielleicht ist es so auch genau richtig.

Sie schlug ihm ins Gesicht. „Du dummer Bub, du“, ihre Stimme klang nicht wütend.
Wie bei Oma Anna, wenn ich mich verletzte und sie dann sagte: „Kind, du musst doch besser aufpassen!“
Chrissy hört sehr genau hin, wie Stimmen klingen. Man merkt, dass sie darauf angewiesen ist, die Erwachsenen lesen zu können. Und wieder überlege ich, ob man den Satz auch weglassen könnte, weil du es danach noch zeigst, wie sie klingt.
Mama schüttelte mich.
„Lass mich los, du hast Schuld!“, schrie ich sie an. „Warum hast du mich nicht zu Papa gelassen!“
Mama schüttelte weiter.
Ein schweres Mutter-Tochter-Thema. So verständlich von dem Kind und man fühlt mit der Mutter.
Ich klingelte Sturm. Keiner öffnete. Vielleicht hatte sie mich gesehen und dachte, ich wollte ein Bier holen. Papa hatte mich die letzten beiden Male anschreiben lassen.
Alles so feine Details, wo du zeigst, wie sie die Motive der Erwachsenen vermutet. Die Scham, dass der Vater Schulden hat zieht sich so durch.
„Ich muss den Arzt anrufen, mein Papa hat sich aufgehängt.“ In meinem Kopf dröhnte es, während in der Wirtschaft Stille herrschte. Der Mann sprang auf und ging mit mir zur Telefonzelle. „Was ist mit deinem Papa, ist er tot?“, fragte er mich.
Ich schüttelte den Kopf.
Da ist man ganz dicht dran.
Meine Hand zitterte, ich spürte, wie er seine Hand über meine legte.
Auch so ein feines Detail, dass so berührt. Du machst das Erleben dieses Kindes sehr spürbar.
Ich glaube, ich habe mich nicht einmal bedankt.
Ein Kind, das immer versucht, alles richtig zu machen.
Doch als ich an diesem Morgen in den Bus einstieg, stellte sich ein Junge vor mich hin und hängte sich pantomimisch einen Strick um den Hals. Legte den Kopf auf die Seite und ließ die Zunge heraushängen.
Wie ungeheuer hart diese Schulwelt ist.
Tröstend streichelte sie meinen Arm.
An diesem Tag fragte mich keiner nach dem Tod meines Vaters, auch nicht an den Tagen, die folgten. Ich kann mich nicht mehr an die Beerdigung erinnern oder wann Oma wieder nach Hause reiste, um nie wiederzukommen.
Die Zeit, in der keiner auf die Idee kam, dass ein Kind hier Hilfe braucht.
Blickte dann verschämt in die Gaststube und wenn viele Gäste an den Tischen saßen, ging ich wieder. Wartete bis weniger darin waren. Achtzehnmal.
Das Bittere ist hier, dass die Scham ganz bei dem Kind liegt. Dabei sind es eigentlich die Erwachsenen, die sich schämen müssten. Vor allem finde ich die Chrissy unglaublich tapfer und stark, wie sie sich durch diese schlimme Zeit kämpft und immer das tut, was nötig ist. Davon findet sich vielleicht noch etwas in der Beharrlichkeit, mit der du dein Schreibprojekt verfolgst.

Liebe Grüße von Chutney

 

Guten Morgen @Sturek,

entschuldige, dass ich dir erst jetzt auf deinen Kommentar antworte, ich war das Wochenende über auf einem Seminar. Es ist dein erster Kommentar auf eine Geschichte von mir und ich habe mich gefreut, dass du dir die Zeit genommen hast, sie zu lesen und zu korrigieren.

