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Das Lbn dr Spfrdchn
E war erschöpft. Er hatte sich überanstrengt. Im ganzen Alphabet gab es keinen Buchstaben, der so viel und so hart arbeitete, wie E. An manchen Tagen musste er bis spät in die Nacht dafür sorgen, dass in allen Büchern und Zeitschriften, in allen Zeitungen und Werbekatalogen, in allen Briefen und Emails an den richtigen Stellen ein E oder ein e stand. Und E oder e tauchen sehr, sehr häufig in unseren Wörtern auf. Das merkt man sofort, wenn man versucht einen langen und sinnvollen Satz zu schreiben, in dem überhaupt kein E vorkommt. Natürlich könnte man schreiben: „Das Boot sank langsam.“ Oder „Das Blaukraut roch gut.“ Aber sowie man eine vernünftige Geschichte schreiben will, braucht man das E - unbedingt!
Deshalb stand E morgens noch vor dem Morgengrauen auf und ging zur Arbeit, und abends kam es oft erst nach Hause, wenn die Sterne schon lange am Himmel standen. Schlafmangel und ungesunde Ernährung führten dazu, dass E anfällig für jede noch so kleine Krankheit wurde und so verkühlte er sich eines Tages, als er im Morgennebel eilig zur Arbeit lief. Obwohl er sich schwach und fiebrig fühlte, erledigte er seine Aufgaben gewissenhaft und fiel am Abend ohne Abendbrot todmüde ins Bett. Am nächsten Morgen überhörte er den Wecker und erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sein Kopf schmerzte und als er sich aufsetzen wollte, wurde ihm schwarz vor Augen. E hatte sich ziemlich doll erkältet. Er sank zurück in seine Kissen und schlief wieder ein.
In der großen Druckerei am Ort wurde gerade ein dickes Buch über das Leben der Seepferdchen gedruckt. Alle Buchstaben arbeiteten angestrengt und zunächst bemerkte niemand, dass E fehlte. Doch dann nahm der Druckereidirektor die erste Seite des Buches in die Hand, um einen letzten prüfenden Blick darauf zu werfen. Fassungslos las er: „Das Lbn dr Spfrdchn. Spfrdchn lbn am Mrsgrund. Si ssn grn Plankton.“ Ohne ein Wort zu verstehen blickte er auf.
„Verflixt und zugenäht!“, brüllte er wütend.
Die Buchstaben zitterten vor Schreck. X, der gerade über einen Witz von Q gelacht hatte, verschluckte sich und begann zu husten.
„Was ist denn los?“, fragte W verdutzt.
„WER HAT DIESEN CHINESISCHEN TEXT HIER VERFASST?“, schrie der Direktor.
„Chinesisch? Wieso chinesisch?“, fragten die Buchstaben. „Wir haben deutsch geschrieben, wie sonst auch.“
„Deutsch?“, tobte der Direktor. „Spfrdchn? – Mrsgrund? Was soll das sein?“
Die Buchstaben waren total erstaunt.
„So etwas Komisches steht da?“ Keiner wusste, was passiert war. Sie hatten sich doch alle an die richtigen Stellen in den Wörtern gestellt, so wie immer. Was war da bloß geschehen?
Plötzlich wusste X die Antwort:
„E fehlt! Schaut mal, wenn man bei dem Wort Spfrdchn viermal das E an den richtigen Stellen einsetzt, dann stimmt alles. Dann heißt es nämlich „Seepferdchen“!“
„Ach! – Und wo ist er, unser E?“ Der Direktor war immer noch wütend. Es stellte sich heraus, dass niemand E heute gesehen hatte.
„Er fehlt!“, rief B. „Es wird ihm doch nichts passiert sein?“
Niemand konnte sich vorstellen, dass E seine Kollegen absichtlich im Stich gelassen hatte. Das gesamte Alphabet sorgte sich.
In wildem Lauf galoppierten deshalb alle Buchstaben, gefolgt vom Direktor, zu E’s Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen.
Dort war es ganz still. Alle kletterten sie aufeinander und übereinander, um ihre Ohren an die Wohnungstür pressen zu können. Was hörten sie? War E zu Hause? Lebte er noch?
„Da drinnen stöhnt jemand!“, flüsterte A voller Angst.
„Und ich höre ein Seufzen!“, sagte U.
„Das ist E!“, stammelte I. „Ich kenne seine Stimme. Ich stehe ja öfter neben ihm.“
„Was sagt er denn?“, wollte T wissen.
„Pst!“, wisperte P. „Ich kann ihn verstehen – er – er sagt – „Eisbär, geh weg!“ - und – „Nein! – Ich mag keine Himbeergrütze!““
„Eisbär? Himbeergrütze? – E ist verrückt geworden!“, riefen die Buchstaben. „Wie schrecklich!“
„Beruhigt euch“, unterbrach der Direktor sie. „Ich glaube, E spricht im Fieber. Er fantasiert. Lasst uns hinein gehen und nach ihm sehen.“
Leise öffneten die Buchstaben die Wohnungstür. Auf Zehenspitzen schlichen sie in das Schlafzimmer. Schließlich standen sie alle in einem großen Kreis um E’s Bett: V T S M L O P Q U X R B A C D F H I G J K N W Y Z.
E atmete schwer. Schweißperlen standen auf seiner Stirn und er murmelte im Fieberschlaf. Die Worte „Eisbär“ und „Himbeergrütze“ waren immer wieder zu hören.
„Dachte ich’s mir doch!“, sagte der Direktor. „Fieberträume. Unser E ist wirklich krank. Da kann er natürlich nicht arbeiten. Er muss gesund gepflegt werden!“
Der Direktor schloss die Druckerei für einige Tage und half den Buchstaben, den Kranken zu pflegen. Dank der liebevollen Zuwendung erholte E sich rasch. Bald schon kam er wieder zu Kräften und hatte auch einen gesegneten Appetit. Am liebsten aß er das Erdbeergelee, das R, D, B, G und L gemeinsam kochten.
Nach einer Woche konnte E seine Arbeit wieder aufnehmen. Endlich wurden wieder Bücher und Zeitschriften gedruckt und die Menschen konnten neue Geschichten lesen.
Das erste Buch, an dem der gesunde E mitarbeitete, hatte den Titel „Das Leben der Seepferdchen.“
Die vorgegebenen Wörter waren: Eisbär, Himbeergrütze, Morgennebel, lachen, erkältet