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Der Schrank

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14.09.2001
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Der Schrank

„Trenne nie, was zusammengehört!“

Am letzten Samstag im August bummelte Paul Steiner durch Hannovers Fußgängerzone. Seine Frau Yvonne und seine siebenjährige Tochter Natalie hasteten von Geschäft zu Geschäft, um hier eine Hose, dort einen Rock oder ein T-Shirt anzuprobieren. Er hatte sich abgesetzt, denn kaufen wollte er nichts.
Er kam an eine vom Sonnenlicht vernachlässigte Gasse und blieb stehen. Sollte er hindurchgehen? Ein kalter Luftzug streifte seine Wangen und die Härchen auf seiner Haut richteten sich auf. Instinktiv wollte er sich abwenden, doch seine Schritte führten ihn in die Gasse. Vor einem Trödlerladen blieb er stehen. Seine Blicke wurden von einem Monstrum von Schrank angezogen.
Ein Eichenschrank aus der Gründerzeit, möglicherweise älter, stand dort im Fenster. Wuchtig nahm er fast die gesamte Auslagefläche ein. Der Lack blätterte an vielen Stellen ab; Dellen und Kratzer an den Kanten erzählten von vielen Umzügen, als ob er nie lange an einem Ort gestanden hatte. Auf dem oberen, wurmzerfressenen Sims war ein Sinnspruch eingeschnitzt. „Trenne nie, was zusammengehört!“, las Paul. Einzig die Tür wollte nicht in dieses Bild passen. Die Intarsienarbeiten aus Limba und Ebenholz glänzten wie frisch poliert. Eine magische Anziehungskraft ging von dem Schrank aus.
Ohne den Blick von dem Möbel abzuwenden, näherte sich Paul dem Eingang, drückte die schmiedeeiserne Klinke nach unten und trat ein. Ein alte Glocke über der Tür gab ein leises, verrostetes Bimmeln von sich. Eine Atmosphäre von muffigen alten Sachen und wenig Lüftung umfing ihn. Er schaute sich um, konnte jedoch in dem Licht zweier verstaubter Glühbirnen nicht erkennen, ob sich noch jemand in dem Raum befand.
Nach einer Weile gab er die Suche auf und wandte sich dem Schrank zu. Unaufhaltsam zog ihn dieses halbrestaurierte Trumm an. Er streckte seine rechte Hand aus und betastete ihn beinahe liebevoll. Er war solide gearbeitet. Sein Äußeres konnte Paul nicht über die Qualität des Schranks hinwegtäuschen. Ein wenig Arbeit würde nötig sein, aber das war für ihn kein Problem
„Ein schönes Stück, nicht wahr?“
Paul erschrak. Ein alter Mann, der aussah, als wäre er selbst eine Ware dieses Ladens, stand hinter ihm. Trübe, braune Augen schauten aus einem von Falten zerfurchten Gesicht zu ihm auf.
„Na, ja ...“, erwiderte Paul. Er versuchte sein Interesse zu verstecken. Der alte Mann sollte daraus kein Geschäft machen. „Eigentlich schon.“ fügte er nach einer Weile an.
„Nur schade, dass er nicht ganz fertig wurde“, sagte der Alte. „Sein Vorbesitzer hat sich große Mühe mit der Tür gemacht, ist dann aber verstorben.“
Paul sagte nichts. Der Alte tänzelte um ihn herum zur Auslage.
„Ich habe ihn günstig aus dem Nachlass erwerben können. - Wollen Sie ihn kaufen?“ Aus seiner Stimme klang unverhohlene Gier.
Wenn ich zu schnell ja sage, zieht er mich über den Tisch, dachte Paul und zögerte die Antwort absichtlich hinaus.
„Ich weiß nicht so recht ...“, begann er.
„Leider ist es mir nicht gelungen, jemanden für die vollständige Restauration zu finden“, unterbrach ihn der Alte. „Vielleicht haben Sie jemanden an der Hand?“
„Zur Not mache ich es selbst.“
„Oh!“ Der Mann, von dem Paul inzwischen glaubte, er sei der Besitzer dieses Geschäftes, lachte. „Das ist gut. Eine Kleinigkeit müssen Sie allerdings beachten: Es ist ein Kleiderschrank. Stellen Sie ihn niemals ohne die Einlegeböden auf!.“
Die Betonung des Wortes niemals ließ Paul aufhorchen. „Warum?“, fragte er.
„Es ist etwas Magisches“, flüsterte der Alte geheimnisvoll. Dann lachte er wieder. „Ohne Böden können Sie nichts darin ablegen.“
Verrückt!, dachte Paul. Der Alte ist einfach verrückt. Kein Wunder bei dieser Umgebung.
„Wie viel?“, fragte er.
„Fünfhundert Mark!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. „Dafür bring ich ihn auch zu Ihnen.“
Das ist ja fast geschenkt, dachte Paul und schlug in die dargebotene Hand ein. Bereits am Nachmittag wollte der Alte liefern. Fröhlich pfeifend verließ Paul den Laden und ging zielstrebig zum Bahnhof, wo Yvonne und Natalie schon warteten.
Im Laden grinste der Alte den Schrank an und sagte: „Du wirst deine Freude mit ihm haben!“

