Was ist neu

Do you know Eis am Stiel?

Mitglied
Beitritt
22.10.2001
Beiträge
4

Do you know Eis am Stiel?

„Fahr schneller!“ sagt Patricia. „Amir landet in zehn Minuten. Was soll der denn von uns denken, wenn wir ihn nicht pünktlich abholen.“ Die Finger ihrer linken Hand krallen sich um ihr Handy. Sie ist nervös. „Na, dass die Deutschen eben doch nicht so pünktlich sind wie alle denken“, sage ich. Patricia zieht eine Grimasse. Alle dreißig Sekunden guckt sie auf die Uhr.

Meine Schwester Patricia. Seit zwei Wochen wieder in Deutschland. Zurück im Winter, braungebrannt. Zurück aus Thailand. Dort hat sie sich in Amir Sidransky verliebt. Nicht nur das: Auch Amir Sidransky hat sich in Patricia verliebt. Viertel vor Zwölf. Amir sitzt im Lufthansa-Flug LH 693 von Tel Aviv nach Frankfurt. Ich und Patricia quälen uns durch zähfließenden Verkehr. Unsere Eltern sind im Urlaub. Sturmfreie Bude. Besuchszeit.

Einen Monat lang war Patricia mit dem Rucksack unterwegs, zusammen mit ihrer besten Freundin Anna. Erst ein paar Tage in einem Billighostel auf Bangkoks Travellermeile Khao San Road, dann auf den mehr oder weniger ausgetretenen Pfaden des „Lonely Planet“ Richtung Küste. Meine Schwester Patricia, blond, gutaussehend, gerade 20 geworden, gerade das Abitur in der Tasche. Schon seit Ewigkeiten der Schwarm aller Jungen im Ort. Ich glaube, sie hat das Gefühl, ein großes Abenteuer erlebt zu haben – allein schon deshalb, weil sie so lange kämpfen musste, bis unsere Eltern die Reise erlaubt haben. Vor dem Abflug musste sie Mutter beibringen, wie man E-Mails schreibt und verschickt. Auf jeder Station ihrer Reise hat sie dann wie versprochen zuallererst ein Internet-Café angesteuert.

*

To: familie_gontermann@hotmail.com
Subject: Kho Pha Ngan
Hallo Ihr Lieben! Gestern sind wir auf der Insel Kho Pha Ngan angekommen. Zum Glück hat Anna ihre Magenprobleme überwunden. Wir haben eine günstige Unterkunft direkt am Strand von Haat Rin gefunden. Unglaublich, wie viele Leute aus aller Welt man hier trifft. Lerne derzeit mehr Englisch als damals bei Frau Rettberg im Leistungskurs.;-) Bis Ko Samui sind wir mit einigen Mädchen aus Australien und Südafrika zusammen gereist. Auf der Fähre nach Kho Pha Ngan bin ich mit einem Israeli ins Gespräch gekommen, der wie ich im „Lonely Planet“ geblättert hat, nicht in der englischen, sondern in der hebräischen Ausgabe. Für junge Israelis scheint Thailand das bevorzugte Urlaubsparadies zu sein. Ich habe vorher noch nie bewusst wahrgenommen, wie sich ihre Sprache anhört. Wusstet Ihr, dass man hebräische Bücher von rechts nach links umblättert? Man fängt also praktisch auf der letzten Seite an zu lesen. Amir - so heißt er - erzählte ganz stolz, dass die hebräische die einzige „Lonely Planet“-Ausgabe neben der englischen ist. Das liegt daran, dass die Israelis so viel reisen. Mehrere Jahre müssen sie zum Militärdienst, auch die Frauen – und danach wollen sie natürlich erst einmal raus in die große weite Welt, um auf andere Gedanken zu kommen, sagt Amir. Oft reisen sie ein ganzes Jahr herum. Ist das nicht toll?! Gleich treffen wir ihn und seine Clique in einer Strandbar.

