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Das letzte Bier

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15.12.2002
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Das letzte Bier

Das letzte Bier

Edgar haßte es schon, wenn jemand tagsüber auf einer belebten Straßen ein paar Schritte hinter ihm war und immer den gleichen Abstand hielt. Aber jetzt? Zwischen Nacht und Morgen in dieser menschenleeren Straße? Edgar ging nicht davon aus, das der andere etwas von ihm wollte. Er war nicht sonderlich ängstlich. Nicht im eigentlichen Sinn. Aber es machte ihn wahnsinnig, daß jemand hinter ihm ging und ihn so sehen konnte. Auch nach zwei Stunden durch die Straßen laufen schlug sein Herz immer noch bis zum Hals und das Zittern war so stark geworden, daß er seine unkontrollierbaren Hände zu Fäusten geballt in die Hosentaschen gestemmt hatte. Sei Blutdruck mußte sich inzwischen in einer Größenordnung bewegen, die ausreichend war, ihm ein Kabel in den Arsch zu stecken um eine Kleinstadt mit Strom zu versorgen. Warum haute der Kerl hinter ihm nicht ab?
Edgar stellte sich vor ein hell erleuchtetes Schaufenster, kramte die Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und zündete sich mit seinen unruhigen Finger eine davon an. Sein Verfolger lachte, als er an ihm vorbei ging. Hatte er die zittrigen Hände bemerkt und darüber gelacht? Sah man ihm an, was mit ihm los war? Wohl doch nicht. Edgar hatte nicht bemerkt, daß er, um den lästigen Schatten passieren zu lassen, sich vor eine Auslage mit Dessous gestellt hatte. Egal, er war ihn los.
Es fing an zu nieseln. Was sollte er tun? Zuhause hatte er noch irgendwo ein paar Schlaftabletten. Ohne Rezept zu bekommen, also ohne nennenswerte Wirkung. Schlafen würde er auch damit nicht können, aber vielleicht das Zittern ein wenig dämpfen. "Für jemanden wie Sie ist es hochgefährlich auf Medikamente umzusteigen," hatte dieser Assistenzarzt ihn bei seinem letzten Krankenhausaufenthalt gewarnt. Wie lange war er jetzt aus dem Krankenhaus raus? Nicht mal ein halbes Jahr. Und das war seitdem sein vierter oder fünfter Absturz. Es lief immer nach dem gleichen Muster ab. Wenn er das Heulen und Zähneklappern überstanden und ein paar Tage nichts getrunken hatte, kam der Appetit wieder, der Dauerdurchfall und das allmorgendliche Trockenkotzen verschwanden und die Depressionen verdrückten sich ins Unterbewußtsein. Aber auch die Welt veränderte sich. Sie hatte keine Farben mehr. Sie wurde blaß. Seine persönliche Bestzeit im trocken sein war im letzten halben Jahr zwei Wochen gewesen. Dann tauchte dieser einleuchtende Gedanke in seinem Hirn auf, daß es doch möglich sein muß ein Bier zu trinken. Oder zwei. Mehr als vier Halbe war nicht gut, das wußte er. Und das machte er dann auch. Nach den vier Halben schlief er besser als in den Wochen davor. Und am nächsten Morgen ging er wie von einem Magneten gezogen zu Penny und frühstückte ein Sechserpack.
Der Regen war stärker geworden. Ihm wurde kalt. Wenn zu dem Zittern des Entzuges noch Zittern durch Kälte kam, würde er sozusagen stereo zittern. Vielleicht müßte er wirklich wieder ins Krankenhaus. Ihm graute vor dem Gedanken. Diese fabelhaften Therapeuten, die über ein unerschöpfliches Reservoir exorbitanter Allgemeinplätze verfügten, die Berichte der Patienten, die nur tranken, weil Mama zuhause so schwierig war und die Heiligenscheinträger von den anonymen Alkoholikern, die aufgrund ihrer spirituellen Entwicklung vom Säufer zum Täufer jeden in Grund und Boden missionieren mußten. Nein, noch mal ins Krankenhaus kam nicht in Frage.
Noch ein paar Schritte bis zur Haustür. Edgar kramte den Schlüssel aus der Hosentasche und versuchte ihn ins Schloß zu stecken. Er rutschte ab. Es gelang ihm nicht seine Hand ruhig zu halten. Er spannte sämtliche Muskeln an, atmete tief ein und ganz langsam aus. Zweiter Versuch. Er rutschte wieder ab. Es war so, als ob der Schlitz vor dem Ding auswich. Wie damals bei ihm und Gabi. Er lehnte sich an die Hauswand. Ich bin ganz ruhig Ich bin vollkommen ruhig. Ich bin ruhig, gelassen und heiter. Heiter? Okay, er nahm den Schlüssel in beide Hände. Im Treppenhaus ging das Licht an. Durch die halbverglaste Tür fiel sein Blick auf die Reihe von Briefkästen. Seiner war der