Zu Hause war Paul von tiefer Unruhe erfüllt. Immer wieder trat er nach einem Blick zur Uhr ans Küchenfenster und schaute auf die Straße hinaus. Yvonne wunderte sich über das Verhalten ihres Mannes. So kannte sie ihn gar nicht. „Was ist los? Erwartest du Besuch?“
„Nein, eine Überraschung!“
„Was für eine Überraschung?“
„Wenn er da ist, wirst du es verstehen.“
„Wenn wer da ist?“
Doch eine Antwort erhielt sie nicht. Paul stand wieder am Fenster. Kopfschüttelnd ging sie hinaus.
Punkt 15 Uhr bog ein alter, grüner Lastwagen, dessen Karosserie schon mehrmals geschweißt worden war, in die Florastraße ein und hielt vor Haus Nr. 11. Auf der offenen Ladefläche hüllten graue Wolldecken den Schrank ein, der von zwei rissigen Zurrgurten gehalten wurde. Während die Pressluft zischend aus den halb vergammelten Bremszylindern entwich, stieg der alte Mann aus. Paul rannte ihm entgegen.
Nach einer kurzen Begrüßung lösten sie die Zurrgurte und nahmen die Decken herunter. Sie trugen die Fracht in die Garage, die Paul zu einer Werkstatt umgebaut hatte.
Nur kurze Zeit später fuhr der Lastwagen eine schwarze Rußwolke hinterlassend die Straße hinauf. Paul blieb in der Garage, bewunderte den Schrank und beglückwünschte sich zu diesem einmaligen Kauf. Dann holte er eine Werkzeugkiste aus dem Regal und legte sich zurecht, was er für die Restauration benötigte.
„Was machst du denn da?“ Yvonne stand im geöffneten Tor.
Paul war so in Gedanken versunken gewesen, dass er sie nicht hatte kommen hören. Etwas verlegen lächelte er sie an.
Dann deutete er auf den Schrank: „Wie findest du ihn?“
„Soll das die Überraschung sein?“
Sie kam näher, ging um das Möbelstück herum, wobei sie angewidert das Gesicht verzog.
„Was willst du mit diesem morschen Teil?“
Morsches Teil? Paul war entsetzt. Konnte sie nicht sehen, welche Kostbarkeit er ergattert hatte? Wahrscheinlich nicht, beantwortete er seine Frage selbst. Noch macht er nicht viel her.
„Wenn ich mit ihm fertig bin, wird er ein Prachtstück sein. Du wirst sehen.“
Yvonne schauderte. Der Schrank wirkte unheimlich. Eine unnatürlich Kälte umgab ihn, als ob er alle Energie seiner Umgebung aufsog. Als ihre Knie anfingen zu zittern, verließ sie fluchtartig die Garage.
Paul blieb. Weit nach Mitternacht schlurfte er völlig ausgelaugt zum Haus und hinterließ einen im neuen Glanz erstrahlenden Schrank in der Garage.