Die prekären Verhältnisse, in der die Familie lebt, hast du, wie ich finde, sehr eindringlich aus dem Blickwinkel des Kindes beschrieben. Das hat mir gefallen.
Ich freue mich, dass es mir gelungen ist, diese Zeit nach fühlbar wiederzugeben. Schön, dass du mir geschrieben hast, dass es dir gefallen hat.
Hier könntest du mehr das Mündliche betonen. Ich höre sie nicht sprechen. Zu lange Sätze.
Vielleicht so: "Mama hat mich rausgeschickt. Martin war im Hof. Er wollte mit mir im Wald Schatzsuchen spielen. Aber ich hab nein gesagt. Ich hab ihn überredet, mit mir Ball zu spielen. Dann haben wir Zehnerle geübt. Aber die Frau Kohler, die ist nicht gekommen."
Habe ich gerne so übernommen.
Ein "Vater unser", ein "Gegrüßet seist du, Maria" und ...
Auch hier habe ich es verbessert.
Sie hatten mit ihr vereinbart. Es ist ja eine kurze Rückblende.
Auch hier ist wieder die vollendete Vergangenheit gefordert: ... hatte sie als Näherin in einer Fabrik gearbeitet. Das lag ja schon lange zurück und ist abgeschlossen.
Ich habe keine Hippopotomonstrosesquippedaliophobie (ich wollte das Wort einmal schreiben:)), aber Angst vor dem kurzen Wörtchen „hatte“. Ich möchte es nicht so oft verwenden und entschuldige, dass ich hier noch nichts geändert habe. Aber vielleicht hat jemand einen guten Tipp für mich, wie ich es ändern könnte, ohne „hatte“zu schreiben.

Ich wünsche dir eine schöne Woche.
Liebe Grüße CoK

entschuldige bitte, dass ich deinen Kommentar nicht zeitnah beantwortet habe; ich war auf einem Seminar. Es freut mich sehr, dass du meinen Text gelesen hast, da ich deine Kommentare sehr schätze.