Morgen findet auf Kho Pha Ngan die berühmte Full Moon Party statt, eine Art Rave am Strand. Überall laufen die Vorbereitungen. An allen Ecken Skulpturen, bunte Banner, Lampions, Fahnen. Ein Insider-Tipp scheint das Ganze nicht mehr zu sein, denn laufend kommen neue Leute an. Sogar ein Fernseh-Team aus Deutschland habe ich gesehen. RTL oder Vox oder so.
Mach dir keine Sorgen Mama! Ich weiß, dass Drogen gefährlich sind, und ich werde natürlich keine nehmen :-)
Viele liebe Grüße, Eure Patricia

*

Seit Amirs Ankunft ist meine kleine Schwester hin und weg. „Ich muss ihn dir unbedingt vorstellen“, schwärmt sie einer Freundin am Telefon vor. „Er ist soo süß. Groß, mit halblangen, lockigen dunklen Haaren. Kennst du Gustavo Kürten? ... Ja, genau, der Tennisspieler. Dem sieht er ähnlich. ... Nein, er ist kein Brasilianer. Er kommt aus Israel. ... Holocaust? ... Nein, darüber haben wir bisher kaum geredet. ... Palästina? Nein auch nicht. Anna wollte immer mit ihm darüber diskutieren, aber du weißt doch: Ich interessiere mich nicht für Politik. Ist mir zu anstrengend. ... Wie lange er bleibt? Eine Woche. ... Ja gut, dann sehen wir uns. Ciao!“

Patricia legt den Telefonhörer auf und guckt mich an. In ihrem Blick lese ich, dass sie irgend etwas mit mir vorhat. „Kümmerst du dich heute Abend ein Bisschen um Amir?“ Sie setzt ein strahlendes Lächeln auf. „Ich muss zum Tennis. Mannschaftstraining. Geht nicht anders. Kann unmöglich schon wieder fehlen. Ich komme später nach, und dann ziehen wir gemeinsam durch die Clubs.“

Zwei Stunden später sitzen ich und Amir auf Barhockern. Wir bestellen zwei Bier. „Prost“, sagt er auf Deutsch, als wir anstoßen. „Prost“, sage ich. In meinem Gesicht ein Fragezeichen. Amir hat es nicht übersehen. „Dieses Wort habe ich auf meinen Reisen gelernt“, erklärt er auf Englisch. Ein Dreivierteljahr unterwegs mit dem Rucksack. Asien und Südamerika. Oft für einige Tage gemeinsam mit Deutschen.

„Viele Israelis reisen lieber in großen Gruppen“ sagt er. „Das liegt wohl an unserem starkem Gemeinschaftsgefühl als Nation. Mir bringt es mehr, wenn ich mich von Zeit zu Zeit von meinen Leuten absetze. Wenn sie in Gruppen auftreten, können sie ganz schön laut und anstrengend sein.“
Deutsche sind auch oft laut im Ausland, denke ich und sehe die TV-Bilder der Ballermann-Reportagen vor mir. Ich wiederhole Amirs Worte: „Ein starkes Gemeinschaftsgefühl als Nation.“
Das haben die Deutschen nicht. Ich erzähle ihm von meinem Freund Frank, der alles tut, damit er im Ausland nicht als Deutscher erkannt wird. Frank ist wie Amir um die ganze Welt gereist. Er hat sich ein Englisch mit amerikanischen Akzent antrainiert – und wenn er auf seinen Reisen Landsleute trifft, gibt er sich als Amerikaner aus. Deutsche, die mit starkem Akzent Englisch sprechen, verachtet er. Den Akzent von Spaniern oder Franzosen findet er dagegen nicht so schlimm. Sein schlimmstes Reiseerlebnis hatte Frank im hintersten Winkel der Südinsel von Neuseeland: eine Begegnung mit sechs schwäbelnden Mountainbike-Freaks. Die wunderschöne Natur, und dann diese Typen mit Schnauzer und Vokuhila-Frisur – er sei fast im Boden versunken vor Scham. Andererseits: Gewinnt Deutschland im Fußball, flippt Frank vor Freude aus. Wenn er dabei zufällig auf Reisen ist, erklärt er seine Begeisterung damit, dass seine Eltern vor ein paar Generationen aus Deutschland in die USA ausgewandert seien.