Am Sonntagmorgen schlief Paul länger als üblich. Erst als Natalie ihn weckte und quengelte, sie wolle endlich frühstücken, quälte er sich aus dem Bett.
Kurz darauf trottete er verschlafen die Treppe hinunter. Seine Augen waren halb geschlossen, dunkle Ränder zeugten von einer langen Nacht. Flüchtig hauchte er seiner Frau einen Kuss auf die Wange und setzte sich.
Natalie sah ihn überrascht an. „Bist du böse, Papa?“
„Was?“ Paul schaute auf.
„Bist du böse, dass ich dich geweckt habe?“
„Wie? – Ach so!“ Ihm fiel ein, dass er sonntags immer erst mit seiner Tochter knuddelte, bevor sie frühstückten. „Nein, mein Schatz!“ Er nahm sie in den Arm und drückte sie. „Papa ist heute nur ein wenig müde.“
„Wie lange warst du denn in der Garage?“, fragte Yvonne.
„Ich weiß nicht“, antwortete Paul. „Es muss nach Zwei gewesen sein.“ Er warf seiner Frau ein strahlendes Lächeln zu. „Aber der Schrank ist fertig. Es hat zwar gedauert, aber du wirst staunen. Er ist genau richtig für Natalies Zimmer.“
„Dieses alte Teil willst du unserer Tochter aufdrücken?“, fragte sie erschrocken und dachte dabei an ihr gestriges Erlebnis mit dem alten Möbelstück. Doch bevor sie weiterreden konnte, rief Natalie:
„Ein Schrank für mich? Das ist toll!“
„Siehst du?“, sagte Paul. „Natalie freut sich schon. Und du hast doch gesagt, dass sie unbedingt einen größeren Kleiderschrank braucht. Schau ihn dir erst mal an. Er wird dir bestimmt gefallen.“
Yvonne wollte die Begeisterung ihrer Tochter nicht von vornherein zerstören und schwieg. Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet.
Während sie mit Natalie den Tisch abräumte, ging Paul in die Garage, um nach dem Schrank zu sehen. Glänzend stand er in der Mitte des Raumes. Er war schön geworden. Die Mühe der letzten Nacht hatte sich gelohnt.
Kurze Zeit später erschienen Frau und Tochter. Natalie sprang sofort auf den Schrank zu und rief: „Mein Schrank, mein Schrank!“ Sie war begeistert.
Yvonne blieb in der Seitentür stehen. Misstrauisch beäugte sie den Schrank. Nebenbei bemerkte sie, dass keinerlei Spuren der nächtlichen Arbeit in der Garage zu finden waren. Hatte Paul sich endlich einmal dazu durchgerungen, gleich aufzuräumen?
Sie gab sich einen Ruck und trat näher. Paul hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, anerkannte sie. Nichts deutete mehr auf das hässliche, alte Möbelstück von gestern hin. Sie strich mit der Hand über eine der Seitenwände und erschauerte. Für einen Moment glaubte sie, kein Holz zu berühren sondern lederne Haut, unter der es pulsierte. Bevor sie die Hand zurückziehen konnte, verschwand der Eindruck, und sie fühlte glattes, frisch lackiertes Holz.
Es ist nur ein Schrank!, dachte sie. Ich bin etwas überspannt und bilde mir schon ein, dass er lebt. Verrückt!
„Und wie willst du ihn nach oben bekommen?“.
„Herbert schuldet mir noch einen Gefallen“, antwortete Paul. „Ich werde nachher rübergehen und ihn fragen, wenn ich den anderen Schrank in Natalies Zimmer abgebaut habe.“