dritte auf der linken Seite. Und der war sichtlich voll. Wann hatte er das letzte Mal in seinen Briefkasten geschaut? Wozu auch, er konnte sich denken, was da auf ihn wartete. Seine Bank würde in nicht mehr freundlichem Ton einen Ausgleich seines Kontostandes verlangen und sein Vermieter in ähnlicher Deutlichkeit nach der Miete fragen, die seit geraumer Zeit nicht mehr überwiesen worden war. Scheißrealität. Ein Schatten tauchte im Treppenhaus auf. Wer rennt hier denn um diese Zeit rum? Egal, Edgar wollte so nicht gesehen werden. Viel Kontakt zu seinen Nachbarn hatte er nicht und was sie von ihm hielten interessierte ihm auch nicht sonderlich. Obwohl die sich wahrscheinlich schon Gedanken darüber machten, die Ursache für diesen umfangreichen Anteil an leeren Bierdosen im Müll war.
Er drehte sich um und ging die Straße entlang, wobei er den Eindruck zu erwecken versuchte ein Ziel zu haben. Als er das Öffnen der Tür hörte, war er schon etliche Meter entfernt. Er schaute nicht nach hinten, auch nicht, als, wer immer das auch war, die gleiche Richtung wie er einschlug. Bitte nicht noch einen Verfolger. Er überquerte die Straße, rechts an der Apotheke vorbei und unter der Brücke durch. Er hatte ihn abgehängt. Ungefähr vierhundert Meter geradeaus, das war ein Weg, den er sehr gut kannte. Er war ihn in den letzten Nächten oft gegangen. Es war der Weg zu Tankstelle. Rund um die Uhr geöffnet. Bier zu völlig überhöhten Preisen. Wenn er jetzt ein Bier trinken würde, müßten seine Hände zumindest so ruhig werden, daß er diese Scheißtür aufkriegte. Ein Bier, dann nach Hause, zwei von diesen funktionsuntüchtigen Schlaftabletten nehmen und dann vermutlich ein paar Stunden in seiner Bruchbude auf und ab marschieren und Selbstgespräche führen.
Die rotgelbe Beleuchtung der Tankstelle spiegelte sich auf dem regennassen Asphalt und tauchte die ganze Szenerie in ein unwirkliches Licht. Er konnte schon von weitem erkennen, daß dieser kleine pummelige Pakistani heute nacht wieder hinter der Glasscheibe saß und sich die Zeit vor seinem Miniaturfernseher vertrieb. Edgar war einer der wenigen Kunden, die um diese Zeit zum Tanken kamen. An der wie immer offen stehenden Tür prangte ein Hinweisschild, daß diese Tür aus Sicherheitsgründen zwischen 22.00h und 6.00h verschlossen bleiben mußte und man seine Wünsche an dem panzerglasgesichertem Schalter außen kundtun sollte.
Das Kühlregal war voll mit allen gängigen Biersorten. Wenn das jetzt das letzte Bier seines Lebens sein sollte, könnte er ja mal eine bessere Marke nehmen als sonst. Das billigst hatte er zwar nie gekauft, aber die edleren waren ihm immer zu teuer gewesen. Er entschied sich für ein skandinavisches Starkbier, riß den Bügel auf und nahm einen tiefen Zug. Der Tankwart sah zu ihm hinüber, überlegte einen Moment, ob er nicht protestieren sollte, da dieser Kunde eine Ware verbrauchte, die er noch nicht bezahlt hatte, entschied sich nach kurzer innerer Klärung dazu doch nicht ausreichend deutsch für einen solchen Konflikt zu sprechen und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Edgar nahm einen zweiten Schluck. Die Flüssigkeit in seinen Adern wurde wieder zu Blut. In der Dose war nur noch ein winziger Rest. Edgar kippte ihn runter und warf die Dose auf zwei Meter Entfernung, vielleicht zweieinhalb, in den Abfalleimer. Reife Leistung, wenn man bedenkt, daß er vor einer Viertelstunde nicht einmal einen Schlüssel in ein Schloß gekriegt hatte. Diese skandinavischen Biere waren gar nicht so schlecht. Neben diesen nordmännischen Getränken reihten sich andere Meisterwerke der Braukunst mit eindrucksvollen Klassifikationen wie Pilsener, Bock und Weizen. Doppelbock gibt es auch, das war ja interessant. Edgar entschied sich für ein Ensemble aus Pils und Bock und stapelte fünf Dosen auf seinem Unterarm, als er hinter sich eine Stimme hörte.
"Hände noch! Dies ist ein Überfall!"
Der Tankwart erhob sich verblüfft von seinem Hocker und stellte den Fernseher leiser. Edgar wandte sich um und erblickte hinter sich ein kleines Männchen mit einer Sturmhaube oder wie die Dinger heißen über das Gesicht gezogen, eine riesige Pistole abwechselnd auf ihn und den Tankwart richtend.
"Wenn ich die Hände hoch nehme, fallen die Dosen runter."