„Warum benimmt sich Frank so schwachsinnig?“, fragt Amir und bietet mir eine Zigarette an. „Das verstehe ich nicht“, sagt er. „Warum steht er nicht dazu, Deutscher zu sein. Stell dir mal vor, er trifft in Neuseeland eine Frau, die ihn total anmacht, und die spricht dann Englisch mit deutschem Akzent.“ Amir kuckt einer Blondine hinterher, die sich neben uns an der Bar einen Drink bestellt hat. Er merkt, dass ich es gemerkt habe und fühlt sich ertappt. „Ihr habt so unglaublich hübsche blonde Frauen in Deutschland“, sagt er. „So wie Patricia.“
Er erzählt von einem israelischem Freund, der im Jahr zuvor im Urlaub auf Santorin eine Deutsche aus München kennen gelernt hat. Sie wohnen jetzt zusammen in Haifa und werden heiraten.
„Ist sie blond?“, frage ich.
„Ja“, sagt Amir und lacht. Er will wissen, ob ich ein Wort auf Hebräisch kenne.
„Schalom“, sage ich. Amir zieht seine dunklen Augenbrauen zusammen. „Dieses Wort kennen alle Deutschen. Woher?“
„Noch nie drüber nachgedacht“ sage ich. „Vielleicht lernen wir es in der Schule. Wir kennen es eben.“ Eine bessere Antwort fällt mir nicht ein. Schalom. Ich weiß wirklich nicht, wann ich dieses Wort zum ersten Mal gehört habe, aber es muss länger her sein. „Was sagen eigentlich, deine Eltern dazu, dass du in Deutschland bist?“, frage ich.

Amir kuckt mich prüfend an. Dabei lässt er den Rauch seiner Zigarette in kleinen Kringeln aus dem Mund gleiten. „Meiner Mutter ist es egal, wo ich hinreise“ sagt er und klemmt sich mit den Händen einige Locken hinter die Ohren, die ihm ins Gesicht gefallen sind. „Für sie ist es das Wichtigste, dass ich möglichst bald mein Informatik-Studium abschließe. Sie hat kein Problem mit Deutschland. Ihre Vorfahren sind lybische Juden, die nach Israel eingewandert sind.“
Ich erwarte, dass Amir von seinem Vater erzählt, doch er schweigt. Fast fünfzehn Sekunden. Sidransky – ich erinnere mich an seinen Nachnamen und ahne im gleichem Moment, was er gleich sagen wird. Mein Puls schlägt schneller.
„Die Familie meines Vaters stammt aus einem Ort, der heute zu Polen gehört“, sagt Amir. Ganz entspannt mit dem Lover meiner Schwester ein paar Bier trinken. Von Wegen. Vielleicht hätte ich mich besser auf diese Begegnung vorbereiten sollen. Die erste Unterhaltung mit einem Israeli, so etwas lernt man nicht in der Schule. Ich taste nach dem Feuerzeug, das vor uns auf der Theke liegt, und zünde mir eine Zigarette an. Meine Hand zittert leicht. Ich habe mir das Rauchen vor einem Jahr abgewöhnt.

„Mein Vater hat als einziger aus seiner Familie überlebt“, sagt Amir. „Er akzeptiert, dass ich hier bin, aber er selbst würde nie einen Fuß auf deutschen Boden setzen. Für mich ist das anders. Ich weiß, dass Deutschland heute ein anderes Land ist als damals. Nur bei den alten Leuten, da frage ich mich, was sie getrieben haben während der Nazi-Zeit. Aber deine Generation! Deine Generation trägt am Holocaust keine Schuld.“
Wie soll ich reagieren? Ihm sagen, dass er Recht hat? Das wäre zu wenig. „Der Holocaust ist immer irgendwie präsent in Deutschland, und er schwingt bei vielen politischen Diskussionen unausgesprochen im Hintergrund mit“, sage ich. Meine Hände verselbständigen sich, versuchen hektisch das Gesagte zu unterstreichen. Meine Gedanken spülen ein längst vergessenes Gesicht aus den Tiefen meiner Erinnerung an die Oberfläche. Herr Golombek. Mein alter Geschichtslehrer. In seinem Unterricht haben wir die KZ-Filme aus Auschwitz gesehen. Sie hätten von den KZs nichts gewusst, hat Herr Golombek damals gesagt. Ich habe es ihm nicht geglaubt. Letztes Jahr ist er gestorben.