Herbert Voss war 50 Jahre alt und lebte seit letztem Sommer, als seine Frau gestorben war, allein. In der Zeit nach ihrem Tod hatte Paul wie ein Freund zu ihm gestanden. Die Gelegenheit, sich endlich einmal zu revanchieren, ließ er sich nicht entgehen. Als Antwort auf Pauls Frage schlüpfte er in seine Schuhe und ging ihm voraus.
In der Garage schaute er verblüfft den Schrank an, kratzte sich am Hinterkopf und sah fragend zu Paul.
„Wo willst du mit diesem Trumm hin?“
„Er soll in Natalies Zimmer. Sie braucht dringend einen größeren Kleiderschrank.“
„In diese kleine Kammer? Der ist doch viel zu groß dafür.“
„Ach, Quatsch!“, beschwichtigte Paul. „Wirst sehen. Er passt genau rein.“
Herbert zuckte mit den Schultern. „Wenn du meinst, dann lass uns mal.“
Er öffnete den Schrank, um die Einlegeböden zu entfernen. „Man muss es sich ja nicht unnötig schwer machen“, lachte er, griff nach dem ersten Brett und sein Lachen erstarb. Seine Hand langte in den Schlund einer mordlüsternen Bestie. Heißer, fauliger Atem schlug ihm entgegen.
„Ist was?“, fragte Paul seinen blass gewordenen Nachbarn.
„Das ist ...“, begann sein Nachbar. Kein Schrank, wollte er sagen und starrte auf seine Hände, die langsam mit einem schweren, eichenhölzernen Einlegeboden, auf dem seltsame Zeichen eingebrannt waren, nach unten sanken.
Das glaubt er mir doch nicht, dachte Herbert. „Vergiss es!“, brummte er und stellte das Brett ab.
Den Schrank durch das enge Treppenhaus der Steiners zu zirkeln, erwies sich als schwieriger, als sie es gedacht hatten, weil Paul sich anstellte, als transportierten sie ein wertvolles Kunstwerk. Schnaufend kamen sie oben an. Als er in Natalies Zimmer aufgestellt war, musterte Herbert das riesige Möbel.
„Also, ich weiß nicht recht“, begann er. „Ich habe das Gefühl, dass er nicht hierher gehört. Meinst du nicht, dass Natalie Angst vor ihm bekommt. Er ist so bedro... wuchtig.“
„Ach, komm!“, sagte Paul, „Man muss sich erst an ihn gewöhnen. Ich hol uns ein Bier.“
Und dennoch, dachte Herbert, er gehört hier nicht her!
Paul ging nach unten in die Küche, wo für nachbarschaftliche Hilfeleistungen immer zwei Flaschen Premium im Kühlschrank lagen. Er kramte den Öffner aus einer Schublade und hielt inne. War da nicht ein Geräusch im Obergeschoss? Es hatte sich angehört, als sei eine Tür zugeschlagen worden. Paul lauschte. Doch außer Yvonne und Natalie, die zum Lied der fleißigen Waschfrauen den Trockner im Badezimmer einräumten, hörte er nichts.
„Das Bier kommt!“, rief Paul vom Treppenabsatz aus. Oben blieb es still.
„Herbert?“
Keine Antwort.
War er etwa schon gegangen? Ohne ein Wort zu sagen? In Natalies Zimmer war er jedenfalls nicht. Pauls Blick fiel auf den Schrank. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Er grinste.
„Für Versteckspielen sind wir zu alt, oder?“
Paul riss die Tür auf, aber dahinter war nichts. Nur ein dunkles Loch gähnte ihn an. Langsam sank seine Hand vom Knauf.
War es doch die Haustür gewesen, die er gehört hatte? Herbert musste es sehr eilig gehabt haben, wenn er sich nicht verabschiedete.
Nachdenklich verließ er Natalies Zimmer.

