Sommer 1977
Es war Samstag, der fünfte November, als ich die Morgenzeitung las und mir eine Todesanzeige ins Auge stach.
'Paul Siekmann, für uns alle unfassbar, ist im Alter von 59 Jahren plötzlich und unerwartet gestorben.' Ich konnte nicht glauben, was ich da las. Paul Siekmann, der Vater meines besten Freundes Christian, war tot? Er war für mich immer so eine Art Vaterersatz gewesen. Mein Vater hatte meine Mutter und mich verlassen, als ich noch ganz klein war. Als Kind ging ich im Hause Siekmann ein und aus und ich hatte mir insgeheim immer gewünscht, Christians Vater wäre auch mein Vater gewesen. Er zeigte uns, wie man mit Pfeil und Bogen schießt und half uns beim Drachen bauen. Manchmal nahm er uns samstags mit zum Angeln und wir lernten wie man die besten und größten Fische fängt.
Ich starrte auf die vor mir liegende Zeitung. Es war ganz still, nur das monotone Ticken der Küchenuhr war zu hören.
'Ich muss Christian anrufen', ging es mir durch den Kopf. 'Er braucht meinen Trost.'
Aber ich hatte Angst davor. Angst, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Da fiel mir diese Geschichte von damals ein.
Es war im Sommer 1977 gewesen. Ich war acht Jahre alt. Meine Mutter kam morgens zu mir ins Zimmer und als ich sie ansah wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
"Jonas, Opa ist heute Nacht gestorben."
"Aber du hast doch gesagt, Opa wäre gar nicht so sehr krank. Du hast gesagt, sein Herz wäre etwas schwach und müde. Er musste sich doch nur etwas ausruhen im Krankenhaus."
"Es war wohl doch zu schwach. Es hat einfach aufgehört zu schlagen."
Sie nahm mich in den Arm und wir weinten Beide. Nach einer Weile sah sich mich an und sagte:"Ich muss jetzt ein paar Sachen erledigen, wegen der Beerdigung und wegen Opas Sachen. Geh' doch solange 'rüber zu Christian."
Sie drückte mich noch einmal und dann ging sie. Ich fühlte mich traurig und allein und ich hatte noch so viele Fragen.
Ich ging nicht zu Christian, sondern zu unserer Baumhütte am Bach. Ich verriegelte die Tür von innen und fing an zu schnitzen. Die ganze Zeit musste ich an meinen Opa denken und mir gingen so viele Fragen durch den Kopf. Dann hörte ich Christian von draußen rufen:
"Jonas, bist du da?"
"Ja."
"Was machst du gerade?" fragte Christian und rüttelte an der verriegelten Tür.
"He, mach' die Tür auf. Seit wann verriegelst du denn die Tür, wenn du alleine da oben bist?"
Schnell wischte ich mir mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und machte die Tür auf. Zum Glück war es recht dunkel im Baumhaus, so dass Christian meine Tränen nicht sehen konnte.
"Ich wollte dich fragen, ob wir nicht ein bisschen Fußball spielen."
"Nee, keine Lust."
"Was ist denn mit dir los?"
"Nichts ist los. Ich hab' heute einfach keine Lust, okay?"
"Ja. Ist ja schon gut. Dann schnitzen wir eben. Auch gut."
Christian kramte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und nahm sich einen der Holzklötze aus unserem Holzvorrat.
"Jonas?"
"Hmm?"
"Irgendetwas stimmt doch heute nicht mit dir. Ist was passiert?"
Ich schüttelte mit dem Kopf, aber im selben Moment konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Christian sagte nichts. Er legte seinen Arm um meine Schulte und hielt mich fest. So eine Situation hatten wir vorher beide noch nicht erlebt. Coole Jungs zeigten normalerweise keine Gefühle.
Nach einer ganzen Weile, in der wir so da gesessen hatten, erzählte ich ihm was passiert war.
"Schöne Scheiße. Mensch, Jonas, das tut mir wirklich leid."
"Ich verstehe das alles nicht. Da hört so ein Herz einfach auf zu schlagen und dann? Was passiert dann?"
"Du meinst, wenn jemand gestorben ist?"
"Ja."
"Meine Oma hat mal zu mir gesagt, wenn jemand wirklich ein guter Mensch war, dann kommt seine Seele in den Himmel."
"Christian, glaubst du an Gott und den Himmel?"
"Ja, irgendwie schon."
"Du glaubst also, dass es meinem Opa dort gut geht, da wo er jetzt ist?"
"Ja, ganz bestimmt."
"Okay, dann glaube ich es auch."
Es war immer noch ganz still in der Küche und das einzige Geräusch, was man hören konnte, war immer noch das monotone Ticken der Küchenuhr. Aber ich hatte keine Angst mehr. Auf ein Mal wusste ich, was ich zu tun hatte. Die Gedanken an damals nahmen mir die Angst vor dem Gespräch mit Christian. Er war einfach für mich da gewesen, als ich mich allein fühlte mit meinen Gedanken und den vielen Fragen. Ich wollte ihm nun etwas zurückgeben, was er mir damals gegeben hatte - echte Freundschaft.
Ich fuhr zu Christian. Er saß in sich zusammengesunken auf einer Bank im Garten.
"Christian?"
"Hallo Jonas."
Er sah mich an. Sein Gesicht war blass. Er hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen.
"Warum nur? Warum ist das passiert? Er war doch noch nicht alt und er hat immer so gesund gelebt. Hirnschlag! Ende. Aus und vorbei."
Ich legte meinen Arm um seine Schulter, so wie er es bei mir getan hatte und erzählte ihm die Geschichte von damals, vom Sommer 1977, als wir noch Kinder waren.