„Zwar sterben die Deutschen, die die Nazizeit bewusst miterlebt haben, langsam aus,“ fahre ich fort, „aber natürlich dürfen wir niemals vergessen, was geschehen ist.“ Wie oft habe ich diese Worte schon aus dem Munde von Politikern gehört? Und jetzt rede ich selbst wie ein Politiker.
„Es geht überhaupt nicht ums Vergessen“, sagt Amir. „Es geht um eure Angst vor euch selbst. Ihr habt euer Land in Rekordzeit wieder aufgebaut nach dem Krieg. Ihr habt ein Wirtschaftswunder geschaffen. Ihr habt die Verantwortung für eure Geschichte übernommen. Ich sag dir eins: Ihr solltet versuchen, euer Land mehr zu lieben. Nicht übertrieben. Ganz normal.“
„Ganz normal“, wiederhole ich langsam. Was soll ich als nächstes sagen? Bloß keinen Fehler machen. Amir scheint keinen schlechten Eindruck von Deutschland zu haben, und das soll auch so bleiben.
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass Ihr Deutschen es immer allen Recht machen wollt“, sagt er. „Ihr wollt, dass die anderen euch lieben. Wie soll das gehen? Ihr schafft es ja noch nicht einmal selbst.“
„Es ist gar nicht so ganz einfach, sein Land zu lieben, wenn man eine Geschichte hat wie wir“, sage ich.
„Ja, aber ihr müsst es trotzdem probieren“, sagt Amir. „Liebst du Deutschland?“
Diese Frage hat mir noch nie jemand gestellt. „Ja, schon“, sage ich – und schweige erst einmal. Dann erzähle ich ihm, wie ich in Amsterdam als „Fuckin´ Nazi“ beschimpft worden bin und wie der Lack meines Autos hinterher mit einem sorgfältig eingeritztem Hakenkreuz verziert war.
„Warum?“, fragt er. „Was hast du getan?“
„Nichts“, sage ich. „Vielleicht lag es daran, dass Deutschland zwei Tage vorher ein Länderspiel gegen Holland gewonnen hat.“
Amir legt die Stirn in Falten. „Siehst du die Gemeinsamkeit“, sagt er. „Deutsche bekommen immer noch den Nazi-Stempel aufgedrückt im Ausland, und Israelis müssen immer wieder die Geschichte ihrer Großeltern bezeugen.“ Er bietet mir eine neue Zigarette an.
„Und wenn Israelis und Deutsche heutzutage direkt aufeinander treffen, wird´s erst richtig spannend“, sage ich und knipse ein Auge dabei zu.
„Und wie“, sagt er grinsend und gibt mir Feuer. „Weißt Du: Manche Deutsche begeben sich ganz schnell in eine Verteidigungshaltung. `Oh ein Jude´, sagt ihnen ihr Unterbewusstsein, und sie schreiben es sich auf die Fahnen, den Holocaust mit politischer Korrektheit wiedergutmachen. Um ihre Liberalität zu beweisen, erzählen sie zum Beispiel von amerikanischen Freunden, die auch Juden sind. Total nervend. Andere fühlen sich berufen, schon nach drei Minuten an irgendeinem Strand in Asien den Palästina-Konflikt auszudiskutieren – so wie diese Freundin deiner Schwester auf Kho Pha Ngan. Auch total nervend. Zum Glück gibt es genügend Leute, die unvoreingenommen sind – so wie Patricia. Oder glaubst du, dass sie mit mir zusammen ist, um kollektive Holocaust-Schuldgefühle aufzuarbeiten?“
„Nein, sicher nicht“, sage ich und muss schmunzeln bei dieser Vorstellung. „Patricia ist ein völlig unpolitischer Mensch.“