Am Nachmittag ging Paul mit Natalie ins Kino. Danach gönnte sie sich zwei riesige Eisbecher. Im Eiscafé fielen Paul die Einlegeböden in der Garage ein. Ich muss sie nachher unbedingt einsetzen, dachte er, aber im nächsten Augenblick hatte er es wieder vergessen.
Als sie am Abend heimkehrten war das Haus still und verlassen.
„Wo ist Mama?“, fragte Natalie.
„Ich weiß es nicht“, gab Paul zu. „Vielleicht musste sie schnell zu Oma Käthe. Du weißt doch, dass sie manchmal plötzlich krank wird.“
Natalie gab sich mit der Antwort zufrieden.
Nach dem Abendbrot brachte Paul sie zu Bett. Vor dem halb geöffneten Kleiderschrank lag ein Haufen Wäsche, der aussah, als hätte Yvonne ihn vor Schreck fallen gelassen.
„Mama muss es aber sehr eilig gehabt haben“, stellte Natalie fest.
Paul nickte nur. Es war nicht Yvonnes Art, ohne Nachricht das Haus zu verlassen. Wenn es sehr eilig war, meldete sie sich später, wenn jemand zu Hause war. Aber in der letzten Stunde hatte das Telefon nicht geklingelt.
Er gab seiner Tochter einen Gute-Nacht-Kuss und ging nach unten zum Telefon. Er wählte die Nummer seiner Schwiegermutter und legte nach dem zwanzigsten Klingeln auf.
Vielleicht ist Yvonne mit ihr im Krankenhaus, überlegte er. Möglich wär’s. Käthe hatte in der letzten Zeit sehr abgebaut.
Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank, schaltete den Fernseher ein und machte es sich auf dem Sofa bequem. Den Film nahm er nur am Rande war. Immer wieder kreisten seine Gedanken um Yvonne. Wo war sie? Warum meldete sie sich nicht? Schließlich nickte Paul ein.