Ein bisschen trauere ich aber der alten Überschrift hinterher, die ich sehr viel origineller fand.
Ich auch. Vielleicht ändere ich es wieder, bin verunsichert.
Die Machtlosigkeit des Kindes.
Immer wieder.
Eventuell sind die fettgedruckten Sätze entbehrlich. Ich finde, du zeigst das sehr eindrucksvoll, wie der Vater in seinen Stimmungen kippt, zwei Gesichter hat und sein Wohlwollen auch an ihre Komplizenschaft gebunden ist. Auf dem Nachhauseweg streichelte er mir über das Gesicht, „Chrissy, du bist mein bestes Mädchen. Du sagst der Mama doch nicht, dass ich noch ein Bier getrunken habe!“, Papa lächelte mich an und seine Stimme klang leise und sanft.
Viel zu selten klang diese Stimme so, deshalb möchte ich das betonen und stehen lassen. Beim zweiten Fettgedruckten habe ich deinen Vorschlag übernommen und es gelöscht.
Erste Anzeichen vom Alkoholkonsum oder Angst. Auf jeden Fall ein sehr sehr schwacher Vater, gleichzeitig bedrohlich und krank. Und du zeigst auch, wie sie ihn liebt.
Ja.
Hier würde ich Vergangenheit nehmen. "Damit Papa nicht mehr wütend auf mich sein konnte, zog ich mein Nachthemd an und ging ins Bett".
Dankeschön, auch das habe ich übernommen.
Irgendwie war ich die ganze Zeit mit der Frage beschäftigt, ob die Weitoma nun die Mutter der Mama oder des Papas ist. Am Ende kommt die Oma nie mehr wieder, könnte dafür sprechen, dass sie die Mutter des Vaters war.
Früher ging Mama zu Oma Anna, um zu reden. Doch ihre Mutter war im Frühling gestorben. Als es Maipilze gab.
Du hast recht. In einer früheren Version hatte ich das deutlicher geschrieben. Ich habe das jetzt wieder so übernommen. Für meine Mutter war das natürlich ein Jahr unsäglichen Schmerzes.
Hier gibt es zwei Todesfälle, den einen während der Maipilze und den anderen im Frühherbst und mir gefällt "Das Jahr der Pilze", es hat so etwas Schicksalhaftes. Ich finde, es passt auch, den Abschied vom Vater in der Überschrift noch nicht zu benennen, weil es sich langsam, während des Erzählens entwickelt, so wie es manchmal ist, man fängt mit etwas ganz Harmlosen an, weil das Eigentliche noch zu schlimm ist. So ähnlich wie "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". So etwas vordergründig Harmloses, aber dahinter soviel Leid.
Mir ist dieses Buch auch eingefallen.
Irgendwie auch so irre, wie das im Leben manchmal zusammengeht, der wunderbare Geruch und das Schlimme, was zugleich passiert. Und die bittere Tatsache, dass die Kinder ja auch wirklich hungrig sind, den Duft riechen, aber nichts bekommen.
Ich habe diesen Geruch genossen. Für mich war es einer der liebsten Gerüche meiner Kindheit.
Unvorstellbar, dass er das so tun konnte, sich so verabschieden und auch dass er sich danach umbringen konnte. Ich glaube, das versteht man nie.
Ich weiß nicht. Du hast ihn zu Recht als schwachen Menschen bezeichnet. Es gab eine Zeit da habe ich wirklich gedacht, für uns war es besser so.
Hier war ich im Nachhinein irgendwie irritiert, weil es mir doch wenig Zeit vorkam, bis sie zu ihm in den Keller läuft. Das wirkte wie wenige Minuten, in denen er seinen Plan umsetzte. Ich finde es beeindruckend, wie genau du dich sonst an all das Schmerzliche erinnerst, aber hier wirkt es, als ob da ein Stück fehlt.
Ich habe das genauso empfunden. Es ging unfassbar schnell.
So klein der Satz, dass man ihn fast überliest. Ich habe überlegt, ob er einen eigenen Absatz bekommen sollte, aber du schreibst sonst so wenig pathetisch, vielleicht ist es so auch genau richtig.
Auch deshalb kein Absatz, weil es tatsächlich so schnell ging.
Chrissy hört sehr genau hin, wie Stimmen klingen. Man merkt, dass sie darauf angewiesen ist, die Erwachsenen lesen zu können. Und wieder überlege ich, ob man den Satz auch weglassen könnte, weil du es danach noch zeigst, wie sie klingt.
Als Kind hast du die Erwartung, wenn dir ins Gesicht geschlagen wird, dass da jemand zornig ist. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass es nicht so war.
Ein schweres Mutter-Tochter-Thema. So verständlich von dem Kind und man fühlt mit der Mutter.
Unbedingt.
Ein Kind, das immer versucht, alles richtig zu machen.
Tja.
Wie ungeheuer hart diese Schulwelt ist.
In unserer Straße gab es kaum ein Haus, in dem nicht geprügelt wurde. Dieser Junge liebte es, andere zu quälen …, ich erinnere mich daran, wie er mit der Leine seinen Hund schlug. Der Hund jaulte fürchterlich, ich ging dazwischen. Dann habe ich die Prügel abbekommen.
Empathie hat man diesen Kindern ausgeprügelt.
Die Zeit, in der keiner auf die Idee kam, dass ein Kind hier Hilfe braucht.
Ja, leider. Wenn man mir damals geholfen hätte, wäre mein Leben anders verlaufen.
Davon findet sich vielleicht noch etwas in der Beharrlichkeit, mit der du dein Schreibprojekt verfolgst.
Sicher. :)

Herzlichen Dank für deine Zeit, deine Korrektur und deinen freundlichen Kommentar.

Ich wünsche dir eine schöne Woche.
Liebe Grüße und CoK

 

Vor ihrer Hochzeit arbeitete meine Mutter als Näherin in einer Fabrik. Jetzt nahm sie Schneiderarbeiten an. Flickte Hemden, kürzte Hosen und Kleider und hatte keine Zeit mehr.
Auch hier ist wieder die vollendete Vergangenheit gefordert: ... hatte sie als Näherin in einer Fabrik gearbeitet. Das lag ja schon lange zurück und ist abgeschlossen.
Ich habe keine Hippopotomonstrosesquippedaliophobie (ich wollte das Wort einmal schreiben:)), aber Angst vor dem kurzen Wörtchen „hatte“. Ich möchte es nicht so oft verwenden und entschuldige, dass ich hier noch nichts geändert habe. Aber vielleicht hat jemand einen guten Tipp für mich, wie ich es ändern könnte, ohne „hatte“zu schreiben.

Mein Vorschlag: "Vor ihrer Hochzeit war meine Mutter Näherin in einer Fabrik gewesen."

Liebe Grüße von Chutney :)

 

Lieben Dank @Chutney für den Vorschlag, habe ihn sehr gerne übernommen.

Grüße von der schwäbischen Alb.
CoK

 

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