Was ich Amir nicht erzähle: In der siebten Klasse tauchte Patricia plötzlich mit einem Palästinensertuch um den Hals in der Schule auf. Kein politisches Symbol, sondern ein pubertäreres Zugeständnis an den linksalternativen Schülersprecher, in den sie damals unsterblich verliebt war. Drei Wochen lang. „Nee, also für Politik oder Geschichte hat sie sich wirklich noch nie interessiert“, sage ich. „Die findet dich nur gut, weil du aussiehst wie Gustavo Kürten.“
Amir lacht. „Schrecklich, wenn Frauen so oberflächlich sind“, sagt er. Wir beschließen, das nächste Bier in einer anderen Bar zu trinken. Auf dem Weg erzähle ich Amir von meinem Schweizer Kumpel Remo, der in Zürich an der Rezeption einer Jugendherberge jobbt. Wenn Israelis bei ihm einchecken, muss er darauf achten, sie nicht gemeinsam mit Arabern im gleichen Schlafsaal unterzubringen – sonst kommen sofort Beschwerden von den Israelis.
„Würdest du mit einem Araber im gleichem Raum schlafen?“, frage ich.
Amir zögert. „Wenn ich ihn persönlich kenne schon“, sagt er. „Sonst nicht“. In der neuen Bar quetschen wir uns an einen Stehtisch nahe am Eingang und ordern zwei Bier.
„Ich bin mal mit einem Libanesen eine Woche durch Thailand gereist“, sagt er. „Aber eigentlich war der Typ Amerikaner. Als Kind nach New York gekommen, weißt du. Der konnte nur ein paar Brocken Arabisch.“
„Ist da nicht bald diese Konferenz in den USA, wo eine Einigung mit den Palästinensern erreicht werden soll?“, frage ich.
„Camp David“ sagt Amir. „In drei Wochen. Ich sage dir was: Es gibt nichts in der Welt, was ich mir mehr wünsche, als mit den Palästinensern ganz normal zusammenzuleben. Und ich glaube fest daran, dass Barak und Arafat bei dieser Konferenz irgendeinen Kompromiss finden werden.“
„Glaubst du, dass es Frieden geben wird mit den Palästinensern?“
„Frieden? Ich weiß nicht, aber ich wünsche mir, dass es bald einen Alltag gibt, wo keiner mehr Angst haben muss, dass an der nächsten Ecke eine Bombe hochgeht. Das werden wir nur erreichen, wenn wir einen Großteil der Siedlungen aufgeben. Die haben Israel nur Unheil gebracht. Die Palästinenser sollen ihren eigenen Staat haben, und dafür müssen sie unsere Existenz anerkennen.“
Amir hält inne. Ein Schluck aus der Bierflasche. Ein Blick auf die Uhr. „So geht´s nicht weiter“, sagt er und klopft mir auf die Schulter. „Wir haben uns jetzt zwei Stunden über Politik unterhalten. Lass uns den Rest des Abends lieber über normale Dinge reden – zum Beispiel über Madonna, über die Formel Eins oder über den Hintern von Jennifer Lopez. Was hältst du davon?“
„Sehr viel“, sage ich. „Was heißt eigentlich Prost auf Hebräisch?“
„L´Chaim!“, sagt er.
„L´Chaim!“, sage ich. „Auf den Hintern von Jennifer Lopez.“

*

To: familie_gontermann@hotmail.com
Subject: Amir
Hallo Ihr Lieben! Die Full Moon Party haben wir gut überstanden. Wir wohnen jetzt am anderen Ende der Insel in ein paar Hütten am Strand. Nur chillen und die Seele baumeln lassen. Einfach wunderbar! Dank Amir und seiner Freunde haben wir einen super Preis für die Unterkunft rausgeschlagen. Außerdem hätten wir ohne sie diese einsame Ecke nie gefunden. Anna geht mir ziemlich auf den Geist. Sie musste natürlich sofort anfangen, mit Amir über Politik zu diskutieren, über Israel und Palästina und diesen ganzen Kram. Und das jetzt, wo wir im Urlaub sind. Ich habe ihr meine Meinung gesagt, und nun ist es auch wieder gut.

Normalerweise drehen sich die Gespräche mit den anderen Travellern vor allem darum, wo man am billigsten essen kann oder wo die absoluten Geheimtipp-Bungalows zu finden sind. Das kann ganz schön nerven auf Dauer. Amir ist anders. Allerdings: Ich glaube, er ist ein ganz schöner Macho. Er würde zum Beispiel nie in der Küche helfen, hat er gesagt. Da hätte er in Deutschland ganz schön Probleme, oder? In Israel studiert er Informatik, und später will er sich in der Computerbranche selbständig machen. In der Ukraine gebe es die besten und billigsten Programmierer, sagt er. Mit denen würde er dann zusammenarbeiten. Übrigens: Amir hat mir sogar einen Satz auf Hebräisch beigebracht: „Jiheje beseder!“ Das heißt auf Deutsch soviel wie „Alles wird gut!“ In diesem Sinne: In drei Tagen fliegen wir zurück nach Deutschland. Ich freue mich auf euch.
Alles Liebe, Eure Patricia.

*

Drei Uhr Nachts. Patricia zupft an meinem Arm. „Du kuck mal, da vorne“, sagt sie. „Da steht Steffen Ungewitter. Erinnerst du dich noch an den? Der war doch in deiner Stufe .“
„Ja klar“, sage ich. „Und dann ist er von der Schule geflogen, weil er NPD-Flugblätter verteilt hat, der kleine Fascho. Wie ist der überhaupt hier reingekommen.“
Wir stehen in der Lounge-Ecke des angesagtesten Clubs der Region. Patricia zurück vom Tennistraining, verliebt händchenhaltend mit Amir. Die zweite Runde Wodka Lemon. Wir sind von Bier auf Longdrinks umgestiegen.
„Scheiße, der hat uns gesehen“, sagt Patricia. „Wimmel den bloß schnell ab.“
Steffen steuert mit einem Glas Bier in der Hand genau auf uns zu. Zum ersten Mal im Leben Besuch aus Israel, und der einzige echte Neo-Nazi der Schule läuft uns ausgerechnet heute über den Weg – zum ersten Mal seit fünf Jahren.