Er stand im Kinderzimmer, sah auf den Schrank und stellte fest, dass er seine Augen nicht abwenden konnte. Etwas zwang ihn, seinen Blick auf dem Kleiderschrank zu lassen, der jetzt von düsterem, unheilvollem Leben erfüllt zu sein schien. „Trenne nie, was zusammengehört!“ Der Spruch auf dem Sims leuchtete, glühte förmlich. Dann veränderten sich die Intarsien auf der Tür. Die geometrischen Muster wechselten die Position, zogen sich auseinander und formten ein Gesicht. Zwei unergründlich tiefe Ebenholzaugen fixierten Paul.
„Pass auf!“, hörte er den Schrank sagen. „Ich zeige dir, was mit deiner Frau passiert ist.“ Dabei grinste er dämonisch. „Es soll der Lohn für deine Lebenskraft sei, die mich letzte Nacht erweckt hat.“
Die Zimmertür ging auf und Yvonne trat mit einem Berg Wäsche auf den Armen ein. Es war die Wäsche, die er vorhin auf dem Fußboden liegend gefunden hatte.
Paul schrie auf. Er wollte seine Frau vom Schrank fernhalten, doch sie hörte ihn nicht. Mit schrecklicher Klarheit wurde er sich seiner Machtlosigkeit bewusst. Er war nur ein Beobachter, der sah, was längst schon passiert war.
Yvonne streckte ihre rechte Hand aus. Doch bevor sie den Knauf berührte, schwang die Tür auf, stieß sie fast um. Die Wäsche fiel aus ihren Armen und bildete genau den Haufen, den Paul wieder zusammengelegt hatte. Zwei Tentakel schossen aus dem Schrank hervor. Sie hatten eine graue, zerfurchte Haut. An der Unterseite befanden sich Saugnäpfe, wie die eines Tintenfisches, aus denen eine grüne, ölige Flüssigkeit tropfte. Rasend schnell wickelten sie sich um Yvonnes zitternden Körper und ...
Die Szene vor Pauls Augen verschwamm. Dann befand er sich im Schrank. Nein! – Er war der Schrank. Es waren seine Tentakel, die Yvonne umklammerten. Er sah in ihr schreckensbleiches Gesicht. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen, in denen sich ihre Todesfurcht spiegelte, an. Und dann öffnete sie den Mund zu einem gellenden Schrei ...
Paul erwachte. Schweißgebadet lag er auf dem Sofa. Was für ein Albtraum! Im Fernseher lief eine Diskussionsrunde und er griff automatisch zur Fernbedienung. Die anschließende Stille tat gut. Eher beiläufig stellte er fest, dass es bereits 23 Uhr war. Yvonne ist anscheinend immer noch nicht zurück, dachte er. Und mit der Gewalt einer Sturmflut schwappte das Bild seiner vor Todesangst schreienden Frau über die Schwelle seines Unterbewusstseins. Er stöhnte auf, versuchte das Bild zu verdrängen, aber je mehr er mit dieser Erinnerung kämpfte, desto deutlicher wurde ihm, dass seine Frau nicht zurückkehren würde. Der Schrank hatte sie geholt!
Eine Stimme aus der oberen Etage ließ ihn zusammenzucken.
„Natalie! Wach auf! Wir müssen gehen!“
Yvonnes Stimme! Hatte das Monstrum sie doch freigegeben? Doch warum sollte er das tun? Mit einem Aufschrei sprang Paul vom Sofa und stürzte aus dem Wohnzimmer.
„Natalie! Verschwinde aus dem Zimmer!“
Keuchend rannte er die Treppe hoch.
„Papa?“ Natalies Stimme klang zaghaft, unsicher. „Papa! Mama ist in dem Schrank!“
„Das ist nicht Mama“, brüllte Paul. Inzwischen war er auf dem oberen Flur angekommen. „Raus aus deinem Zimmer!“
„Aber Mama ist doch ...“ Plötzlich brach ihre Stimme ab.
Er preschte ins Kinderzimmer. Natalies Bett war leer. Neben ihm klappte die Schranktür zu. Wütend und angsterfüllt zugleich riss Paul an dem Knauf, doch die Tür blieb geschlossen.
„Nein!“, schrie er und hämmerte seine Fäuste gegen die Fratze aus Intarsien. „Gib sie zurück!“ Der Schrank reagierte nicht. Er war wieder nur ein Möbelstück. Schluchzend brach Paul zusammen.
Nach einer Weile rappelte er sich hoch. Mit einem letzten zornigen Blick auf den Schrank rannte er hinaus.
In der Garage schlossen sich Pauls Hände um den Griff einer schweren Axt, so dass die Knöchel weiß hervortraten.
Du wirst niemanden mehr holen!, dachte er. Egal wie viel du dir schon einverleibt hast, Natalie war die letzte!
Zurück im Haus hörte höhnisches Gelächter. „Komm nur! Ich warte auf dich! Schon viele haben versucht, mich zu zerstören!“
Entschlossen betrat Paul Natalies Zimmer und erstarrte. Der Schrank hatte seinen Platz verlassen. Er stand jetzt direkt vor ihm. Doch das war nicht das Erschreckendste. Er schien nicht mehr aus Holz zu bestehen. Seine Konturen waren weicher. Die braune Farbe war einem grau gewichen. Vor Paul stand ein riesiges, kastenförmiges Monstrum. Es hatte sein mit messerscharfen Zähnen bewährtes Maul weit aufgerissen und lachte immer noch.
„Die Axt wird dir nichts nützen, Mensch. Einzig die Insignien der Ruhe auf den Einlegeböden können mich aufhalten. Aber dafür hast du keine Zeit mehr.“
Die Tentakel des Monsters umschlangen Paul und schreiend verschwand er in dessen Schlund.