Der Winzling mit der kleiner-Mann-ganz-groß Pistole schien diese Argumentation einen Moment zu überdenken, fand dann eine passable Reaktion.
"Hinstellen! Abstellen, oder ich knall Dich ab!"
"Schieß doch, Du Affe. Ich häng nicht am Leben." Edgar war diese Bemerkung eigentlich nur so rausgerutscht Aber wenn er es recht bedachte, war das gar nicht so verkehrt. Was hatte er denn schon vom Leben? Es war doch sowieso alles verpfuscht. Der Hutzelwicht senkte die Pistole und schien sich irgend etwas durch den Kopf gehen zu lassen, riß dann die Knarre wieder hoch und richtete sie auf den Pakistani. Vielleicht war er auch Inder.
"Das Geld her! Hier rein." Er griff sich eine Plastiktüte, von denen ein Stapel neben der Kasse lag und knallte sie vor den Pakistani oder Inder auf den Tresen. Der war in den letzten Augenblicken eigentlich nicht unzufrieden damit gewesen, nicht im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Er riß die Kasse auf und stopfte Banknoten in die Tüte und warf Edgar dabei einen vorwurfsvollen Blick zu. Der hatte Probleme damit die Bierdosen weiterhin auf seinem Unterarm zu balancieren und stellte vier davon behutsam in ein Regal mit Schokoriegeln. Von der fünften riß er den Bügel ab und nahm einen Schluck. Am besten ist es nicht geboren zu werden, hatte einer der alten Griechen gesagt. Aber wenn man schon geboren ist, sollte man das Beste daraus machen. Aber welche Chancen hatte Edgar denn noch? Zwar war er sicherlich kein richtiger Alkoholiker, aber viele Wege standen ihm nicht mehr offen. Er hatte zu vieles falsch gemacht. Er hatte sich im Leben nie darum bemüht einen Platz zu finden. Er hatte alle anderen vorgelassen und sich selber vorgelogen, daß das Toleranz sei. Er hatte nie um etwas gekämpft, weil es in dieser Scheißwelt nichts gab, worum es sich zu kämpfen lohnte. Selbst in dieses beknackten Tankstelle, in der er nichts anderes wollte als Bier kaufen, tauchte so ein Aushilfskomiker mit einem Ballermann auf und hinderte ihn daran. Es reichte. Endgültig. Edgar leerte die Dose in einem Zug, nahm die anderen vier und ging zur Kasse.
"Stehenbleiben, oder ich schieße!" Der Zwerg nahm die Waffe in beide Hände und streckte sich Edgar entgegen.
"HALT DIE FRESSE ODER ICH KLOPP SIE DIR ZU!" Edgar war es erst. "Ob Du hier den Laden überfällst oder in Remscheid ist Seniorentanz. Es interessiert mich nicht! Ich war vor Dir hier und werde auch vor Dir bedient!" Er stopfte die vier Dosen in eine Tüte und sah den pakistanischen Inder oder indischen Pakistani an.
"Mit den beiden anderen sechs Euro achtzig." Er schien froh zu sein wieder seiner Arbeit nachgehen zu können. Edgar griff in die hintere Hosentasche, zückte seine Brieftasche, scheiße, es war sein letzter Schein, und zahlte. Er steckte das Wechselgeld ein, nickte dem Tankwart, vielleicht auch ein Tamile, zu, ignorierte den Räuber inzwischen völlig und ging.
Die Haustür ließ sich problemlos öffnen. Vorbei am apokalytpischen Briefkasten nach oben. Seine Wohnungstür ließ nicht öffnen, obwohl seine Hände jetzt die ruhigsten der Welt waren. Nachdem er realisiert hatte, daß er nicht war seiner Wohnungstür, sondern bei Bader einen Stock tiefer am Türschloß rumfuhrwerkte, löste sich aber auch dieses Problem. Endlich angekommen packte er die Tüte auf den Küchentisch, setzte sich und freute sich auf die vier Bier.
Er lehnte sich zurück, stecke sich eine Zigarette an und griff in die Tüte. Seit wann rascheln Bierdosen? Etwas tiefer in der Tüte stieß seine Hand auf Papier. Was war das denn? Verblüfft starrte er auch die Hand voll Banknoten. Er hatte die Tüte mit der Beute mitgenommen.
Tja, so war das damals.

 

Hi,
am Anfang kam mir die Geschichte ein wenig langatmig vor. Doch das Ende gefiehl mir. Obwohl ich die Pointe schon in der Tankstelle geahnt habe.
Insgesamt also recht gut. :)
Aber:

daß er seine unkontrollierbaren Hände zu Fäusten geballt
Unkontrolierbare Hände hört sich irgendwie seltsam an.
Selbst in dieses beknackten Tankstelle,
s durch r ersetzen
daß er nicht war seiner Wohnungstür, sondern bei Bader
vor seiner Wohnungstür, oder?
Verblüfft starrte er auch die Hand
auf die Hand?

So und nun noch Herzlich Willkommen auf Kg.de! :anstoss:

Viel Spass noch...

Wuff

 

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