„Na Ihr“, sagt er. „Wie geht´s denn so? Wir haben uns ja ewig nicht gesehen.“ Wie ein Neo-Nazi sieht Steffen nicht mehr aus. Der HJ-Scheitel von damals ist einer trendigen Kurzhaarfrisur gewichen. Sicher nur Schein.
„Ganz gut“, sage ich. „Und dir? Was treibst du so?“ Patricia tritt mir gegen mein Schienbein. Hochhackige spitze Schuhe. Ich zucke zusammen.
„Ich studiere Kommunikationswissenschaften“, sagt er und lächelt dabei etwas verlegen. Offensichtlich hat er das Abitur doch noch geschafft, auf einer anderen Schule. „Und Ihr?“, fragt er.
„Ich studiere auch“, sage ich. „International Business.“ Steffen nickt anerkennend und wendet seinen Blick Patricia zu.
„Äh, ich weiß noch nicht, weiß ich genau machen will“, sagt sie. „Werde jetzt erst mal ein Bisschen rumjobben.“
„Cool“, sagt Steffen – und kuckt Amir an. Patricia kuckt mich an, hilfesuchend. Ein paar Sekunden Schweigen.
„Das ist mein Freund Amir“, sagt Patricia. Amir streckt Steffen die Hand entgegen. „Hi, nice to meet you.“
„Hi Amir“, sagt Steffen. „Where are you from?“
“Israel”, sagt Amir. Patricia kuckt mich an und verdreht die Augen. Mir gleitet fast das Glas aus der Hand. Der einzige Neo-Nazi unserer Schule und der israelische Freund meiner Schwester fangen an zu smalltalken. Schöne Bescherung.

„Israel?“ Steffens Miene erhellt sich. „Do you know Eis am Stiel?“, fragt er.
„Ice what?“
„Eis am Stiel... Kennst du Zachi Noy? Oder Jesse Katzur?“
„Nein, aber ihre Namen hören sich so an, als kämen sie aus dem gleichen Land wie ich.“
„Genau. Sie spielen bei `Eis am Stiel´ mit. Das ist eine israelische Teeniefilmserie aus den 80ern. Die Hauptfiguren heißen Benny, Johnny und Momo.“
„Jetzt weiß ich, was du meinst. Habe ich vor langer Zeit auf Video gesehen. Das Ganze spielt im Tel Aviv der 50er Jahre. Und diese Typen haben die ganze Zeit nur eines im Sinn: Frauen abzuschleppen.“
„Genau. Und ab Folge drei ist es eine deutsch-israelische Co-Produktion, und es machen auch deutsche Schauspielerinnen mit.“ Steffen scheint voll in seinem Element. „Zum Beispiel Sybylle Rauch und Dolly Buster“, fährt er fort und zwinkert mir verschwörerisch zu. Sicher hat er auch die echten Hardcore-Filme dieser beiden Schauspiel-Koryphäen zuhause im Videoschrank – und nicht nur den Soft-Sex von Eis am Stiel. Besser Dolly Buster-Filme als Führer-Videos, denke ich und schaffe es gerade noch das Lachen zu bändigen, das in meinem Bauch wartet.
„Dolly Buster – der Name kommt mir bekannt vor. Ist die ein großer Star bei euch?“, fragt Amir.
Steffen findet das sehr komisch. „Dolly Buster ist ein paar Jahre nach ihrem Auftritt bei Eis am Stiel zum größten Porno-Star Deutschlands aufgestiegen“, erkläre ich.
„So geht das also“, sagt Amir. „Erst spielt man in einem israelischem Teeniestreifen mit, und dann wird man Porno-Star.“
Patricia hat die ganze Zeit geschwiegen. Ihre Augen sagen mir: Schaff uns diesen Typen vom Hals. Ich versuche das Gespräch an mich zu reißen. „Sag mal Steffen“, frage ich, „woher kommt eigentlich dein großes Interesse für die Eis am Stiel-Filme? Du scheinst ja ein richtiger Spezialist auf diesem Gebiet zu sein.“
„Ich schreibe gerade an einer Seminararbeit, in der ich die Struktur der Eis am Stiel-Filme mit neueren US-Teenie-Kömodien wie American Pie und Road Trip vergleiche“, sagt er. „Natürlich alles streng wissenschaftlich.“ Er kratzt sich am Hinterkopf. Patricia zieht ihre linke Augenbraue hoch und blinzelt mir zu. „Mir kommt da eine Idee. Amir, vielleicht könntest du mir einen Gefallen tun. Du müsstet nur herausfinden, ob in Israel schon einmal jemand eine wissenschaftliche Arbeit über die Eis am Stiel-Filme geschrieben hat.“
„Kann ich gerne machen“, sagt Amir. „Gib mir mal deine Mobil-Nummer, dann melde ich mich bei dir, wenn ich etwas weiß.“ Steffen und Amir tauschen zuerst ihre Handy-Nummern aus, danach noch ein paar Höflichkeiten, und dann entschließt sich Steffen endlich weiterzugehen. „Schalom“, sagt er zum Abschied und verschwindet Richtung Tanzfläche.
„Da haben wir es wieder“, sagt Amir. „Alle Deutschen kennen dieses Wort.“ Sogar Leute, die früher NPD-Flugblätter verteilt haben, denke ich.
„Vielleicht sollte Steffen mal wissenschaftlich analysieren, woher das kommt“, sagt Patricia.
„Das wäre mit Sicherheit interessanter, als eine Arbeit über diese billigen Teeniefilme zu schreiben“, sagt Amir. „Ihr Deutschen habt manchmal echt merkwürdige Ideen.“
„Und Ihr Israelis produziert manchmal echt merkwürdige Filmchen“ sagt Patricia und gibt Amir einen Kuss auf den Mund. „Aber mach dir nichts draus: Jiheje Beseder. Alles wird gut. Ich bin dran mit Bestellen. Was wollt ihr trinken, Jungs?“