Das Verschwinden der Familie Steiner und ihres Nachbarn Herbert Voss wurde am darauffolgenden Montag bemerkt. Die Polizei fand beide Häuser leer vor. Das Rätsel der Axt im Kinderzimmer in Nr. 11 wurde nie gelöst, die Aussage eines Nachbarn, ein komischer, alter Kauz hätte einen Schrank mit einer teuflischen Aura angeliefert und in der Nacht zu Montag wieder abgeholt, als Geschwätz abgetan. Der Akte Voß/Steiner landete auf dem Stapel mysteriöser Fälle der letzten Zeit.

Am ersten Samstag im September bummelte Raimund Heider durch Hannovers Fußgängerzone. Seine Frau Silke und sein sechsjähriger Sohn Torben hasteten von Geschäft zu Geschäft, um hier eine Hose, dort einen Rock oder ein T-Shirt anzuprobieren. Er hatte sich abgesetzt, denn kaufen wollte er nichts.
Er kam an eine vom Sonnenlicht vernachlässigte Gasse und blieb stehen. Sollte er hindurchgehen?


Wedemark, Dezember 2001 – Februar 2002

 

Coole Geschichte, ehrlich hat mir gefallen.

"Papa! Mama ist in dem Schrank."

Das ist meiner Meinung nach der Spannungshöhepunkt.
Flüssig zu lesen, also wirklich ich kann hier keinen Kritikpunkt erkennen (vielleicht hab ich ihn auch vergessen, hab die Geschichte gestern gelesen)
:rolleyes:

 

Ich kann mich Elias Meinung nur anschließen. Nur an der Stelle

Im Laden grinste der Alte den Schrank an und sagte: „Du wirst deine Freude mit ihm haben!“

musste ich ein wenig stutzen, weil ich nicht genau wusste ob jetzt der Schrank oder Paul gemeint war.

Fazit: Viel besser als deine erste Horrorgeschichte, weiter so

MfG
Drumsmasher

[Beitrag editiert von: Drumsmasher am 23.03.2002 um 14:16]

 

Vielen Dank für eure positiven Worte.

@Drumsmasher:

weil ich nicht genau wusste ob jetzt der Schrank oder Paul gemeint war.
Angesprochen war hier der Schrank. Aber auch an Paul gerichtet, ergibt es einen Sinn, so dass es letztendlich dem Leser überlassen bleibt, wie er den Satz auffasst.

Gruß, Mike :)

 

Hallo Sliggel !

Es ist nicht einfach eine Geschichte zu schreiben die ein neues Thema hat. Gerade bei Horror Geschichten finde ich es immer sehr schwierig, weil eigentlich alles ähnlich abläuft.
Aber deine Idee, mit einem vergessenen Schrankboden eine Story zu verfassen, war mal wieder was neues (für mich jedenfalls).

Trotzdem fand ich die Geschichte nicht zu berauschend. Mir hat die Spannung gefehlt. Die Ereignisse, der Schrank verschlingt die Leute, waren sofort klar als er den Schrank gesehen hat.

Dass der alte Mann den Schrank wieder abgeholt hat, fand ich etwas unlogisch. Wie kam er in das Haus? Hat ihm der Schrank geöffnet?
Und welchen Grund hat das Möbelstück Leute zu verschlingen? Mir hätten ein paar Hintergrundinformationen geholfen ein wenig mehr durchzublicken. Denn so ist es doch letztendlich doch nur wieder eine dieser Horror Geschichten wie es sie schon zu tausenden gibt.

Den Schluss fand ich sehr gut gelungen. Liegt aber wohl daran, dass ich offene Enden, bei denen ich mich als Leser auch im Nachhinein noch fragen kann, wie es wohl weitergeht, einfach mag. :)

Auf gutes gelingen für Deine weiteren Geschichten.

L.o.C.

 

Hallo L.o.C.,

danke für deine Kritik, hilft mir weiter.

Mit den Hintergrundinformationen hast du sicherlich Recht. Stört mich selbst ein wenig, doch ich habe sie bewusst herausgelassen, da sie häufig (zumindest in meinen Geschichten) den Fluss der Geschichte stören.
Ich werd dran arbeiten. :)

Gruß, Mike

 

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