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Der Mann mit dem schwarzen Ford

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06.04.2002
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Der Mann mit dem schwarzen Ford

Waldemar Schleicher

DER MANN MIT DEM SCHWARZEN FORD


Es war eine menschenleere Gegend. Man wusste es schon, ohne genau hinsehen zu müssen. Die Felder - inzwischen wilde Wiesen - wurden lange Zeit nicht bestellt. Gras wuchs im rissigen Asphalt. Über Dutzende von Kilometern gab es eine einzige Kurve. Und nur die hatte es gebraucht.
"Das kann teuer werden", sagte der Opelfahrer. Er war vor den Stoßstangen seines Corsas und des schwarzen Ford Fiesta gebückt. Man konnte im Grunde nicht mehr von Stoßstangen reden. Die Motorhauben waren zusammengeknüllt wie ein altes Akkordeon.
"Mmm...", sagte der Mann mit dem schwarzen Ford. Er stand neben dem Opelfahrer und starrte geistesabwesend auf den Totalschaden. Sein Gesicht war leichenblass. Der Opelfahrer war sich sicher, dass das vom Unfall kommen müsste. Doch hätte er genau hingesehen, wüsste er, dass die Blässe nie von diesem Gesicht gewichen war.
Der Opelfahrer sah auf. Der Mann mit dem schwarzen Ford trug eine dicke Hornbrille und hatte einen dicken, roten Wollpullover an. Es sah ziemlich selbstgestrickt aus, in den Lücken zwischen den groben Fäden konnte man etwas Weißes sehen. Wohl ein Unterhemd oder so. Man konnte es schon ungewöhnlich finden, dass der Fahrer eines schwarzen Fords mitten im August rote Wollpullover trug. Aber alles, was den Opelfahrer jetzt interessierte, war, dass sein Wagen jetzt der letzte Haufen Schrott war.
Er stand auf und sah sich kurz um. Die Landschaft war verlassen. Im Umkreis von dreißig Kilometern dürfte es keinen einzigen Menschen geben.
"Das kann sehr teuer werden", versicherte der Opelfahrer. Der Mann mit dem schwarzen Ford sah hoch.
"Ich weiß", antwortete er.
"Und Sie werden auch bezahlen", fuhr der Opelmann fort, "denn Sie tragen die Schuld."
"Ich weiß", sagte der Mann mit dem schwarzen Ford.
"Sie waren in meiner Spur, als Sie in die Kurve fuhren."
"Ich weiß."
Der Opelfahrer runzelte die Stirn. Er begann die Art dieses Mannes etwas merkwürdig zu finden.
"Na gut...", sagte er schließlich und öffnete langsam die deformierte Tür seines Wagens, "ich hole etwas zum Schreiben. Sie sagen mir Ihren vollständigen Namen, Ihre Anschrift und Telefonnummer." Er stieg in den Wagen, setzte sich auf den Beifahrersitz und wühlte mit der rechten Hand im aufgeschnappten Handschuhfach herum.
"Versuchen Sie nicht erst, irgendwie wegzulaufen oder so. Wir sind die einzigen Menschen im Umkreis von Dutzenden von Kilometern", rief der Opelfahrer durch die zerschmetterte Windschutzscheibe, ohne seinen Blick vom Handschuhfach zu heben.
Bald stieß er auf einen Kugelschreiber. Dann fand er einen Zettel.
"OK, sagen Sie mir Ihren Namen. Sie sind der Herr...", sagte er, vom Zettel aufblickend. Der Mann mit der dicken Hornbrille auf der Nase und dem roten Wollpullover stand nicht mehr dort, wo er war. Er saß im schwarzen Ford. Sein Kopf war merkwürdig in den Nacken geworfen, fast so, als würde er überhaupt keinen Nacken haben. Seine Lippen bewegten sich, ohne etwas zu sagen. Seine Hornbrille zitterte, als wären die Gläser Götterspeise. Die Glassplitter auf der zusammengefalteten Motorhaube schwoben über dem Metall.
"Was zum...", rief der Opelfahrer. Er stieß mit seinen Füßen die Tür auf und setzte den rechten Fuß auf den Asphalt. Doch die Tür schlug wie durch einen ungefühlten Windstoß zu. Ein quetschender Schmerz lief durch des Opelfahrers Schienbein. Er riss seine Kiefer auseinander, um zu schreien, doch etwas riss seine Stimme ab. Der Schmerz im Bein schwoll, er schwoll, schwoll...
Bis nichts mehr war. Die Sinne setzten aus, wie im Delirium, und er fühlte nichts. Er sah, wie das Weiß unter dem Pullover des Mannes ihm gegenüber zu einem grellen, blendenden Leuchten anwuchs. Der Opelfahrer schlug die Hände vors Gesicht, als ein Blitz aus der Brust des Fordfahrers schoss und den Corsa erschütterte. Das Wagendach knickte ein. Es bog nach innen durch, die Reifen platzen, die Sitze schrumpften zu Kissen zusammen. Das Armaturenbrett schoss Funken.
Der Mann mit der Hornbrille - seine Brille schien mit seinem Kopf zu verwachsen. Der Mann schmolz. Der Opelfahrer spürte eine steigende Hitze von seinem Gegenüber ausgehen, als er sah, wie dessen Haar sich in hellblondem Schweiß auflöste und die Stirn herunterrann.
Die Sitze des Opels drückten sich zusammen, das Armaturenbrett zerplatzte, Glassplitter flogen ins Wageninnere. Das Gewicht von tausend Elefanten quetschte den Corsa von allen Seiten, es quetschte ihn zu Brei.
Die Motorhaube des schwarzen Fords streckte sich, sie streckte sich, bis sie gerade wie ein Blatt Papier wurde. Sie klappte auf. Der Schlund einer Bestie offenbarte sich. Eine stahlgraue, pulsierende Zunge streckte sich ins Freie und leckte das Opelwrack. Wie ein Erdbeereis schmolz der Metallhaufen bei der Berührung. Das heiße, rot glühende Stahl floss an der Zunge herab ins offene Maul.
Der Opelfahrer sah die Zunge. Seine Lunge war zerquetscht, alles Blut stieg ihm ins Gehirn und Blut floss aus seinen Ohren, doch er sah es. Er sah ins Innere des Fords - und sah einen merkwürdigen Dampf, einen bleichen Rauch, in dem er die Blässe vom Gesicht des Mannes wiederzuerkennen glaubte.
Da strich ihm die Zunge übers Gesicht, und sein Fleisch schmolz in den Schlund des Fords.

Als kein Glassplitter mehr auf dem Asphalt lag, wurde es kühler im schwarzen Ford. Der Wagen streckte sich, bis alle Beulen geglättet waren, verzog sich, bis jede Unebenheit getilgt war.
Eine blasse Flüssigkeit floss auf dem Boden zusammen. Es wurde kälter, kalt. Die teigige Masse unter dem Fahrersitz pulsierte. Sie schwoll.
Keine Minute später saß ein Mann mit dicker Hornbrille und rotem Wollpullover auf dem Fahrersitz. Ein brandneu aussehender Ford Fiesta stand mitten auf einer von Gras überwucherten Straße mitten im Nirgendwo, sonst nichts.
Nur ein Wagen am Horizont.
Und eine Kurve dazwischen.


13. September 2002

 

Hallo Creeper,

nette, kleine Geschichte. Da schwelgt der King-Leser in Erinnerungen ...

Die Story ist kurz, knackig und flott erzählt und hat mich gut unterhalten. Das eine oder andere hätte man vielleicht etwas ausbauen können, aber notwendig ist es nicht unbedingt.

Dass der Fordfahrer Blitze verschießt ... na ja. Ist okay.

"OK" würde ich übrigens in einem Prosatext nicht abkürzen, sondern ausschreiben.

Der Mann mit der dicken Hornbrille auf der Nase und dem roten Wollpullover stand nicht mehr dort, wo er war.
"...wo er (eben noch) gewesen war." Er ist ja nicht mehr dort.

Die Glassplitter auf der zusammengefalteten Motorhaube schwoben über dem Metall.
"schwebten", oder?

Viele Grüße

Christian

 

Hallo, Christian,

du hast vollkommen recht.

Es soll schwebten heißen.

Und Stephen King ist fast das Einzige, was ich lese. Du hast vollkomen recht.


Sajonara,
Creeper

 

Hallo creeper,

die Geschichte ist überzeugend erzählt. Obwohl sie gewalttätig ist, zieht sie ihre Wirkung nicht aus der Gewalt selbst, sondern vielmehr aus der verhaltenen Stimmung, der seltsamen, absurden Situation. Mir hätte es natürlich als Philo- Schreiber noch besser gefallen, wenn die Sache mit einen Hinweis auf einen Kontext versehen wäre, z. B. , dass der Ford – (Fahrer) für die Habgier steht.
Nur S. King lesen? Es gibt doch noch so viel anderes, was interessant ist (siehe Deine Vogel- Geschichte).

Tschüß... Woltochinon

 

Tag, Creeper...

Tatsächlich, eine Storie die den Geist S. Kings atmet.
Gefiel mir ziemlich gut.Eines Tages schreibe ich auch mal so ein kompaktes, heisses Stück.
War gut!

 

Hi creeper,

Dein Nick eine Hommage an den wirklich abartigen Creeper aus "Im Herzen die Dunkelheit"?

Deine Story ist flott erzählt, mit einem herrlich strangen Fordfahrer. Ist nicht ganz die Art von Horror, die ich gerne lese, aber die Absurdität dieses Zusammenstoßes hat mir wiederum gefallen, auch die kompakte Schreibe.

Details:

Er war vor den Stoßstangen seines Corsas und des schwarzen Ford Fiesta gebück
Klingt holprig.
> Er bückte sich vor den Stoßstangen seines Corsas und des schwarzen Ford Fiesta
>Er hockte vor den Stoßstangen seines Corsas und des schwarzen Ford Fiesta
besser vielleicht noch:
> er bückte sich zwischen die Stoßstangen seines Corsas und des schwarzen Ford Fiesta.
Seine Hornbrille zitterte, als wären die Gläser Götterspeise.
> klasse Formulierung! ebenso:
die Sitze schrumpften zu Kissen zusammen.

Pe

 

Wobei die Geschichte noch gewinnen könnte, wenn der Opelfahrer einen Namen und eine Persönlichkeit hätte. Wohin ist er unterwegs, zu Frau und Kind?


Und ein wenig Kontext könnte auch nicht schaden. Ein bisschen Sinn eben. Nimm zum Beispiel "Popsy". Da will der Typ das Kind entführen und an einen Kinderschänder verkaufen - am Schluss wird er vom Popsy gekillt. Quasi zur Strafe ... oder hast du was gegen Opel Fahrer?
Kannst ihn ja Manni nennen.

 

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