[ 16.04.2002, 22:13: Beitrag editiert von: NicAn ]

 

Hochachtung NicAn!

Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen! Zuerst dachte ich ja, es wird so eine Teenie-Story, aber das ist ja richtig tiefgründig, richtig politisch! :thumbsup: Da ich keine Ahnung von Israel habe, hast Du mich natürlich gleich doppelt beeindruckt... ;)

Dieser Satz hat mir besonders gefallen, denn er spiegelt meine eigene Meinung ganz gut wider:

Ihr habt die Verantwortung für eure Geschichte übernommen. Ich sag dir eins: Ihr solltet versuchen, euer Land mehr zu lieben. Nicht übertrieben. Ganz normal.
Gruß
stephy

 

Obschon ich Geschichten mit politischer Aussage eher meide, hat mir diese zur Abwechselung mal echt gefallen.

Ihr solltet versuchen, euer Land mehr zu lieben. Nicht übertrieben. Ganz normal.
Tja, mal sehen, worauf könnte ich denn stolz sein? Auf unsere miese Geschichte? Auf Kapitalismus, Ausbeutung und Korruption? Fremdenhass? Auf Volksverdummung, auf die niedergehende Wirtschaft? Darauf, dass sich deutsche Touristen im Ausland wie die Axt im Walde benehmen? Auf Unterschlagung und Veruntreuung? Die steigenden Kriminalitätsraten? Nicht mal auf unsere Nationalmannschaft...

Kann mir einfach nicht vorstellen, mit der Hand auf dem Herzen und die Fahne anhimmelnd die Nationalhymne zu trällern, mit vor Stolz leuchtenden Augen, wie's die Amis machen.

Nee, also: klappt nicht. Message angekommen, aber ausführliche Betriebsanleitung wird erbeten.

Gruss
Pip

[ 16-04-2002, 09:54: Beitrag editiert von: Pipilasovskaya ]

 

Zunächst mal vielen Dank für das Lob!

Ihr solltet versuchen, euer Land mehr zu lieben. Nicht übertrieben. Ganz normal.
Pipilosovkaya: "Tja, mal sehen, worauf könnte ich denn stolz sein? Auf unsere miese Geschichte? Auf Kapitalismus, Ausbeutung und Korruption? Fremdenhass? Auf Volksverdummung, auf die niedergehende Wirtschaft? Darauf, dass sich deutsche Touristen im Ausland wie die Axt im Walde benehmen? Auf Unterschlagung und Veruntreuung? Die steigenden Kriminalitätsraten? Nicht mal auf unsere Nationalmannschaft...
Kann mir einfach nicht vorstellen, mit der Hand auf dem Herzen und die Fahne anhimmelnd die Nationalhymne zu trällern, mit vor Stolz leuchtenden Augen, wie's die Amis machen."
Pip[/QB][/QUOTE]

... das kann ich mir genau so wenig vorstellen. Es geht nicht um "Stolz", sondern um die Identifikation mit dem eigenen Land, das allerdings nicht im "völkischem" Sinne, ich schließe da die deutschen Gerald Asamoahs und Cem Özdemirs genauso mit ein. Die Aussage ist ja eben: Sich "Ganz normal" mit seinem Land zu identifizieren, mit allem Guten und Schlechten, was dazu gehört. Der Patriotismus der Amerikaner ist in vielerlei Hinsicht völlig übertrieben und bestimmt kein Vorbild für uns. Mir liegt es absolut fern, ein "Stolz sein auf deutsche Werte" im stoiberschen Sinne zu propagieren.
Es geht mir um ein unverkrampftes Verhältnis zum eigenen Land, und leider habe ich das Gefühl, das wir oft Angst vor uns selbst haben, und genau deswegen sehen uns manche Leute in Großbritannien oder England immer noch mit einer gewissen Skepsis.
Aber wahrscheinlich würde sich in diesen Ländern ach niemand in einer Kurzgeschichte mit einem Thema wie diesem auseinandersetzen... Insofern steckt wohl auch in mir ein Teil dieses gespaltenen Verhältnisses zur eigenen Nation. Und deswegen habe ich auch keine eche Gebrauchsanweisung.. ;) :

 

Also ich wieß nicht, warum viele Deutsche ihr Land "hassen". Ich liebe mein Schwabenland und bin auch bis zu einem gewissen Grad stolz drauf, ein Schwabe zu sein. Natürlich sollte man mit dieser Aussage immer vorsichtig sein, aber wir hatten das Thema ja schon mal: Ich schäme mich nicht, Deutsche zu sein, weil ich mit der deutschen Geschichte nichts zutun habe. Ich mag Deutschland so, wie es jetzt ist. Und ich bekenne mich dazu: Ich bin gern deutsch!

Gruß
stephy

 

Super! Hat mir gut gefallen Deine Geschichte. Aktuelles Thema, aber trotzdem sensibel behandelt und ohne auf den üblichen Klischees rumzureiten.

Sehr gut gelungen.

 

@NicAn:

Hallo und willkommen auf Kg.de!
Deine Geschichte macht einen äußerst interessanten Eindruck. Ich werde sie mir später mal in Ruhe zu Gemüte führen.

Nur eine kleine, oberflächliche Verbesserung habe ich anzubringen: Es heißt "Eis am Stiel".
"Stil" ist etwas anderes. Das sollte korrigiert werden.

Und bitte lasst jetzt keine "Nationalstolz"-Diskussion aufflammen, das ist schon einmal komplett aus dem Ruder gelaufen. Versucht zumindest, nicht allzu sehr von der Geschichte abzuschweifen.

 

Hi NicAn!

Ich finde deine Geschichte wirklich sehr interessant! Guter Einstieg hier bei kg.de!
Die Personen sind sehr glaubhaft gezeichnet und auch die Dialoge halte ich für gelungen. Du hast dieses Thema mE gut umgesetzt und bist dabei nicht in Klischees abgerutscht, sondern hast jede Seite beleuchtet.

Gefällt mir, Sam.

 

Hallo!
noch mal vielen vielen dank für das lob! :)
natürlich muss es "Eis am Stiel" und nicht "Eis am Stil" heissen. Habe Bens Korrektur bereits eingefügt...
Freut mich sehr, dass die Story gut angekommen ist.Hatte die Befürchtung, dass das Thema zu abseitig ist.

Natürlich hat die Geschichte zum Teil autobiografischen Hintergrund : die Figur des Amir trägt die Züge von diversen Israelis, die ich auf meinen Rucksackreisen kennengelernt habe, besonders von einem, der auch im echten Leben Amir heisst - aber nicht mit meiner Schwester zusammen war, die auch nicht blond ist. ;)

Habe gestern eine Mail von ihnm erhalten: Da er wie jeder männliche Israeli Reservist ist, hat ihn das Militär ihn eingezogen. Jetzt muss er, der immer für einen Ausgleich mit den Palästinensern eigetreten ist, im Gebiet von Dschenin seinen Kopf hinhalten...
Viele Grüße!

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom